Kapitel 38: Venelia
Immer, wenn ich an den bevorstehenden Abschnitt des Dschungels dachte, musste ich ein Schaudern unterdrücken. Unheilvoll. Das war das Wort, das ihn am besten beschreiben konnte.
Glücklicherweise hatten wir einstimmig beschlossen, eine Runde zu schlafen, bevor wir die zweifellos anstrengende, letzte Etappe bestreiten würden. Und so bereiteten wir unser Schlaflager vor, genau so, wie wir es zu Beginn der Reise getan hatten. Benau zog die abgenutzten Unterlagen hervor, ich steuerte die Decken bei und dann legten wir uns hin und betrachteten den Himmel.
Über uns lag nur Dunkelheit, schwarzgrau und dicht wie Nebel. Ich konnte weder den Mond, noch einen einzigen Stern erkennen. Der Geruch von Moder und verrottenden Pflanzen lag in der Luft und es knisterte leise vor sich hin, als würde in der Nähe ein Feuer brennen.
Ich zog die Decke bis unter mein Kinn und seufzte leise. Rechts neben mir spürte ich die Wärme, die von Féamos Körper ausging und hörte seine leisen, gleichmäßigen Atemzüge. Links lag Venelia, und ich wusste, dass sie nicht schlief. Sie starrte nach oben und umklammerte den Rand der Decke mit den Fingern, sodass ihre Knöchel weiß hervortraten.
Ich wandte meinen Kopf zu ihr. „Worüber denkst du nach?", flüsterte ich ihr zu.
Sie ließ ihren Blick gen Himmel gerichtet, und als ich dachte, dass sie gar nicht mehr antworten würde, sagte sie: „Ich denke über das nach, was kommen wird."
„Und was wird kommen?", fragte ich neugierig.
„Das ist es ja. Wir wissen es nicht. Vielleicht werden wir die Hindernisse überwinden, eine Seele finden, die mit uns kommen will und zurück ins Land gehen, um mit Ranajea zu regieren, bis neue Seelensucher gewählt sind und ihre Reise antreten."
Ich schwieg und hörte ihr zu. Ich wusste nicht, worauf sie hinauswollte.
„Aber ich glaube nicht, dass es so kommen wird", fuhr Venelia fort. „Ich habe das Gefühl, dass irgendetwas schief gehen wird."
Ich überlegte, welche Gabe Venelia hatte. Venelia... die, die sich ihrer Zukunft sicher war. Damals bei dem Fest hatte ich von den Leuten gehört, dass sie mit beeindruckender Präzision sagen konnte, was ihr in ihrem Leben bevorstand. Ich vermutete, dass sie darüber nachdachte, doch ich hakte nicht nach. Wenn sie mir etwas erzählen wollte, würde sie das tun.
„Damals, als wir getrennt wurden, hat mich dieses Biest angegriffen. Es hätte mich fast zerfleischt." Sie machte eine Pause, als suchte sie nach Worten. „Aber ich wusste, dass ich nicht sterben würde. Das war nicht vorhergesehen."
Sie spielte mit einem Zipfel der Decke und atmete schwer aus. „Es hat mich gewundert, denn meine Chancen, diesen Angriff zu überleben, waren sehr gering. Und jetzt... jetzt, wo ich so sicher bin, mich so sicher fühle, weiß ich, dass ich sterben werde."
„Jeder von uns wird sterben", sagte ich, und legte meine Hand sanft auf die ihre. Mit einer ungeduldigen Handbewegung schüttelte sie mich ab.
„Das meinte ich nicht", erwiderte sie und seufzte frustriert.
„Dann erklär es mir", sagte ich. Venelia drehte sich um und sah mir ins Gesicht. Wegen dem kaum vorhandenen Licht wirkten ihre Augen fast schwarz.
„Ich werde sterben. Nicht irgendwann, wenn ich alles erreicht habe, was ich mir jemals vorgenommen habe. Sondern bald. Zu bald."
Bei den letzten Worten brach ihre Stimme und sie schlug die Augen nieder. Ich wusste vor aufkeimendem Entsetzen nicht, was ich sagen sollte.
„Ich habe es weder Benau, noch Terimano erzählt", sagte sie und ihre schönen Augen glänzten. „Ich erzähle es nur dir, weil ich das Gefühl habe, du würdest mich... verstehen."
Ich nickte langsam.
„Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich möchte nicht sterben, aber gleichzeitig habe ich keine Angst davor. Es ist... so natürlich für mich geworden, dass es mir nicht mehr schlimm erscheint. Ich weiß es schon, seit dem Angriff und in der Zeit hatte ich die Möglichkeit, mich damit abzufinden."
„Venelia...", ich stockte und schluckte hart. „Bist du dir sicher? Hast du noch irgendetwas anderes... gespürt?"
Sie überlegte kurz. „Schon... irgendwie. Ich werde noch viel Leiden, aber das unabhängig von meinem Tod. Wahrscheinlich ist es die Reise. Immerhin werde ich die überleben." Sie lächelte gequält.
„Und es wird einen Moment geben, der so schön sein wird, dass ich es mir jetzt nicht einmal vorstellen kann. Doch dieser Moment wird kurz sein, denn dann passiert... etwas Schreckliches. Und danach sterbe ich."
Ich sah das Mädchen an, das ich ganz am Anfang nicht hatte ausstehen können. Das Mädchen, das mir jetzt so ans Herz gewachsen war, trotz ihrer Launen. Eine Träne lief ihr, über die von kleinen Narben gezeichnete Wange. Ich steckte die Hand aus und wischte sie aus dem Gesicht, dann nahm ich ihre Hand und drückte sie. Dieses Mal ließ sie es zu.
„Mein Tod wird nicht sehr lange dauern", wisperte Venelia. „Und davor wird noch viel passieren... mir bleibt noch Zeit."
Ich verzog die Lippen und hoffte, dass es wie ein Lächeln aussah. Ich wollte nicht, dass sie starb. Der Gedanke davor, versetzte mich in Angst. Gleichzeitig erschien er mir seltsam unwirklich. Es durfte, es konnte nicht wahr sein.
In diesem Moment wünschte ich mir, ich könnte meine Gabe nutzen, um die Wahrheit zu erfahren. Könnte sie nutzen, um Venelia und mir Gewissheit zu verschaffen. Doch sie ließ mich im Stich. Vielleicht war diese Wahrheit nicht für mich bestimmt.
•••
Als wir am nächsten Morgen aufbrachen, war ich fest entschlossen, diesen letzten Teil des ersten Hindernisses, der ersten Runde, wie die Menschen außerhalb es nannten, hinter mich zu bringen. Und zwar so schnell wie möglich. Denn auf keinen Fall konnte ich länger in diesem ekligen Dschungel bleiben. Ein unsagbares Gefühl der Abscheu hatte mich ergriffen.
Nach drei Schritten wurden wir von der Düsternis verschlungen. Der faulige Modergeruch erfüllte meine Nase und ich unterdrückte den Drang, sie mir zuzuhalten. Daran würde ich mich gewöhnen müssen.
Der Weg war beschwerlich, noch mehr, als der Anfang. Matsch und schlammiges Wasser quatschten unter unseren Schuhen, große, nasse Blätter schlugen uns ins Gesicht und Kälte kroch langsam unsere Glieder hinauf. Auf diesem Ort lag eine Trostlosigkeit, die alles zerfraß, das in ihre Quere kam. Schon bald war ich so deprimiert, dass ich nicht wusste, wieso ich das hier überhaupt tat. Doch ich ging weiter, an meinem Entschluss von vorhin festklammernd.
Wir waren nicht weit gegangen, als ein kurzer Schrei ertönte und ich fast von Venelia zu Boden gerissen worden wäre, die wiederum darum kämpfte, nicht von Terimano von den Beinen gefegt zu werden. Dieser war ausgerutscht und ein Stück weggeschlittert, denn der Boden neigte sich etwas in die Tiefe.
Benau zog Terimano zurück auf die Füße und wischte ihm Schlamm aus dem Gesicht. Der Junge aus Kraveen sah aus, als hätten man ihn von oben bis unten mit braunschwarzer Farbe bepinselt und verzog das Gesicht. Sauber würde das nicht mehr werden.
Wir gingen weiter und achteten dieses Mal besser darauf, nicht auszurutschen. Einige Male verlor jemand von uns das Gleichgewicht, doch wir konnten uns immer wieder fangen und liefen weiter.
Plötzlich blieb Venelia stehen. Ich zog an ihrer Hand, damit sie weiterging, doch sie rührte sich nicht.
„Was ist?", fragte Féamo, der meine andere Hand hielt und vorausging. Es war so dunkel, als wäre es Nacht, nur vereinzelt konnte man die grauen Schemen alter Urwaldbäume erkennen.
„Hört ihr das nicht?", wisperte Venelia.
Es wurde still und wir lauschten angestrengt in die Ferne. Ein Rascheln ertönte, so leise, dass man es fast überhören konnte, dann ertönte ein Quatschen und das Schwappen von Wasser.
Meine Nackenhaare standen mir zu Berge, als ein Knurren ertönte, tief, kehlig und so wild, dass es mir den Atem nahm.
Das Geräusch war direkt neben mir.
Ich schloss die Augen. Der Abschnitt hatte doch grade erst angefangen.
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