Kapitel 30: Nicht mehr alleine

Als ich mich beruhigt hatte, löste ich mit zittrigen Fingern die Bänder von meinem Hinterkopf und nahm den Knebel aus meinem Mund. Ich fühlte mich schlecht, wie jedes Mal, wenn die Visionen vorbei waren. Doch zumindest konnte ich jetzt noch in Ruhe zwei oder drei Stunden schlafen.

Ich legte den Knebel weg und ließ meinen Kopf erschöpft auf meine Arme sinken. Ich war so unendlich müde. Ich biss mir auf die Unterlippe. Was würde ich geben, wenn Féamo jetzt hier wäre. Ich traute ihm nicht. Das hatte sich in den letzten Wochen nicht geändert. Und dennoch... er hatte mir eine Sicherheit gegeben, die ich seit langem nicht mehr gefühlt hatte.

Das war etwas, worüber ich nicht lange nachdenken konnte. Denn beide Gefühle widersprachen sich von Grund auf, und darüber nachzugrübeln, machte mich verrückt. Deshalb schloss ich die Augen und schlief einfach ein. Im Schlaf war es einfacher, die Welt um mich herum zu vergessen.

•••

Nach zwei Stunden unruhigem Schlaf setzte ich mich auf und packte mechanisch meine Sachen zusammen. Ich sammelte die Pflöcke ein, wickelte die dornigen Ranken auf und verstaute alles in meinem Rucksack. Dann nahm ich die Decke, schüttelte sie aus und stopfte sie dazu.

Ich machte mich auf den Weg. Mein Nacken war verspannt und mein Kopf tat weh. Doch das tat meinen zielsicheren Schritten keinen Abbruch. Meine Füße bewegten sich wie von selbst über den schlammigen, modrigen Boden des Dschungels. Die Luft roch wie üblich süßlich- so leicht, das man es fast nicht spürte.

Doch es fehlte etwas. Diese bittere Note, wehmütig und wild, die meinen Begleiter umgeben hatte.

Nein. Ich durfte nicht an ihn denken.

Wie in Trance legte ich Stunde um Stunde mehrere Abschnitte dieser gefährlichen Wildnis hinter mich. Ich fragte mich, wann die wirklich gefährlichen Wesen auftauchen würden. Bis jetzt waren die Tiere zwar gefährlich gewesen, allerdings konnte ich nicht glauben, dass das schon alles war. Da musst mehr dahinter stecken.

Tief in Gedanken versunken, passierte ich einen besonders matschigen Teil des Dschungels, als mich plötzlich ein Gefühl überkam. Als würde ich beobachtet werden. Ich blieb stehen, der Körper zum zerreißen gespannt. Langsam blickte ich mich um. Doch da war nichts. So leise ich konnte, schlich ich zu ein paar nahegelegenen Büschen und hockte mich dahinter. Meine Nackenhaare stellten sich auf. Das Gefühl wurde intensiver, doch ich konnte nicht benennen, woher es kam. Ich fühlte mich unangenehm verletzlich und atmete tief durch, um mich zu beruhigen. Ich musste einen klaren Kopf bewahren.

Lautlos öffnete ich meinen Rucksack und holte einen der Holzpflöcke hervor. Ihn in der Hand zu spüren, machte mich noch etwas ruhiger. Ich fühlte mich nicht mehr so wehrlos.

Tatsächlich hörte ich nach einer Weile ein Geräusch. Es war leise, sehr leise. Hier war jemand sehr Geübtes unterwegs, aber es war mit Sicherheit kein Tier. Die Tiere, die hier lebten, hielten es nicht für nötig, vorsichtig zu sein. Meistens waren sie anderen Lebewesen sowieso überleben.

Ich umklammerte den Pflock fester. Leise atmete ich aus der Nase aus und spannte mich an.

Eine Gestalt schlich an mir vorbei. Sie war groß und bewegte sich erstaunlich grazil. Mein Herzschlag stolperte. Konnte das... war das möglich? Mein Mund klappte auf. Niemals konnte ich richtig gesehen haben.

Ich warf alle Vorsicht über Bord und richtete mich auf.

„Benau?"

Die Gestalt verharrte stocksteif und wandte den Kopf.

„Limeana? Bist du das?"

Bevor ich weiterdenken konnte, ließ ich den Pflock fallen und rannte auf ihn zu. Mit großen Schritten kam er mir entgegen und ich fiel ihm in die Arme.

„Ich kann es nicht glauben", flüsterte er und nahm mich an den Schultern. Er lächelte und es war ein echtes Lächeln. Meine Mundwinkel zuckten.

„Wie lange bist du schon alleine?", fragte ich.

Ein Schatten legte sich über sein Gesicht. „Zu lange", sagte er leise. „Als wir getrennt wurden, bin ich mit Venelia und... Terimano gereist. Ich weiß nicht mehr, wie lange, aber dann... dann hat uns noch so ein Ding angegriffen. Ich habe versucht, es aufzuhalten und danach waren sie weg."

Mit jedem Wort war er leiser geworden, bis ich ihn kaum noch verstehen konnte. Ich legte ihm eine Hand auf den Unterarm, der etwa den Umfang meines Unterschenkels hatte.

„Ihnen ist bestimmt nichts passiert. Wir werden sie wiederfinden." Ein riesiger Stein fiel mir vom Herzen. Venelia lebte. Es war, als würde ich wieder frei atmen können. Doch im Stillen war ich mir nicht sicher, ob es wirklich der Wahrheit entsprach, dass wir uns wiedersehen würden.

Benau zog die Brauen zusammen. „Und was ist mit Féamo? Seid ihr getrennt worden?"

Ich wandte den Blick ab. „Wir sind eine Zeit lang zusammen unterwegs gewesen. Aber das hat irgendwie nicht geklappt. Wir haben uns getrennt, weil wir alleine... besser ausgekommen sind."

Benaus Brauen zogen sich noch weiter zusammen, sodass sie nur noch ein einziger Strich waren. Doch zu meiner Erleichterung schwieg er. Ich hatte wirklich keine Lust, ihm irgendetwas zu erklären.

„Ist es denn dann ok, wenn wir jetzt zusammen weitergehen? Keine Sorge, ich fasse dich auch nicht an", fügte er hinzu, nachdem ich nachdenklich den Kopf geneigt hatte.

„Das will ich schwer hoffen", sagte ich und verpasste ihm einen Schlag auf den Hinterkopf.

„Autsch." Er rieb sich über die getroffene Stelle. „Aber das war wohl verdient."

Ich grinste. Es tat gut, nicht mehr alleine zu sein. So lange Féamo nicht mein Begleiter war. Obwohl er der einzige war, den ich wirklich als Reisegefährten haben wollte.

Ich presste die Lippen angesichts meiner nicht vorhandenen Logik zusammen, meine anfängliche gute Laune war wie weggewischt.

„Ich denke, wir sollten losgehen", sagte ich und stapfte an Benau vorbei ins Unterholz. Er folgte mir schweigend.

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