Kapitel 28: Bluten ohne Wunde, weinen ohne Tränen

Manchmal erinnerte ich mich an meine Mutter. Ich wusste nicht mehr, wie sie aussah, wie sie roch oder wie ihre Stimme geklungen hatte. Aber ich würde niemals ihre Worte vergessen, die sie mir zugeflüstert hatte, eines Abends, als sie mich ins Bett gebracht hatte. Sie hatte mir übers Haar gestrichen, mich auf die geküsst und gewispert: „Du wirst Großes bewirken, meine Süße. Und ganz egal, wie schwer oder unüberwindbar es dir erscheint, deine Gabe, deine Bestimmung, wird dein Weg dahin sein."

An diese Worte dachte ich, als ich mich zum zweiten Mal an diesem Tag aus dieser weißen Leere in die Wirklichkeit kämpfte. Ich schnappte nach Luft, schlug wild um mich, als würde ich aus tiefem Wasser auftauchen. Druck schien sich von meinen Ohren zu lösen.
Schon wieder hielt Féamo mich fest, als hätte er Angst, dass ich sonst verschwinden würde.

„Du erklärst mir jetzt auf der Stelle, was hier los ist." Seine Stimme klang gefährlich leise, um seinen Mund lag ein verkniffener Zug, doch ich konnte in seinen Augen sehen, dass er besorgt war. Und dass es ihm nicht gefiel, dass er nichts dagegen tun konnte. Mir gefiel es genauso wenig, dass er meinte, er müsste sich um mich sorgen. Wenn er Ranajeas Auftrag ausführen würde, würde es ihn auch nicht mehr interessieren.

Aber was auch immer hier los war, es passierte in mir. Dort, wo niemand, nicht mal ich selbst, einfach so hingelangen konnte.

„Ich weiß es nicht", sagte ich und setzte mich auf. Mir war noch leicht schwindelig und ich klemmte den Kopf zwischen meine Knie.

„Du weißt es nicht? Du hast geschrien und Dinge gesagt, von denen... bei denen ich nicht weiß, um was es geht. Du muss doch irgendwas gesehen haben oder..."

„Ich weiß es nicht, ok?", fauchte ich und rieb mir über die Stirn. „So etwas ist noch nie vorgekommen."

Das war nur die halbe Wahrheit. Ich hatte eine Ahnung. Aber davon würde ich ihm nichts erzählen. Ich wusste nicht, wie weit ich ihm vertrauen konnte und möglicherweise... möglicherweise würde ich mir selbst den Todesstoß geben, wenn ich es ihm verriet. Ich durfte das Schicksal nicht herausfordern.

„Noch nie?", schnaubte Féamo und schüttelte den Kopf. „Hör auf zu lügen. Mir kannst du nichts vormachen."

„Ach ja?" Ich hob den Kopf und funkelte ihn an. Wut regte sich in mir. „Und wieso denkst du, dass ich dir nichts vormachen könnte? Denkst du wirklich, dass ich so durchschaubar bin?"

„Stell dich nicht an." Er schaute mich an, als wäre ich ein kleines, trotziges Kind. Ich verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. „Du weißt doch gar nicht, was hier los ist. Ich versuche dich zu beschützen, aber..."

„Mich beschützen?!" Meine Stimme schraubte sich aufgebracht hoch. „Du willst mich beschützen? Du willst mich umbringen!" Bei dem Wort zuckte er zusammen, doch darauf ging ich nicht ein. „Und ich weiß sehr wohl, was hier vor sich geht! Und du willst, dass ich dir vertraue, dass ich mein Leben in deine Hände lege?"

„Limeana..." Er hob eine Hand.

„Nein." Abwehrend wandte ich mich ab. „Hör auf so zu tun, als ob du mich kennen würdest. Du weißt rein gar nichts über mich. Du weißt nicht, was passiert ist, du weißt nicht, wer ich bin. Und vor wem willst du mich schützen? Vor dir selbst?"

Ich gab ein abfälliges Geräusch von mir und mein Herz zog sich zusammen. Ich wusste, dass ich ihn verletzte, aber so war das nun mal. Ich wollte nicht sterben. Und wenn es sein müsste, wenn es keinen Ausweg gäbe, dann würde er es tun.

„Vielleicht ist es besser, wenn wir getrennt weiterziehen. Ich bin nicht so schwach, wie du denkst und du... du kannst ja ganz gut auf alle aufpassen. Dann wirst du das auch bei dir selbst schaffen."

„Limeana, das war nicht so gemeint. Es... es tut mir leid, ich wollte nicht..."

„Es ist egal, ob du es willst oder nicht. Worte nehmen keine Rücksicht auf das, was man sich wünscht oder hofft, und das Leben tut es noch weniger."

Ich nahm meinen Rucksack und ging auf den Rand der Lichtung zu, der im Schatten lag. Dies war der nächste Abschnitt des Dschungels. Der Gefährliche.

„Leb wohl."

Und dann ging ich. Ich schaute nicht zurück und er rief mir nicht nach. Es war besser so, sagte ich mir.

Und doch schien ich zu bluten ohne Wunde, schien zu weinen ohne Tränen. Ich hatte das Gefühl, etwas verloren zu haben, von dem ich nicht wusste, was es war.

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