Kapitel 27: Erinnerungen

In den nächsten Tagen kamen wir kaum vorwärts. Unsere Energiereserven waren stark begrenzt und der Schmerz in unseren Bäuchen brachte uns fast um. Immer öfter bemerkten wir, dass wir im Kreis liefen, weil wir uns kaum konzentrieren konnten. Die Pausen waren mittlerweile länger, als die Zeit, in der wir liefen.

Féamo und ich sprachen kein einziges Wort miteinander. Es kostete zu viel Kraft und ich war nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Verschiedene Gesichter schwirrten in meinem Geist herum- Papa, Katie, Venelia, Féamo, Mama, Ranajea, Terimano, Benau, Mena- die Liste hätte ich unendlich fortsetzten können.

Eine Woche war vergangen, seit unsere Gruppe getrennt worden war. Kein einziges Lebewesen war uns seit der Begegnung mit dem schwarzen Raubtier begegnet. Ich fühlte mich so verlassen, als wäre ich in einem anderen Universum gelandet. Féamo hätte genauso gut gar nicht existieren können- es hätte keinen Unterschied gemacht.

Bis wir, zum ersten Mal seit langer Zeit, auf einem kleinen Flecken Erde stießen, der vollkommen frei von Pflanzen war. Es war eine kleine Lichtung, umrahmt von großblättrigen Pflanzen, kleinen Bäumen und... Sträuchern. Sie waren voller dunkelgrüner, ovaler Blätter und praller, roter Beeren, bei deren bloßer Anblick sich Wasser in meinem Mund sammelte. Diese Beeren kannte ich- Murbeeren.

Mit offenen Mund blieb ich stehen und betrachtete ungläubig das vor mir liegende. Wie konnte es sein, dass ich so viel Glück hatte?

Ich ließ meinen Rucksack fallen und stolperte auf einen der Sträucher zu. Noch bevor ich mich auf den Boden gesetzt hatte, hatte ich mir drei der süßsäuerlichen Beeren in den Mund gesteckt. Fast kamen mir die Tränen, als der Geschmack auf meiner Zunge explodierte. Ich schlang sie hinunter und stopfte direkt weitere Beeren hinein.

Ich merkte, wie Féamo an dem Strauch neben mir die roten Früchte von den Ästen riss und sie gierig zerkaute, als hätte er nie etwas besseres gehabt. Oder, als hätte er seit mehr als einer Woche nichts gegessen.

Schweigend arbeiteten wir uns an den Sträuchern vor. Als die ersten beiden Sträucher nur noch mit noch nicht ausgereiften Beeren behangen waren, machten wir uns an die nächsten.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als alle Sträucher leer waren. Ich wischte mit dem Handrücken den klebrigen Saft der Murbeeren von meinem Mund und sah hinüber zu meinem Reisegefährten. Er hatte sich an einen der kleinen Bäume gelehnt und hatte die Augen geschlossen. Er wirkte zufrieden, beinahe glücklich.

Ich atmete tief ein und aus. Der nagende Hunger war verstummt, und in mir regte sich müde Zufriedenheit. Alle Zweifel, die ganze Mutlosigkeit, waren wie weggewischt. Was ein bisschen Essen dich bewirken konnte.

Ich merkte nicht, dass ich sanft in den Schlaf glitt.

•••

Schlagartig wurde ich wach. Ich starrte in Augen, die mir mittlerweile so vertraut waren, dass ich glaubte, sie überall wieder zu erkennen, und doch entdeckte ich immer wieder neue Details. Neue Farben in diesem Grün, neue Schatten um seine Iris.

Doch als mein Blick das ganze Bild erfasste, erstarrte ich. Er saß neben mir, das Gesicht in einer besorgten Geste über mich gebeugt und in seinen Händen... ein Messer. Woher hatte er das?

Und da war Blut. Schon wieder so viel Blut. Überall. War es normal, dass man in seinem Leben so viel Blut sah? Es war auf dem Boden, auf mir, an dem Messer, an seinen Händen. Ich riss meine Augen auf. Mit einem Mal wurde ich zurückkatapultiert. In die Vergangenheit. In eine Erinnerung.

•••

Stille. Die Schritte meiner nackten Füße. Katie. Blut. Blut. So verdammt viel davon. Silbernes Licht. Katie. Blut. Stille. Und ein Schrei. Er drang an mein Ohr, hoch, schrill, verzweifelt. Ein Schluchzen entrang sich meiner Kehle und ich wusste, dass ich geschrien hatte.

•••

Arme umschlangen mich, versuchten, mich festzuhalten. Ich wehrte mich, schlug und trat um mich, zerkratzte ein Gesicht. Tränen, die ich nicht vergießen konnte, schüttelten mich, hielten mich in eisiger Umklammerung.

„...meana." Sagte da jemand meinen Namen?

„...imeana." Ich hielt mich an dieser Stimme fest. Wo war ich überhaupt? Weiße Leere. Um mich herum, in meinem Kopf.

„Limeana."

Ich blinzelte. Mehrmals. Die Leere verschwand. Ich konnte wieder sehen. Der Nebel in meinem Kopf lichtete sich.

Ich starrte Féamo an. Er hielt mein Gesicht in seinen Händen, meine Finger hatten sich in seine Unterarme gekrallt. In seinen Augen stand Angst, wie ich sie noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Und auch in mir fühlte ich dieses lähmende, panische Gefühl.

Mein Atem war flach und zittrig und mein Körper fühlte sich taub an, als hätte ich lange in der Kälte gelegen. Ich öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch es kam kein Wort über meine Lippen.

Féamo strich mit dem Daumen über meine Wange und wischte etwas Feuchtes aus meinem Gesicht. Es waren keine Tränen.

„Warum hast du mich nicht getötet?", fragte ich. Ich wusste nicht, warum ich diese Frage stellte, und es war, als wäre ich nicht ganz bei Sinnen. Aber das war egal, denn das war etwas, was ich wissen wollte, schon die ganze Zeit. Was musste ich tun, damit er es tat? Der Gedanke, es nicht zu wissen, machte mich schier wahnsinnig.

Verwirrt und gleichzeitig verletzt sah er mich an. „Warum sollte ich dich töten?"

Ich schluckte mehrmals rau, bevor ich antworten konnte. „Du hattest ein Messer in der Hand." Und eigentlich hatte ich noch so viel mehr sagen wollen. Du hast mit Ranajea gesprochen. Ich weiß, was du tun musst. Und du weißt, dass ich es weiß.

Aber ich sprach die Worte nicht aus. Viel mehr versuchte ich, meine Augen sprechen zu lassen.   Als sein Blick sich umwölkte, besah ich meinen Körper. Woher kam das ganze Blut? Hatte er mich verletzt?

„Ich habe dich mit dem Messer nicht angerührt, Limeana."

„Woher kommt dann das Blut?", wollte ich wissen.

„Da war... dieses Tier. Es hat uns angegriffen, als du noch geschlafen hast. Ich habe es... beseitigt, bevor es dir etwas antun konnte."

Sollte ich ihm glauben? Aber als ich prüfend meine Beine bewegte, spürte ich nichts.

Plötzlich bemerkte ich, dass ich mich immer noch an ihm festkrallte, und löste langsam meine Finger von ihm. Er zuckte zusammen. Meine Nägel hatten tiefe Male auf seiner Haut hinterlassen.

Ich richtete mich auf. Das Blut bedeckte die halbe Lichtung und zerstörte diesen wunderschönen, sicheren Flecken Erde in einem Dschungel voller Gefahren. Nur, dass dieser Flecken nicht sicher war, und nun auch nicht mehr schön. Es war bitter, wie einfach die Schönheit des Lebens zunichte gemacht werden konnte.

Mit einem Mal begannen Kopfschmerzen hinter meinen Schläfen zu pochen. Mir ging es schlecht. Sehr schlecht. Schwindel erfasste mich. Ich sank wieder zusammen. Was war hier los? Mein Verstand driftete ab.

Ich hörte, dass Féamo meinen Namen schrie, fühlte seien Berührungen an meinen Armen, meinem Gesicht. Doch ich war schon fort. Weit fort.

An einem Ort, wo nur noch meine Erinnerungen zählten.

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