Kapitel 26: Bestien
In unserem Land hatte seit Jahrzehnten niemand mehr körperlich leiden müssen. Mit den Jahren war die Bevölkerung immer weniger geworden, die Menschen friedfertiger, die Umgebung grüner und die Magie kam das erste Mal zum Vorschein. Tiere entwickelten sich durch die Magie weiter, die, die sich nicht anpassen konnten, starben aus.
Zumindest dachte ich das bis vor kurzem, und ich war mir sicher, dass ich nicht die Einzige war. Doch diese Tiere waren nicht ausgestorben. Ganz im Gegenteil. Sie hatten sich auch weiterentwickelt- zu unglaublich starken, magischen und vor allem gefährlichen Wesen. Wesen, die sich von Fleisch, Blut, Knochen und Magie ernährten. Und sie lebten hier. In einem Reich, in dem ihre Blutrünstigkeit gebraucht wurde.
Vor genau so einem Wesen versteckten Féamo und ich uns grade. Wir kauerten unter zwei umgefallenen Baumstämmen, die von Lianen und Blättern verhangen wurden und beobachteten das riesige schwarze Raubtier, das leise wie eine Feder auf den Boden auftrat und in der Luft nach Spuren roch.
Das schwarze Fell hatte ein eigenartiges, grünviolettes Schimmern, die Augen leuchteten unheilvoll gelb, Reißzähne blitzten perlweiß auf, wenn das Wesen ein leises Grollen ausstieß. Muskeln spielten unter dem dichten Pelz, der Schwanz der Bestie zuckte unruhig hin und her.
Obwohl die Angst mich erstarren ließ, war ich doch fasziniert von der rohen, wilden Schönheit dieses Tieres. Geboren, um zu jagen und zu töten.
Das schwarze Tier grollte ein weiteres Mal, dann drehte es sich um und lief mit geschmeidigen Sprüngen davon. Ich stieß verhalten die Luft aus und änderte meine Position. In den letzten Minuten hatte ich nicht gewagt, mich zu bewegen.
Féamo richtete sich auf und machte für mich den Weg frei. Ich kroch unter den Baumstämmen hervor und wischte den Dreck von meinen Händen an der Hose ab.
Ein Knurren durchbrach die Stille, doch wir reagierten nicht darauf. Es kam von unseren Mägen- sie waren so leer, dass sie sich selbst aufzufressen schienen.
Wasser war zum Glück kein Problem mehr. Jeden Tag regnete es mindestens zwei Stunden in Strömen und die wertvolle Flüssigkeit sammelte sich auf Blättern, Steinen und in Kuhlen im Erdboden. Oft machten wir Halt, um hier und da ein paar Schlucke zu trinken, doch der Hunger blieb.
Es war drei Tage her, seit wir die Anderen verloren hatten. Wir hatten nicht die geringste Ahnung, wo sie waren und ob sie überhaupt noch lebten. Ab und zu fanden wir Spuren, die uns neue Hoffnung schenkten, doch diese zerstreute sich so schnell, wie Asche im Wind.
Auf unserem Weg sagten wir nicht viel. Nur das Notwendigste, um auf einen Pfad, Spuren oder auch Fallen aufmerksam zu machen. Féamo und ich verhielten uns distanziert- als wollten wir verhindern, uns zu nahe zu kommen. Vielleicht war es Selbstschutz.
Manchmal spürte ich seinen eindringlichen Blick auf mir, in Momenten, in denen er dachte, ich würde es nicht bemerken. Doch sobald ich ihn ansah, wich er mir aus.
Eines Tages war ich so schwach, dass ich nicht mehr aufstehen konnte. Der Hunger war ein dumpfer Schmerz in der Magengrube geworden und unser ständiger, wenn auch unerwünschter Begleiter. Er raubte jegliche Kraft aus meinem Körper und meine Hände zitterten so stark, dass ich nichtmal einen Stein vom Boden aufheben konnte.
Ich versuchte, ein paar Schritte zu gehen, während Féamo mich stützte, doch ich kam nie weit. Immer wieder knickten meine Beine weg, bis ich schließlich einfach liegen blieb. Erschöpfung übermannte mich. Ich glaubte nicht, dass ich diese Reise überstehen würde und mein Herz tat weh, wenn ich an meinen Vater dachte. Ich hatte ihm versprochen, zurückzukommen.
Féamo beugte sich über mich. Sein Blick war trüb, seine Wangen eingefallen. „Wir müssen weiter Limeana. Wenn wir hierbleiben, sind wir leichte Beute für diese Wesen."
Ich schloss die Augen. Schlafen. Dieses Wort verband ich mit unsagbarem Frieden.
Finger strichen sanft über meine Wange und ich hob meine Lider. In jedem anderen Moment, hätte ich ihm jetzt die Meinung gesagt. Aber grade war es mir irgendwie egal, eigentlich empfand ich die Berührung sogar als angenehm.
„Du musst wach bleiben, in Ordnung? Ich kann dich tragen."
Ich schüttelte den Kopf, so leicht, dass es fast nicht sichtbar war, doch er merkte es. „Geh weiter", sagte ich, meine Stimme nicht mehr als ein Hauch. „Ich... ich komme schon zurecht. Bring du dich in Sicherheit."
Féamo schüttelte den Kopf, seine Lippen pressten sich zusammen, als wäre er verärgert. „Das hättest du wohl gerne", knurrte er. „Ich weiß, dass du mich loswerden willst, aber das kommt nicht in Frage."
Gegensätzlich zu seinen Worten, schob er sanft einen Arm unter meine Knie und einen um meinen Oberkörper und hob mich hoch. Ich spürte, dass er unter meinem Gewicht erzitterte und er ein angestrengtes Keuchen unterdrückte. Mein Kopf lag an seiner Brust, doch ich war nicht mehr genug bei Sinnen, um ihn zu heben.
„Lass mich runter", murmelte ich. „Meinetwegen wirst du noch sterben."
„Ich werde nicht sterben", sagte er und machte einen ersten Schritt. „Zumindest jetzt noch nicht. Und selbst wenn, ich hätte niemals mit dem Gewissen leben können, dass du wegen mir gestorben bist."
Ich wollte erwidern, dass ich das genauso wenig gekonnt hätte. Dass ich nicht zulassen könnte, dass ihm etwas zustieß. Doch ich es tat es nicht.
Ich schloss wieder meine Augen. Ein bittersüßer Geruch umhüllte mich, wiegte mich sanft in den Schlaf.
Nicht die Magie roch so, wurde mir klar. Sondern Féamo.
•••
Ich wachte auf, als Féamo mich ablegte. Es war wieder dunkel geworden, Kälte kroch langsam heran und trocknete den Schweiß des Tages.
Ich wollte weiterschlafen. Die Welt im Traum war friedlich und sanft, wie eine warme und weiche Wolldecke, doch die Realität traf einen hart wie ein Stein.
Féamo saß neben mir, seinen Kopf hatte er kraftlos auf die Arme gestützt. Er zitterte am ganzen Leib und das schlechte Gewissen überrollte mich wie eine Welle am Ufer eines stürmischen Sees.
Ich kroch zu ihm und lehnte meine Stirn an seinen Rücken. „Es tut mir leid", flüsterte ich. „Du hättest mich nicht tragen sollen."
Er wandte den Kopf, langsam, als wäre er zu müde, um sich zu bewegen. Seine grünen Augen sahen mich an.
„Es sollte dir nicht leidtun. Ich würde es jederzeit wieder machen."
Nachdenklich verzog ich das Gesicht. Was wollte er mir damit sagen? Oder versuchte ich grade, mehr in seine Aussage hineinzuinterpretieren, als tatsächlich dahintersteckte?
Ich biss mir auf die Unterlippe, dann rutschte ich noch ein Stück näher und lehnte mich seitlich gegen seinen Rücken, um die Kälte abzuhalten. Er öffnete meinen Rucksack und holte die Decken hervor, legte sie um uns herum und drehte sich dann etwas, sodass wir in die entgegengesetzte Richtung schauend, nebeneinander saßen.
Ich ließ meine Kopf auf seine Schulter sinken und er lehnte seinen vorsichtig an meinen. Die Geste hatte, trotz meiner Vorsicht, etwas vertrautes.
„Ich glaube nicht, dass sie tot sind", sagte er plötzlich, nachdem wir eine Weile geschwiegen hatten.
Ich antwortete nicht.
„Sie sind irgendwo da draußen und kämpfen um ihren Weg. Genauso wie wir. Und mit etwas Glück, treffen wir irgendwann wieder aufeinander."
„Das kann Monate dauern", flüsterte ich.
„Ich weiß. Aber wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben."
Mir kam ein Gedanke und ich rutschte ein Stück von ihm ab. Ich nahm die Decke von meinen Schultern und begann, umständlich meine Jacke zu öffnen.
„Was machst du da?", fragte Féamo, auf seiner Stirn bildete sich eine Falte. Ich blieb ihm die Antwort schuldig.
„Ich glaube kaum, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, um sich auszuziehen", versuchte er zu witzeln, doch das Lachen klang zittrig.
Fast hätte ich gelächelt, denn er wirkte plötzlich seltsam verlegen, doch es war mehr ein Heben meiner Mundwinkel. Zu mehr reichte meine Kraft nicht aus.
Ich streifte die Jacke ab und zog den Kragen meines Oberteils hinunter.
„Limeana...", setzte Féamo an, doch ich brachte ihn durch ein Kopfschütteln zum Schweigen. Ich hob das Kinn und deutete auf mein Schlüsselbein.
„Schau es dir an", sagte ich.
Langsam kam er näher, bis ich seinen Atem auf meiner Haut spürte. Ich schauderte leicht.
„Ich sehe nichts", antwortete er schließlich gepresst.
„Dann komm näher. Es ist dunkel, deshalb sieht man es wahrscheinlich nicht."
Ich biss die Zähne zusammen, als sein Haar mein Kinn streifte. Ein Kribbeln breitete sich in mir aus.
„Was zum...", murmelte er. „Du bist gezeichnet worden."
„Ja", sagte ich, was schwierig war, wenn man den Kopf im Nacken hatte. „Von einem Venér."
Féamo zog sich zurück und ich nahm meinen Kopf runter. Schnell zog ich meine Jacke wieder an und hüllte mich wieder in die sichere Wärme der Decke.
„Du bist vom Glück gewählt worden", sagte er.
Ich nickte, bis mir einfielt, dass es ja zu dunkel war, um es zu sehen.
„Ja. Das war an dem Tag, als ich 16 geworden bin."
Müdigkeit überkam mich erneut, doch dieses Mal traute ich mich nicht, meinen Kopf auf seine Schulter zu legen und auch er machte keine Anstalten, näher zu kommen.
Ich bettete den Kopf auf meinen angezogenen Knien.
Die Seelensuche gestaltete sich anders, als ich erwartet hatte. Gefährlicher, hoffnungsloser und verwirrter.
Und daran waren nicht nur die Bestien schuld, die hier lebten.
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