Kapitel 21: Dunstiges Grün
Es war anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Irgendwie hatte ich es mir spektakulärer vorgestellt, und gleichzeitig passierte mehr, als ich erwartet hatte. Diese Welt war magisch, wild, gefährlich, wunderschön. Und ich fühlte mich wie ein Eindringling.
Wir waren nur einen Schritt gegangen- ein Schritt, um die Grenze zwischen Menschen- und Seelenwelt zu überschreiten. Doch hinter uns war bereits alles verschwunden. Die Menschen, Ranajea, die fünf anderen Seelensucher, sie alle waren... weg. Auch das Tor schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Es gab kein Zurück mehr, und das endgültiger, als je eine Situation davor war.
Venelia stieß den Atem aus und schritt auf die Stelle zu, an der das Tor zuvor noch gestanden hatte. Doch es war weg, so nicht existent wie eine Seele in einem Klumpen Metall.
Plötzlich hektisch geworden, lief Venelia auf und ab, blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken, lief weiter. Die gefasste Ruhe, die sie vor wenigen Sekunden noch ausgeströmt hatte, war wie weggeblasen.
„Es ist weg", sagte sie atemlos, ihre Stimme hatte einen hysterischen Unterton. „Es ist einfach weg. Weg. "
„Beruhige dich", sagte Féamo. Seine dunkle Stimme klang beruhigend, sanft. Er ging auf sie zu, als wäre sie ein wildes Tier, dass er besänftigen wollte.
„Ich soll mich beruhigen?!" Es war fast ein Kreischen, das sie von sich gab. „Wir können hier nicht weg. Wir müssen hier bleiben, es gibt kein Zurück. Wir werden sterben!" Sie brach zusammen und begann hemmungslos zu weinen. Ich schüttelte leicht den Kopf. Sie hatte gewusst, worauf sie sich mit der Suche einließ.
Féamo ging auf sie zu, setzte sich neben sie und legte einen Arm um ihre bebenden Schultern. Ich beobachtete Venelia. Sie schien völlig aufgelöst, und ich wusste nicht, was ich tun sollte, um ihr zu helfen. Denn trotz allem hatte ich Mitleid mit ihr.
Benau startete einen unbeholfenen Versuch. „Aber du wusstest doch, dass es gefährlich wird. Du wolltest diese Reise doch machen. Und du bist doch vorbereitet. Sechs Wochen lang. Das kriegst du hin, Venelia."
Venelia stieß einen hilflosen Schrei aus, bei dem ich zusammenzuckte.
Terimano sah Benau missbilligend an und schüttelte den Kopf. Er wandte sich mit zu.
„Am besten wir ruhen uns kurz aus. Vielleicht essen wir ein bisschen, damit wir zu Kräften kommen, dann können wir..." Er suchte nach Worten. „... unseren Schock verarbeiten." Er klatschte in die Hände. „Wer von euch hat was für Essen dabei?"
Wie starrten ihn an und eine Erkenntnis durchflutete mich siedend heiß. Essen. Das Wichtigste überhaupt. Ich hatte nichts zu Essen dabei. Ich seufzte tief auf und ließ mich auf den staubigen Boden fallen. Mit beiden Hände fuhr ich mir übers Gesicht. Wie es aussah, war unsere Suche von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Wie hatte ich so dumm sein können? Wie hatte ich es für selbstverständlich erachten können, dass wir hier genug zu essen haben würden? Das hier war lebensfeindliche Wildnis.
„Hat denn niemand von euch etwas zu essen dabei?", fragte Terimano und ein Anflug von Entsetzen schlich sich in seine Stimme.
Stille folgte.
„Na gut", sagte er und nahm seinen Rucksack ab. „Seid froh, dass ihr mich habt." Er holte verschiedene Tüten aus Papier aus seiner Tasche, prüfte die Inhalte und entschied sich dann für eine, in der runde, keksähnliche Dinger enthalten waren, die voller verschiedener Körner und den Blättern von verschiedenen, essbaren Blüten ummantelt waren.
Er reichte jedem von uns einen und zwang auch Venelia dazu, einen zu essen. Ich knabberte zögerlich an dem Ding. Es schmeckte besser, als ich erwartet hatte und ich verschlang es innerhalb einer halben Minute.
Venelia hatte sich mittlerweile etwas beruhigt, ihr Blick ging leblos zu Boden. Féamo, der die ganze Zeit nicht von ihrer Seite gewichen war, erhob sich und klopfte sich Staub von der Hose.
„Ich sehe mich mal ein bisschen um", sagte er.
Ich stand ebenfalls auf. Ich konnte nicht untätig herumsitzen.
„Ich komme mit", sagte ich. Halb erwartete ich, dass er mich abwies, oder mich ungläubig ansah, doch er nickte nur und blieb abwartend stehen. Sein Gesicht zeigte nicht die geringste Gefühlsregung.
Zusammen gingen wir einige Minuten einfach gradeaus, kein Ziel vor Augen. Am Horizont war eine verwaschene, grüne Linie zu erkennen. Unser erstes Hindernis. Der Dschungel der Ungeheuer. Ich fragte mich, wie wir das Ganze hier überleben sollten. Wir versagten ja schon nach dem ersten Schritt über die Grenze.
Je weiter wir liefen, desto mehr wurde uns klar, dass es nichts gab, wo wir hinkonnten, kein Weg führte um den Dschungel herum. Die Landschaft war immer gleich: staubiger, grau brauner Boden, ab und an ein Stein oder ein dürrer Strauch und in der Ferne das gleiche, dunstige Grün. Dort mussten wir hin. Das war unser Ziel.
Féamo und ich schwiegen die ganze Zeit, doch die Stille war überraschenderweise angenehm. Das war auch gut so, denn es hätte nichts gegeben, das ich hätte sagen können. Ich spürte, dass sein Blick auf mir ruhte, als würde er versuchen, aus mir schlau zu werden. Wie es schien, schaffte er es nicht. Ein winziger Funken Genugtuung blitzte in mir auf.
Nachdem wir noch ein kleines Stück weitergegangen waren, aber nichts aufschlussreiches entdeckt hatten, kehrten wir zu unseren Reisegefährten zurück. Venelia hatte sich wieder gefangen und stand neben Terimano und Benau und blickte uns entgegen.
„Und?", rief Terimano von weitem. „Irgendwas gefunden?"
Féamo schüttelte den Kopf. „Nein. Nichts. Wir müssen zum Dschungel hin, wir sollten keine Zeit verschwenden."
Die Anderen waren der gleichen Meinung und deshalb gingen wir auch direkt los, auf den Urwald zu, der entweder der Weg zu unserem Ziel war- oder unser Untergang. Ich lief neben Venelia, Terimano und Féamo waren vorne und Benau bildete das Schlusslicht. Ich musterte das Mädchen aus Surreika. Ihr Gesicht war ausdruckslos, die Tränen waren auf ihren Wangen zu hellen, salzigen Krusten getrocknet. Ich hatte Mitgefühl mit ihr. Hätte ich nicht mein Ziel im Kopf, meine Katie, dann wäre ich vielleicht auch so am Ende, wie sie. Vielleicht. Vielleicht war Venelia aber auch einfach sehr empfindlich.
Wir liefen stundenlang. Das Wetter veränderte sich kaum. Die Sonne war blass, der Himmel merkwürdig gelbgrau, und es war vollkommen windstill. Es war gleichzeitig drückend und kühl, abwechseln war ich schweißgebadet und halb durchgefroren. Hoffentlich würde ich nicht davon krank werden, das könnte unser Untergang nach nur wenigen Tagen sein.
Wir wechselten kaum Worte. Das hier war nur ein Vorgeschmack auf das, was noch kommen würde. Und Es schmeckte uns kein bisschen. Außerdem machte es schlechte Laune. Ich betete, dass heute kein Sturm zwischen uns entstehen würde.
Irgendwann brach die Dunkelheit herein. Der Himmel behielt seinen gelblichen Ton noch lange, als würde er verbissen an etwas festhalten, das ihm von der Nacht sowieso gestohlen werden würde. Wir legten uns in eine Mulde, umringt von ein paar mickrigen Sträuchern. Ich hatte die zwei riesigen Decken hervorgeholt, die ich gemacht hatte, mit denen wir uns alle zudecken konnten. Sie waren wasserabweisend, wenn Regen aufkommen sollte, wären wir geschützt. Benau kramte überraschend federnde Unterlagen hervor, auf die wir uns legten.
Weil Venelia Angst hatte, legte ich mich rechts neben sie, Terimano links von ihr. Dann kam daneben Benau, der witzelte, dass er „die halbe Portion" ja nicht alleine lassen könne und Féamo legte sich neben mich.
Wieso? Keine Ahnung. Er hätte sich neben Benau legen können, ich hätte damit keine Probleme gehabt, denn Angst hatte ich nicht. Eigentlich hatte ich eher Bedenken, dass er sich neben mich gelegt hatte.
Doch ich sagte nichts, als er sich neben mich auf die Matte quetschte. Ich rutschte ein Stück weiter zu Venelia hinüber. Sie protestierte und rückte wiederum näher zu Terimano, der Benau in den Rücken stieß, damit er mehr Platz machte.
Es dauerte ein paar Minuten, bis wir uns endlich arrangiert hatten. Es war angenehm warm, obwohl der kalte Nachtwind über uns hinweg fegte. Nach wenigen Augenblicken war Venelia eingeschlafen. Ihr Kopf sank zur Seite und lehnte sich an meine Schulter. Auch der Rest atmete bald tief und gleichmäßig und ich war die Einzige, die noch wach war. Ich starrte in den Himmel, beobachtete die Wolkenschleier über Mond und Sternen.
Fast konnte ich nicht glauben, dass ich jetzt hier war. Ich spürte, wie Féamo sich neben mir bewegte, hörte Benaus leises Schnarchen und fühlte Venelias zarte Atemzüge an meiner Schulter. Ich kannte sie alle kaum, aber trotzdem musste ich ihnen vertrauen. Obwohl Féamo den Befehl bekommen hatte, mich zu töten, sobald ich etwas tat, von dem ich nicht wusste, was es war. Obwohl Venelia sich wie ein Miststück mir gegenüber benommen hatte. Wir hatten nur noch uns.
Féamo drehte sich neben mir um und wandte den Kopf. Seine Augen schimmerten schwach grünlich im spärlichen Licht der Nacht, als er mich ansah.
„Willst du nicht schlafen?", flüsterte er.
Ich blinzelte träge. „Ich denke nach", antwortete ich leise. „Ich werde gleich schlafen, keine Sorge." Wie ironisch. Sorgen machte er sich bestimmt nicht. Eher dachte er darüber nach, wie er mich ausschalten konnte.
Féamo legte sich zurück und betrachtete das nächtliche Himmelszeit. „Ich mache mir keine Sorgen um dich", sagte er schließlich leise, als ich schon dachte, er wäre eingeschlafen. „Du bist stark. Vielleicht stärker, als du denkst."
Ich stutzte. „Woher willst du das wissen?"
„Ich weiß es einfach." Er zuckte mit den Schultern. „Meine Gabe, schon vergessen?"
Nein, hatte ich nicht. Ich schloss die Augen und atmete sachte die Nachtluft des Seelenlandes ein. Die Magie konnte ich hier auf der Zunge schmecken, bei jedem Atemzug. Der Durst, der in meiner Kehle brannte seitdem wir ein paar Kilometer gegangen waren, wurde etwas schwächer. Ich hoffte, dass wir bald Wasser finden würden.
Ich schloss die Augen und gab mich endlich der friedlichen Umarmung des Schlafs hin. Kurz bevor ich einschlief, wehte mir ein Duft in die Nase, herb und gleichzeitig leicht süßlich.
Er begleitete mich bis tief in meine Träume.
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