Kapitel 20: Der letzte Schritt
Die Fahrt verlief im Stillen. Je weiter wir kamen, desto mehr verlor die Landschaft ihre Vertrautheit. Bald schon erkannte ich keine bekannten Gebäude, Felder oder Waldstücke mehr. Es hatte etwas endgültiges.
Ich saß links neben Venelia, dann kamen Terimano, Benau und schließlich Féamo. Alle hingen ihren Gedanken nach. Mein Kopf war leer. Es gab zu viel, über das ich nachdenken könnte, deshalb ließ ich es sein. Ich genoss den Augenblick. Der letzte ruhige Moment vor dem Sturm. Denn ich wusste, dass dieser unweigerlich kommen würde. Ich hatte es im Gefühl. Und meistens betrog dieses mich nicht.
Nach fast drei Stunden näherten wir uns dem Seelenland. Eine plötzliche Anspannung schien alle zu erfassen und Benau richtete sich auf seinem Sitz auf. Die Umgebung schien immer wilder zu werden, bis uns schließlich nur noch wilde Natur umgab. In weiter Ferne konnte ich Berge erkennen. Ein ehrfürchtiger Schauer durchlief mich. Die Berge des Vergessens. Sie hatten viele Namen und unzählige Erzählungen rankten sich um sie. Sie waren das zweite große Hindernis auf unserer Reise. Sie von hier schon zu sehen, machte mir klar, wie groß und mächtig sie sein mussten. Doch bevor ich dorthin gelangen konnte, musste ich erst einmal das erste Hindernis überstehen.
Nach einer weiteren Stunde erblickten wir in der Ferne eine Menschenmasse. Sie würden uns bei dem Schritt über die Grenze anfeuern. Nicht viele konnten es sich leisten, vier Stunden hierher zu fahren, um die Seelensucher zu verabschieden, und trotzdem waren immer Unmengen an Menschen da. Unsere Familien würde darunter stehen. Sie würden ganz nahe an der Grenze stehen, denn sie bekamen freies Geleit nach vorne von unserer Herrscherin persönlich.
Und dann waren wir da. Wir stiegen aus, streckten uns und versuchten, die aufkeimende Nervosität durch tiefes Atmen zu vertreiben. Die Luft war hier noch frischer, als in den bewohnten Gegenden. Einfache, reine kalte Luft. Es war fast wie eine Droge, wenn man einatmete. Berauschend, benebelnd, befreiend und gleichzeitig angsteinflößend, welche Macht sie hatte. Hier lag Magie in der Luft. Sie schien greifbar zu sein und ich wusste, dass meine Augen leuchteten.
Wir Seelensucher schulterten unsere Taschen und marschierten los, auf die Menge der Menschen zu. Sie wurden durch Absperrungen aus Holz geteilt und bildeten für uns einen Weg, der Boden bestand aus graubrauner Erde und Steinen. Ohrenbetäubender Jubel brach aus, als wir in Sichtweite kamen. Venelia straffte ihre Schultern und atmete tief durch und ich tat es ihr gleich.
Wir marschierten den Weg entlang und es war ein merkwürdig feierlicher Augenblick. Im Gleichschritt, die Köpfe stolz erhoben, die Gesichter ernst und frei von Angst, der Rücken durchgedrückt, ein siegessicherer Ausdruck in den Augen. Ich wusste nicht, was echt war, und was vorgetäuscht, doch das spielte auch keine Rolle. Dieser Auftritt war alleine für die Anderen.
Die Leute wisperten, applaudierten, zeigten auf uns. Wir waren Attraktionen, gehobene Wesen in einem Meer gewöhnlicher Menschen. Das wir vor sechs Wochen auch noch zu ihnen gehört hatten, war nicht mehr von Bedeutung. Wie schnell Menschen vergessen konnten, wer die Anderen wirklich waren.
Als wir am Ende angekommen waren, stand Ranajea vor uns. Sie trug ein spektakuläres, schmales Kleid aus mehreren Schichten hauchzartem Stoff in der Farbe von Lavendel. Ihre blonden Haare liefen in fantastischen Wellen über ihren Rücken und in diesem Moment, in dem dieser magisch anmutende Wind ihr Kleid aufwirbelte, kam sie mir tatsächlich wie ein gehobenes Wesen vor.
Wie die Tradition es vorgab, verbeugten wir uns tief vor ihr und dann vor den Menschen zu beiden Seiten. Ranajea lächelte.
Sie drehte sich um und schritt auf das riesige Tor zu, dass den Eingang zum Seelenland markierte. Es war so hoch wie fünf Mann und aus massivem Metall. Ranajea schloss ein ebenso massiges Schloss auf und stieß beide Flügel weit auf.
Mit einem Mal schien die Luft zu knistern und zu flimmern. Eine plötzliche Stille legte sich über alles, als hätte die plötzlich spürbare Macht des Seelenlandes alles verschluckt.
Die fünf alten Seelensucher erschienen neben Ranajea und kamen dann auf uns zu. Gervo, Belvêos alter Seelensucher, ging zu mir und schüttelte mir die Hand. Er lächelte mir zu und beugte sich dann zu mir, um mir etwas ins Ohr zu flüstern. Sein braunes Haar streifte meine Wange.
„Möge die Magie in deinem Herzen und die Macht deines Namens, ob Bestimmung oder Gabe, dich auf deinem Weg leiten und beschützen", wisperte er die traditionellen Worte.
Ich verbeugte mich ein weiteres Mal, dann trat Gervo einen Schritt zur Seite.
Venelia, Terimano, Benau, Féamo und mir stand nun nichts mehr im Weg. Jetzt war der Moment gekommen, in dem wir die Grenze überqueren würden. Wir machten den ersten Schritt, dann den zweiten und den dritten. Den vierten. Es fehlte noch ein Schritt und ich wollte mich umdrehen, wollte nach meinem Vater suchen, der hier irgendwo stehen musste. Doch Venelia fasste mich am Ellenbogen und sagte erstaunlich sanft: „Tu es nicht. So ist es einfacher."
Und dann machten wir den letzen Schritt.
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