Kapitel 2: Immer für eine Überraschung gut
„Da", hauchte Mena. Mit dem Zeigefinger deutete sie auf eine Stelle im dichten Grün am Rand der Lichtung. Tatsächlich, dort zitterten die Blätter. Dann hörte man ein feines Rascheln.
„Ich kann es nicht glauben", flüsterte ich. Eine Venérkuh kam aus dem Unterholz, ihr dicht auf den Fersen, ein Venérkitz. Die Hörner strahlten im Licht der Sonne und zogen mich in ihren Bann.
Kurz darauf kam der Rest der Herde. Es waren sechs Stück- und eines schöner als das andere. Ich lächelte. Diese Tiere waren wunderschön- und magisch.
Plötzlich hob die Venérkuh den Kopf. Ihre dunklen Augen fanden meine beinahe sofort.
Wenn man sich Wildtieren wie den Venérs nähern wollte, war es alles andere als ratsam, sich vor ihnen zu verstecken. Sie bemerkten einen sowieso, und liefen dann weg. Die versteckte Haltung weckte nur Misstrauen in ihnen. Setzte man sich allerdings grade hin, als wäre man darauf bedacht, dass man entdeckt wurde, sahen die Venérs keine Gefahr in einem. Und tatsächlich. Die Venérkuh fixierte uns noch eine ganze Weile, dann begann sie, zusammen mit den anderen Venérs, an dem Gras zu zupfen, das die ganze Lichtung bedeckte.
„Sie sind so wunderschön", wisperte ich.
Mena nickte und trank einen Schluck Wasser aus ihrer Wasserflasche.
„Es hat ewig gedauert bis ich raushatte, wann diese Herde wo auftaucht", sagte sie und deutete vage in Richtung der Venérs. „Aber es musste diese Herde sein- immerhin hatten sie ein Kitz dabei. Es ist ganz jung, vielleicht zwei Blütezeiten alt."
Zwei Blütezeiten entsprachen sechs Wochen. Das war verdammt jung, immerhin konnten Véners bis zu 40 Jahre alt werden. Das älteste, registrierte Venér, war sogar 47 Jahre alt geworden.
Plötzlich löste sich aus der Sammlung brauner Leiber ein Venér und kam auf uns zu. Es machte keine Umwege, sein direktes Ziel waren wir. Ich hielt die Luft an, als es vor uns stehen bleib und den Kopf mit dem schimmernden Horn senkte.
Manchmal, in seltenen Fällen, beschlossen Tiere den Menschen zu helfen. Wie sie das taten, sah von Art zu Art unterschiedlich aus, bei den Venérs war es zum Beispiel so, dass sie eine Person mit ihrem Horn berührten und so markierten. Diese Person unterstand dann dem Schutz der Venérs- sollte diese in Gefahr sein, wenn Venérs in der Nähe waren, war es die Pflicht der Herde, den Menschen zu retten. Die Markierung zeigte sich als schwach schimmernder, heller Fleck, da, wo das Horn einen berührt hatte. Diese Person war von diesem Augenblick an ein Mitglied der Venérs- aller Venérs.
Das Horn des Venérs kam immer näher... und berührte mich dann unterhalb des Schlüsselbeins. Das Tier hätte mich jetzt töten können. Nur ein wenig Kraftaufwand war nötig, um mir das Horn in das Herz zu stoßen. Doch es tat es nicht. Es war eine zarte Berührung, die ein leichtes Brennen aussandte. Dann leuchtete das Horn auf. Ich hörte, wie Mena nach Luft schnappte. Und schon war der Moment vorbei. Das Venér wandte sich um, als wäre nichts geschehen, drehte sich zu der Herde und verschwand mit ihr wieder im Unterholz.
Mena wandte sich zu mir um, ihr Blick sprach Bände. „Kannst du mir mal bitte erklären, was da grade passiert ist?"
Ich setzte zu einer Antwort an, doch Mena hob abwehrend die Hände. „Weißt du was? Vergiss es." Dann stockte sie. „Oh mein Gott, Limmy, du wurdest von einem Venér markiert!"
Mena quietschte und schlang ihre Arme um mich. Ich lachte und erwiderte die Umarmung.
„Zeig mal her", befahl sie. Ich zog das Oberteil am Ausschnitt ein Stück nach unten. Und wirklich: Unter meinem Schlüsselbein schimmerte eine Stelle golden und silbrig.
„Es ist wunderschön", seufzte Mena.
Ich schob mein Oberteil zurück nach oben und rappelte mich auf. Mena folgte meinem Beispiel.
„Es ist seit Ewigkeiten nicht mehr vorgekommen, dass jemand von einem Venér gekennzeichnet wurde", sagte Mena, als wir auf dem Weg nach draußen waren.
„Jetzt wo du es sagst", begann ich und kletterte vorsichtig über ein paar hervorstehende Baumwurzeln. „Ich muss dir noch was erzählen."
Mena blieb stehen, die Hände in die Hüften gestemmt. „Limeana! Was hast du jetzt wieder verbrochen!"
Ich lachte. „Verbrochen habe ich gar nichts. Ich... ich habe einen Brief bekommen."
Mena schwieg und wir nahmen unseren Weg auf.
„Von Ranajea. Sie hat mir gratuliert... und mich dazu eingeladen, an der Seelensuche teilzunehmen."
„Wann musst du dich zurückmelden?", wollte Mena nach einer kurzen Pause wissen. Sie fragte gar nicht erst, ob ich zusagen würde oder nicht, sie wusste die Antwort bereits.
„Möglichst bald", antwortete ich.
Eine Weile schwieg sie wieder, dann sagte sie: „Weißt du, Limmy, du bist immer für eine Überraschung gut."
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