Kapitel 1: Sweet Sixteen

~Vier Jahre später~

Ich schlug meine Augen auf. Der Traum war wieder da gewesen. Vermutlich, weil ich gestern zu viel über sie nachgedacht hatte. Heute wäre sie 13 Jahre alt geworden. Ich war 16 geworden. Doch sie würde niemals 13 werden. Und ich würde älter werden, immer älter.

Stimmt ja. Ich hatte auch heute Geburtstag. Alle hatten es immer entzückend gefunden, dass Katie und ich am gleichen Tag Geburtstag hatten. Heute empfanden die Leute das eher als Skandal. So würde ich ja immer an sie erinnert werden, sagten sie. Als ob ich sie jemals vergessen könnte.
„Happy birthday to you, happy birthday to you, happy birthday... Katie und Limmy, happy birthday to you," sang ich leise vor mich hin, während ich an die Decke starrte. Ja, ich sang immer noch für meine kleine Schwester. Wenn die Leute das gewusst hätten, hätten sie mich für verrückt gehalten. Oder sie hätten mich bemitleidet.

Seufzend rollte ich mich von meinem Bett und blickte in den Spiegel. Es kam mir vor, als hätte ich mich in den letzten vier Jahren nicht wirklich verändert. Es waren die gleichen blonden Haare mit den braunen und silbrigen Strähnen, die gleichen unscheinbaren, braunen Augen, die gleiche, mittelhochgewachsene Figur. Zugegeben, ich war etwas kurviger geworden, meine Haare etwas voller, die Gesichtszüge etwas markanter. Ich war jetzt kein Kind mehr. Endgültig. Denn eigentlich hatte meine Kindheit aufgehört, als sie von uns gegangen war. Aber vielleicht... vielleicht würde heute alles anders werden. Die Chancen waren gering, aber Hoffnung bestand noch.

Ich schnappte mir eine Hose und ein Oberteil aus dem Schrank und ging ins Bad. Als ich zehn Minuten später die Treppe hinunterging, empfing mich der Geruch meines Lieblingsfrühstücks: Quark aus Yankurmilch mit kalter Murbeersoße, dazu einen heißen Tee aus der Murbeerblüte und den Wurzeln der Manarablume. Die Gerüche zauberten mir ein Lächeln aufs Gesicht, als ich die Küche betrat. Als er meine Schritte hörte, blickte er auf und lächelte mich auf wärmste Papa-Art an.

„Guten Morgen, Große!" Er kam auf mich zu und schloss mich in seine Arme.

Die Leute sagten immer, Katie und ich wären ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Wir sahen ihm wirklich sehr ähnlich. Unsere Züge waren wie aus seinem Gesicht kopiert, unsere Augen waren ein Abbild von seinen, selbst in der Art, wie wir gingen, spiegelten wir ihn wieder.

Meine Züge. Es waren meine Gesichtszüge. Meine Züge, meine Augen, mein Gang. Katie lebte nicht mehr.

„Na, wie fühlt man sich so mit 16?", fragte Papa, als er sich aus der Umarmung gelöst hatte, um den Quark und die Soße auf einem Teller anzurichten. „Bei mir ist das schon so lange her, ich kann mich kaum noch dran erinnern."

Ich verdrehte mit einem gespielten Seufzen die Augen, doch mein Lächeln war echt. Papa wusste immer, wie man einen zum Lächeln brachte.

„Genauso wie mit 15", antwortete ich. Ich goss mir aus der Kanne den Manara-Murbeertee in zwei Tassen und stellte sie auf den Tisch.

„Das glaube ich dir nicht", sagte Papa und
gestikulierte mit dem Löffel. Dabei spritzte der Quark in alle Richtungen.

Papa fluchte und machte sich daran, den Quark mit einem Lappen von allen möglichen Schränken und Wänden zu wischen. Dann wandte er sich mir zu.

„Da liegt Post für dich", sagte er und deutete mit einem Kopfnicken auf den Tisch. „Vielleicht fühlst du dich dann ja doch anders, jetzt wo du 16 bist." Er zwinkerte mir zu und begann, unter leisem Gemurmel und einigen Schimpfwörtern den Rest der Schränke vom Quark zu befreien.

Den cremeweißen, aus bestem Wolbenpapier gefertigten Umschlag, hatte ich gar nicht bemerkt. Er lag auf dem Tisch, unscheinbar und nicht weiter auffällig, dennoch schlug mein Herz schneller, als ich ihn erblickte. Nur eine bestimmte Person benutzte solches Papier.


Mit großen Schritten lief ich auf den Umschlag zu. Beinahe ehrfürchtig nahm ich ihn in die Hände und strich mit dem Finger über die unebene Oberfläche des Papiers. Auf dem Umschlag war keine Adresse angegeben, nur das rote Siegel zeigte eine schlichte Verzierung. Ich brach es auf und zog einen Brief hervor. Als ich sah, von wem der Brief war, musste ich mich hinsetzen. Gespannt begann ich, den Brief zu lesen.

Limeana, die, die die Wahrheit erkennt,

Ich möchte Ihnen herzlichst zu ihrem 16. Geburtstag unter meiner Regierung gratulieren. Ich bin stolz, eine weitere junge Frau wie Sie es sind, in meinem Land zu haben.
Heute möchte ich Ihnen allerdings eine weitere, lebensverändernde Nachricht mitteilen. Sie wurden auserwählt, an der Seelensuche teilzunehmen, die in diesem Jahr stattfindet. Sollten Sie beschließen, an dem größten Ereignis des Jahres teilzunehmen, geben Sie uns über den üblichen Weg Bescheid.

Hochachtungsvoll,
Ranajea, die, die in der Dunkelheit sucht

Ranajea... Ich hatte es gewusst. Sie war das Oberhaupt unseres Landes, die Führerin von allen. Diejenige, die vor langer Zeit das Land aus der Dunkelheit ins Licht geführt hatte. Ihr Beiname zeugte noch heute von ihren Taten.

Jedes Kind, das geboren wurde, bekam nach drei Tagen bei einer speziellen Zeremonie seinen Beinamen, der die Zukunft des Kindes beschreiben sollte. Meist war es eine Art Gabe, die ganz unterschiedlich sein konnte, manchmal war es aber auch eine Bestimmung, ein Schicksal, das einen erwartete. Für diese Zeremonie wurde eine spezielle, seltene Blüte verbrannt und der süße, schwere, violette Rauch wurde von einer Person gelesen, die daraus Worte formen konnte.

„Und?" Papas Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Die Quarkflecken waren verschwunden und er hatte die hübsch angerichteten Teller auf den Tisch gestellt.

„Es... ich bin auserwählt worden", sagte ich.

Er grinste mich an und begann, zu essen. „Und, ist das nicht eine tolle Überraschung?", fragte er.

Ich konnte nur nicken. Schon als ich ganz klein gewesen war, hatte ich mir gewünscht, bei der Seelensuche teilzunehmen und eine Seele zu finden, mit der ich verbunden war. Doch als zuerst Mama und dann Katie gestorben, ermordet worden waren, war daraus mehr geworden. Es war ein tiefes Verlangen, dass in mir brannte und nichts als schwarze Verzweiflung hinterließ. Denn ich hoffte, sie im Reich der Seelen wiederzufinden.

Nachdem der Körper eines Menschen gestorben war, verließ die Seele den Körper und ging ins Reich der Seelen, wo Seelen leben konnten, ohne dass sie einen Körper benötigten. Mama und Katie waren dort. Und ich würde sie finden.

•••

Nach dem Frühstück ging Papa zur Arbeit, nicht ohne mir zu versprechen, dass ich heute Abend eine Überraschung bekommen würde. Ich lächelte ihm zum Abschied zu und er drückte mir noch einen Kuss auf den Kopf, dann ging er den Hügel hinab und war bald aus meiner Sichtweite verschwunden.

Nachdem ich die Tür geschlossen hatte, ging ich nach oben. Ich musste noch etwas erledigen. Als ich am Zimmer meiner Schwester angelangt war, straffte ich meine Schultern, holte tief Luft und öffnete dann vorsichtig die Tür.

Jedes Mal, wenn ich das Zimmer betrat, hatte ich Angst das zu sehen, was mein 12-jähriges Ich dort gesehen hatte. Dann kam die Erleichterung, denn das Bett war leer und sauber. Und schließlich kam die Verzweiflung, denn sie war nicht mehr da.

Dieses Mal war es anders. Ich sah aus dem Fenster, sah mir die Hügel an und die Gebäude aus Glas und hellem Stein, dann schaute ich mir ihren Kleiderschrank an, den Schreibtisch und das Puppenhaus und die Spielkisten voller Kuscheltiere. Und dann sah ich mir das Bett an. Die Bezüge waren weiß, Katies Lieblingskuscheltiere lagen darauf. Und die Geschenke der letzten drei Jahre, die ich ihr dorthin gelegt hatte. Gepresste Blumen, schöne Steine, aus Holz gemachte Figürchen. Ich ging auf das Bett zu und strich mit den Fingerspitzen darüber. Auch wenn es unvernünftig war, Hoffnung erfüllte mich. Ich griff in die Hosentasche und holte das vierte Geschenk heraus. Es war ein metallenes Schneckenhaus, das schimmerte wie Perlmutt und in den schönstens Farben leuchtete. Katie hätte es geliebt.

Plötzlich ergriff mich Wehmut. Schnell legte ich das Schneckenhaus dazu und verließ das Zimmer. Als ich die Tür hinter mir schloss, atmete ich auf. Eine Weile blieb ich davor stehen, dann gab ich mir einen Ruck und ging die Treppe hinunter.

•••

„Geburtstagskind, da bist du ja endlich!" Freudestrahlend breitete Malmena, meine beste Freundin, ihre Arme aus und umarmte mich fest. Ich erwiderte die Umarmung und lächelte sie an, als wir uns voneinander gelöst hatten.

„Sweet sixteen! Das muss gefeiert werden, findest du nicht? Ich hab was vorbereitet. Wir können sofort los."

„Du weißt doch, dass ich keine Geschenke will, Mena", sagte ich und versuchte ernst zu gucken.


Mena lachte bloß und hakte sich bei mir unter, ihre braunen Locken kitzelten mich im Gesicht. 

„Es ist gar kein richtiges Geschenk. Also, zumindest hab ich nichts dafür ausgegeben. Aber wir machen was, was du schon immer mal machen wolltest: Wir gehen Venérs beobachten!"

Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Mena wusste, wie sehr ich Venérs liebte. Es waren vierbeinige, braunfellige Wesen mit einem schimmernden Horn auf der Stirn und großen, gespaltenen Ohren. Ich fand sie wunderschön, hatte aber nie die Zeit gefunden, welche zu beobachten.

„Das... das ist wundervoll, Mena", sagte ich.

Sie grinste selbstgefällig. „Wusste ich doch, dass dir das gefällt. Also wollen wir?"

Sie ging den Hügel hinab, auf dem wir uns getroffen hatten, und ich folgte ihr, still vor mich hinlächelnd. Es würde ein guter Tag werden. Vielleicht der Beste, nach langer Zeit.

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