Jiva
Jiva.
Jiva, hast du schon einmal jemanden angesehen und genaustens beobachtet, wie er redet?
Wie viele Sprünge seine Stimme macht?
Wie oft er blinzelt?
Wie sich sein Gesicht verzieht, wenn er lacht?
Wie seine Augen hin und her huschen?
Wie sie sich sachte röten, wenn er traurig wird?
Wie er wild gestikuliert, wenn er von etwas erzählt, das ihn freut?
Wie er seinen Körper hält? Aufrecht, starr, locker, gekrümmt, schlaff, stets kampfbereit...
Mit Sicherheit hast du das.
Du bist eine poetische Seele, glaube ich. Wegen dir liegen all die beschriebenen Blätter auf dem Schreibtisch, manchmal sortiert und manchmal hingeschmissen, als wären sie ein Laubhaufen am Straßenrand. Wenn ich sie mir durchlese, dann fühle ich... Hm, was fühle ich dann? Ich möchte nicht ,,Schmerz" sagen, denn das wäre zu platt. Es wäre, als würde man einen tausend Meter hohen Berg ,,groß" nennen. Ja, er ist groß, aber ,,groß" ist nicht groß genug.
Du bist wie ein Sturm, der schnell durch die Landschaft fegt und eine Schneise hinterlässt, ohne das beleidigend zu meinen. Aber ich denke, du bist nie lange da, und eigentlich eine Windböe, die dahinstreift, ohne etwas zu hinterlassen. Doch wenn du mal der Sturm bist, ist es ein Graben, den du hinterlässt. Und das Fernglas legst du daneben, damit man auch so tief wie möglich hineinschauen kann. In jeden neuen Abgrund, von dem man noch nichts wusste, in jede Wunde, durch die Lava suppt. Lava, von der man bis dato nichts gespürt hat, weil es die eigene ist, aber dennoch irgendwie nicht meine.
Ist das die Art, wie du überlebst? Schweigen und lächeln, bis alles auf dem Papier herausbricht? Bis du zu dem Tornado, dem Hurricane, dem ewig weinenden Gewitter wirst, als das du dich innerlich wahrscheinlich die ganze Zeit fühlst? Mitten in der Nacht oder an einem ganz normalen Nachmittag? Ich korrigiere mich: Ein für mich normaler Nachmittag. Wer weiß schon, was währenddessen in den Wolken über meinem Kopf vorgeht, die sichtbar sind, aber nicht greifbar. So bist du für mich, und ich wohl für dich.
Du bist zurückhaltend, Jiva. Eine Beobachterin. Du willst noch nicht mit mir sprechen, und ich kann es verstehen. Du bist eine Beschützerin, du willst auch mich beschützen. Du fürchtest, dass die Wand zwischen uns einstürzen könnte, die mich vor dem bewahrt, was du zum Schutz aller für dich behältst. Du willst vermeiden, dass deine Geschichten von toten Freunden, falschen Freunden und heruntergewürgten Tränen von fern treibenden Wolken zu etwas Realem werden.
Deine Geschichten. Unsere Geschichten?
Du hast Angst. Angst vor dir selbst, davor, deine selbst auferlegten Pflichten nicht zu erfüllen, wenn du aufhörst zu schweigen? Dein ertragbar geschriebenes Schloss aus Albträumen zu zerreißen, wie es dich zerreißt, deine quälenden, nagenden Atem-und-Verstand-raubenden Erinnerungen hochzuholen und auf mich zu übertragen? Du willst keine Bürde werden, wenn du den Mund öffnest. Du hast zu viele Aufgaben, als dass du dich von der Flutwelle dieser furchtbaren Geschehnisse überrollen lassen könntest, also wirst du selbst zu einer, wenn niemand zuschaut. Bis auf mich, dann am nächsten Morgen, wenn ich von dir nicht einmal einen Widerhall spüre.
Du kümmerst dich. Die Beobachterin. Das Kindermädchen. Du hältst nicht still und bist es dennoch. Du übernimmst Verantwortung, räumst bei anderen auf, bei dir nicht. Du weinst Tränen, die zu kalt für mich wären, läufst mit Beinen, die du betrauerst, denn es stecken zu viele Messer darin.
Du hast gelernt, zu schweigen. Meistens. Doch von wem?
Von den anderen Kindern?
Von den sich schließenden LKW-Türen?
Von den Dingen, die du mir noch verheimlichst?
Oder gar von ihm, als alles zu spät schien?
Jiva, lebst du noch?
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