Amaya

Amaya.

Amaya, ich glaube, du weißt, wie es ist, sich verloren und machtlos vorzukommen. Fragt sich nur, wie oft du jenes tust. Ich mute dir nicht zu, dass du jemand bist, der klein beigibt, ganz und gar nicht. Dabei bist du noch sehr jung. Ich kann mir vorstellen, dass du das genießt. Unterschätzt zu werden, unbeachtet im Schatten zu bleiben, bis du zuschlagen kannst. Dann gibt es kein Zurück mehr.

Ich habe bis jetzt spärlich mit dir gesprochen, weshalb ich nicht exakt weiß, wie alt du bist oder was dich auszeichnet. Du scheinst sehr privat zu sein und nicht auf eine Nummer reduziert werden zu wollen. Ärgert es dich, dass du nicht alterst? Wünscht du dir, eines Tages ,,dazuzugehören" oder fühlst du dich bereits angekommen? Werde ich es je erfahren? Mir scheint, als ließest du deine natürliche kindliche Seite bloß zu, wenn du total und hundertprozentig sicher bist, dass dich keiner beobachtet. Ich habe deine harte, berechnende Stimme gehört, dein kalkulierendes Auftreten wie vor Augen gehabt. Du legst das nur ab, wenn keine Gefahr droht, oder?

Es muss ein schweres Leben sein. Schmerz ist wohl bereits ein fester Teil deiner zarten, doch so belastbaren Seele. Vielleicht gibst du auch lediglich vor, belastbar zu sein und wärst in Wahrheit einfach gerne erlöst von deiner stummen Qual. Nun, Amaya, du kannst nicht sterben. Wir halten uns gegenseitig am Leben, obwohl wir uns kaum kennen.

Du musst einsam sein. Jiva kümmert sich um dich, aber jedes Kind braucht Abwechslung. In diesem Körper wird man dich auf dem Spielplatz nicht akzeptieren und eventuell würde man das auch nicht, wenn du so aussähest wie in deiner Vorstellung. Ich habe das Bild gesehen, als eine deiner wenigen Hinterlassenschaften. Du bist ein junges Mädchen mit braunen Locken, einer spitzen Nase und gerade nachwachsenden Vorderzähnen. Bestimmt bist du stolz darauf, das Grauen Milchzahn überwunden zu haben und einen neuen Abschnitt zu beginnen, zumindest in deinem Ideal. Doch selbst wenn du freche Locken, ein verschmitztes Gesicht und Zahnlücken hättest, mit denen du auf Fotos unverkennbar wärst- ja, würdest du trotzdem akzeptiert werden können? Dich einfügen können? In dieselbe Welt gehören wie andere Kinder?

Oh, Amaya. Denn in welcher Welt leben wir, dass ein Schulkind so etwas aushalten musste und noch aushalten muss?
Aushalten muss, weil ich sonst tot wäre?
Zum ersten Mal, seit ich das hier schreibe,  fange ich an zu zittern. Die Buchstaben verschmieren. Ich kann nicht schluchzen, nicht weinen, nicht zusammenbrechen. Die Steine im Magen nageln mir die Kehle zu, drängen die Galle zurück, sowie ich an das denke, was du mir erzählt hast. Als ich dich so weit hatte, dass du mir für einen winzigen Moment vertrautest. Es zugelassen hast, dass die Dunkelheit dich einholt. Das Schweigen beendet hast.
Du warst ein unbeschwertes Mädchen, das in ein brennendes Loch geworfen wurde. Ein Teil der Wahrheit gehört dir.
Eine Familie, die dich betrogen und ausgebeutet hat. Für Geld und Kontrolle.

Jahre der Angst, der Schutzlosigkeit, der Einsamkeit, und dann... Amnesie. Deine Geschichten. Unsere Geschichten?

Von dir sind die aus Langeweile entstandenen Kritzeleien im Zimmer.
Von dir sind die Kinderbücher über Dinosaurier, Prinzessinnen und fröhliche Weihnachten, die plötzlich im Bücherregal auftauchen.
Die eine, leere Schokoladenpackung unterm Bett.
Amaya, das Schweigen kann dich nicht besiegen. Du bist alles, das ich nie sein konnte. Du wirst alles schaffen, das du dir vornimmst und noch so viel mehr.
Du bist liebenswert. Du bist nicht kaputt.

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