Prolog
„Hiermit verurteile ich Sie zu drei Jahren Haft!"
Die Erinnerungen von damals schießen schlagartig in meinen Kopf zurück. Noch heute höre ich den Klang des Hammers, als dieser auf das alte Holz traf und das Urteil des Richters untermauerte. Doch dieser Teil meines Lebens gehört nun der Vergangenheit an, denn genau heute enden diese drei Jahre.
Drei Jahre, die ich in einer winzigen Zelle verbracht habe und mich als einzigen Freund hatte. Jahre, in denen mich meine Gedanken fast umgebracht haben, da sie sich auf dem engen Raum besonders gut ausbreiten konnten.
Der angenehm frische Wind weht um meine Nase und lässt meine blonden Strähnen wild in der Luft tanzen. Gleichzeitig wünsche ich mir, dass er all die negativen Gedanken in meinem Kopf mit sich tragen würde. Wenn ich es mir recht überlege, wäre ich noch viel lieber selbst der Wind. Frei und unbändig.
Ich verfestige den Griff um die Henkel meiner Tasche und stolziere, ohne ein weiteres Mal zurückzuschauen, durch das große eiserne Tor, hinaus in die zivilisierte Welt. Auf diesen Moment musste ich schon viel zu lange warten.
Ich bleibe kurz stehen, schließe meine Augen und atme tief ein. Erlaube mir für kurze Zeit die Ruhe zu genießen, und lasse den Geschmack der durch Abgase verdreckten Luft auf meiner Zunge zergehen. Als ich die Augen wieder öffne und meinen Weg zum Parkplatz fortsetze, wo Kayla, meine beste und einzige Freundin, auf mich warten sollte, erblicke ich sie auch schon.
Kayla steht angelehnt an ihrem kleinen, verkommenen Golf, der von Rost zerfressen ist, aber auch schon davor rostrot war. Sobald sie mich sieht, verschränkt sie die Arme vor der Brust und noch immer spannt sich diese alte, abgenutzte Lederjacke um ihre Schultern. Es hat sich also scheinbar nicht allzu viel während meiner Abwesenheit verändert.
Je näher ich komme, desto deutlicher sehe ich das freche Grinsen, welches sich auf ihren Lippen breit macht. Die pinken Erdbeerohrringe beißen sich mit ihren kastanienbraunen Haaren, die ungefähr auf der Höhe ihres Kehlkopfs enden. Diesen Haarschnitt hat sie schon solange ich denken kann. Ebenso wie ihren fragwürdigen Stil.
Bei ihr angekommen, schließt sie mich fest in die Arme. Eine solch vertraute Geste ist ungewohnt, doch ich freue mich unheimlich sie endlich wiederzusehen. Ich habe sie so unglaublich vermisst. Tief sauge ich ihren süßlichen Duft ein, der ein wohliges Gefühl in mir aufkommen lässt.
„Du siehst gut aus. Schöne Ohrringe."
Ich lasse meinen Blick über ihr feines Gesicht, mit den großen haselnussbraunen Augen, und schließlich über ihren zierlichen Körper gleiten. Wenn mich nicht alles täuscht, hat sie abgebaut.
„Danke, die habe ich mir extra für deine Entlassung gekauft", erwidert Kayla grinsend. Sie schüttelt den Kopf, sodass ihr Haar und die riesigen Ohrringe herumfliegen und ihr ins Gesicht schlagen.
„Ich würde das Kompliment gerne zurückgeben, aber um ehrlich zu sein hast du schon besser ausgesehen."
Ich schnaufe gespielt beleidigt. Mir ist bewusst, dass ich absolut beschissen aussehe. Was will man auch sonst erwarten, wenn man fast den ganzen Tag in einer Zelle festsitzt?
Kayla öffnet den zerbeulten Kofferraum, in welchen ich meine Tasche schmeiße, und daraufhin setzen wir uns in die alte Kiste. Kurz befürchte ich, dass sie unter unserem Gewicht zusammenkracht.
„Danke, dass ich bei dir wohnen darf."
Ohne Kayla wäre ich vollkommen aufgeschmissen.
„Klar doch! Früher hast du mich auch nicht sitzen lassen, Adela. Immer füreinander da, schon vergessen? Außerdem wollte ich schon lange mit dir zusammenziehen, davon haben wir doch früher immer geträumt", erwidert sie mit einem warmen Lächeln.
Ich schüttle den Kopf und greife nach ihrer rechten Hand, die ich dankend drücke. Außer ihr habe ich niemanden mehr. Niemanden, der für mich da sein könnte und niemanden, dem ich vertrauen würde. Niemanden, zu dem ich nach Hause kommen könnte. Schon damals sind wir durch dick und dünn gegangen und wir werden es auch heute tun, so viel steht fest.
Kayla ist mein Zuhause.
Vor vielen Jahren haben meine Mutter und ich Kayla geholfen, als sie von ihrer Mutter rausgeschmissen wurde. Sie zog bei uns ein. Heute ist sie die Person, die mir die rettende Hand reicht.
Leider existieren in unserer Gesellschaft immer noch sehr viele Vorurteile. Die meisten denken, wenn man einmal Verbrecher ist, bleibt man einer. Obwohl sie nicht einmal wissen, ob du wirklich einer bist. Wer du wirklich bist.
Dann kommt auch noch dazu, dass ich arbeitslos und vor allem mittellos bin. Keine besonders gute Kombination.
Sie startet den Motor, der nach mehreren Anläufen endlich anspringt, drückt das Gaspedal durch und fährt mit hoher Geschwindigkeit vom Parkplatz hinunter. Offensichtlich bin ich nicht die Einzige, die so schnell wie möglich von hier verschwinden möchte.
Meine beste Freundin steuert den Weg zu ihrer kleinen Wohnung an, die in der Nähe des Bahnhofs von Frankfurt liegt. Hässlich ist eine Untertreibung für diese Gegend. Sie ist von grauen, verkommenen Kastengebäuden gesäumt und überall liegt Müll herum. In den meisten Häusern wimmelt es nur so von Ungeziefer. Für mehr reicht es jedoch nicht. Ihres Körpergewichts nach zu urteilen, genügt es nicht einmal für einen vollen Magen.
Zwar bin ich nun aus dem Gefängnis raus, doch die wahren Herausforderungen beginnen jetzt. Auch wenn es dort alles andere als schön ist, musste ich mich um nichts kümmern. Ich hatte immer genug zu essen und konnte mich darauf verlassen, ein Bett zu haben. Miete musste ich auch nicht zahlen, was von großem Vorteil ist, wenn man kein Geld auf dem Konto hat. Kein Wunder, dass viele Menschen in Armut zu illegalen Mitteln greifen. Gefängnis bedeutet fast materiellen Luxus. In Amerika begehen Menschen Verbrechen, um eine Haftstrafe absitzen zu können, da sie dort medizinisch behandelt werden. Aus eigenen Mitteln können sie sich keine medizinische Versorgung leisten.
Was ist das für eine Welt, in der nur die Wohlhabenderen ein Recht auf Gesundheit haben?
An dem Mehrfamilienhaus angekommen, tragen wir gemeinsam meine Sachen in den dritten Stock. Der Flur der Wohnung ist schmal und vielleicht fünf Meter lang.
„Willkommen daheim!"
Ich lasse meinen Blick umherschweifen und zwinge mir ein Lächeln auf die Lippen. An den Wänden, die teilweise von Schimmel befallen sind, blättert der Putz ab. Die Zimmer sind klein und die Einrichtung ist willkürlich zusammengewürfelt. Es sieht so aus, als wären es Möbel vom Sperrmüll.
Das hier war sicherlich nicht das, was ich mir für mein Leben vorgestellt hatte. Nur habe ich keine Wahl. Jetzt heißt es, sich durchzukämpfen. Zum Glück habe ich dabei Kayla an meiner Seite.
Manchmal erfordern außergewöhnliche Situationen außergewöhnliche Maßnahmen, das hatte meine Mutter früher immer gesagt.
Und meistens sind es die kleinsten Fehler, die das Dach über dir zum Einstürzen bringen. Aber was habe ich schon zu verlieren?
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