Kapitel 9
Ich schließe die Tür zur Wohnung auf, woraufhin ich sofort ins Bad gehe, um mir die Hände zu waschen. Immer, wenn ich von der Arbeit komme, sehen meine Hände wie die einer Achtzigjährigen aus. Jedoch ist das Gefühl, dass sie immer noch dreckig sind und vor allem auch der Geruch bei weitem das Schlimmste. Falls eines Tages eine Umschulung möglich sein sollte, werde ich Freudensprünge machen. Ich wasche mir die Hände zwei Mal hintereinander, wodurch sie noch runzliger werden, aber jetzt kann ich wenigstens ganz sicher sein, dass ich die Rückstände von dreckigem Putzwasser los bin. Mein Rücken schmerzt, meine Knochen sind schwer und mein Magen knurrt. Am liebsten würde ich mich bloß noch ins Bett legen und den Rest der Woche durchschlafen. So lange schlafen, bis sich all unsere Probleme in Luft aufgelöst haben.
Ich mache mich auf den Weg in die Küche, um mir ein Toast zu schmieren und sehe auch direkt Kayla, die scheinbar eben erst nach Hause gekommen ist. Sie trägt immer noch ihre Arbeitskleidung und sitzt mit dem Rücken zu mir am Tisch, vor sich den Laptop, der wahrscheinlich seit Ewigkeiten eine Seite am laden ist.
„Hey."
Kayla dreht sich kurz zu mir herum, schenkt mir ein Lächeln und wendet sich danach wieder dem Laptop zu.
„Willst du auch was essen?", frage ich, da ich mir vorgenommen habe, mehr auf ihr Essverhalten zu achten und darauf, ob sie auch genug isst.
„Nein, ich habe mir eben schon ein paar Ravioli warm gemacht. Aber danke."
„Heiße Schokolade?"
Auf meine Frage hin nickt sie bloß, da sie weiterhin wie hypnotisiert auf den Bildschirm schaut. Ich wende mich den Schränken zu, hole alles Nötige heraus und schmiere mir aber als aller Erstes ein Brot, da ich sonst vor Hunger noch sterbe. An die Arbeitsplatte angelehnt, verschlinge ich die erste Scheibe und schaue zu Kayla, die erstaunt Luft einzieht.
„Sieh dir das an. Los, schnell!", drängt sie.
Ich stoße mich von der Küchenzeile ab und werfe selbst einen Blick auf den Bildschirm, woraufhin mir die Kinnlade runter klappt und mir vor Schock fast die Augen ausfallen.
„Dafür ist hammergeile Affenscheiße die reinste Untertreibung. Wir werden fucking reich, Dela."
Da ich es einfach nicht glauben kann, starre ich für gefühlte Stunden auf diese drei wunderbaren Zahlen, die für Kayla und mich schon eine mehr als große Erleichterung bedeuten. Ich wusste, dass diese Tiffany Armbänder teuer sind. Aber ich wusste nicht, dass sie so teuer sind. Sechshundert Euro für ein einziges Armband. Jackpot.
„Nun steht unserer Weltherrschaft nichts mehr im Wege", gebe ich spaßeshalber dazu, was Kayla zum Schmunzeln bringt.
Sechshundert Euro, was man damit alles machen kann. Wie viele Mäuler davon am Tag gestopft werden könnten. Für manche mag es keine besonders hohe Summe sein, doch für Kayla und mich bedeutet sie eine Chance.
„Ich werde es direkt im Internet versteigern."
Mit anhaltendem Glücksgefühl wende ich mich der heißen Schokolade zu, die nun nur noch extra gut werden kann. Ich erwärme die Milch, hacke die Schokolade klein und gebe diese sowie meine Geheimzutat dazu. Als die Schokolade endlich geschmolzen ist, stelle ich Kayla eine Tasse hin und genieße den himmlischen Duft, den ich nur so in mich aufsauge. Kayla pustet ordentlich und nimmt schon kurz darauf einen kräftigen Schluck, den sie mit einem kleinen Stöhnen quittiert.
„Du machst einfach die beste heiße Schokolade. Da wird meine Hose schon feucht."
Ich stehe vor dem Herd und bereite heiße Schokolade für mich und Elian zu, da er sie so unheimlich gerne trinkt und nach dem Spielen in der eisigen Kälte eine schöne Aufwärmung gebrauchen kann. Er sitzt wenige Meter entfernt auf einem Stuhl, den er sich an die Küchenplatte geschoben hat und kritzelt nun auf einem Blatt herum. Wobei kritzeln eindeutig die falsche Bezeichnung ist. Elian kann für einen Neunjährigen schon großartig zeichnen, besser als ich es je konnte und können werde.
Ich fülle das heiße Getränk in zwei Tassen, wovon ich eine Elian gebe, der sofort sein Blatt beiseitelegt und freudig zu mir schaut. Sobald die Flüssigkeit etwas abgekühlt ist, trinkt er die ganze Tasse in beinahe einem Zug leer und schaut mit glänzenden Augen zu mir.
„Du machst einfach die beste heiße Schokolade, Dela!", teilt er mir zufrieden und vielleicht auch sogar ein klein wenig stolz mit, was ein riesiges Grinsen auf mein Gesicht zaubert. Was würde ich bloß ohne ihn machen? Elian ist mein kleiner Sonnenschein an einem grauen Tag.
„Und du malst die besten Bilder! Zeig mal her", bitte ich ihn. Er greift nach seinem kleinen Kunstwerk und präsentiert es mir freudig. Darauf ist ein Mädchen mit blonden Haaren und ein kleiner Junge mit hellbraunem Haar und blauen Augen abgebildet, die sich an den Händen halten. Die Sonne scheint prächtig auf sie herab und der Himmel ist strahlend blau. Das Bild ist wunderschön.
„Das bist du und das bin ich", erklärt er und deutet auf die jeweiligen Personen. „Und wir halten uns an den Händen, weil wir immer füreinander da sind und den anderen nicht loslassen."
„Das werden wir, versprochen."
Ich drücke ihn fest an mich, fest entschlossen meine Worte zu halten. Tränen brennen in meinen Augen, da ich alles dafür geben würde, dass sie Elians Bilder sehen könnte. Alles dafür, noch einmal ihr Lachen zu hören und in ihre liebevollen Augen zu blicken. Seit sie weg ist zerbricht unsere Familie. Und ich habe solche Angst, dass ich meinem Bruder nicht gerecht werde. Ich versuche Mama zu ersetzen, doch ich weiß, dass ich das eigentlich nicht kann. Niemand kann Mama ersetzen. Wenn ich Elian anschaue, erkenne ich ihre Sanftmut und ihre gute Seele in ihm. Sie sind sich so ähnlich, dass es manchmal weh tut.
„Ich hab dich lieb, Meister."
„Ich dich auch. Ganz doll."
„Erde an Dela??"
Kayla fuchtelt wie wild geworden vor meinem Gesicht herum, wodurch ich aus meiner Starre erwache.
„Hier bietet jemand fünfhundertsiebzig, ist das in Ordnung?"
„Ja, mach du mal", gebe ich abwesend zurück.
Ich konnte mein Versprechen an Elian nicht halten. Ich war und bin nicht für ihn da. Ich habe ihn nicht festgehalten. Im Gegenteil. Ich habe ihn verloren, vielleicht sogar für immer. Zu was für einem Menschen macht mich das? Das schlimmste ist, dass ich versuche möglichst wenig an ihn zu denken, denn wenn ich es tue, habe ich das Gefühl innerlich zu sterben. Gleichzeitig möchte ich jede freie Minute an ihn denken, um ihn nicht zu vergessen. Manchmal rede ich mir ein, dass er es vielleicht spürt. Dass er mich ebenso sehr vermisst wie ich ihn. Auch, wenn das wohl kaum möglich ist.
Wahrscheinlich ist er sogar besser ohne mich dran. Vielleicht macht ihm jetzt eine andere Person heiße Schokolade. Papa ist es sicherlich nicht, weil er den Kontakt zu meinem Bruder und mir immer so gering wie möglich hielt. Mir war es recht, denn irgendwann habe ich aufgegeben und bin ihm ebenfalls aus dem Weg gegangen. Es war besser für alle. Wir haben uns nur gestritten. Ich hoffe einfach nur, dass er Elian nicht schlecht behandelt. Es ist mir egal wie er mich behandelt hat, aber das würde ich ihm nie verzeihen.
Mir steigen die Tränen in die Augen und am liebsten würde ich mich flennend und kriechend in unser Zimmer verziehen, doch ich reibe bloß aggressiv über meine Augen und lasse mich gegenüber von meiner besten Freundin nieder. Ich darf keine Schwäche zeigen, zumindest nicht so oft. Wenn jemand ein Recht dazu hätte, dann definitiv Kayla, aber nicht ich. Ich bin einfach nur erbärmlich. Eine erbärmliche junge Frau, die nicht einmal ihre Versprechen einhalten kann.
„Wie war eigentlich das Treffen gestern?"
Sie hebt ihren Blick an, lehnt sich im Stuhl zurück und atmet einmal tief durch, bevor sie zur Antwort ansetzt. „Gut. Es war die richtige Entscheidung hinzugehen. Ich weiß nicht, ob ich es sonst geschafft hätte."
Erleichterung und Sorge kämpfen in meinem Inneren miteinander. Erleichterung, da sie nicht rückfällig geworden ist und sich Hilfe gesucht hat. Sorge, weil sie nicht weiß, ob sie es sonst geschafft hätte. Aber sie hat es geschafft.
Es schmerzt zu wissen, dass ich ihr nicht richtig helfen kann. Dass ich nicht all ihre Sorgen mit einem Schwamm wegwischen kann und dass sie wahrscheinlich niemals ganz unbeschwert leben wird. Dass wir beide in unseren Leben so verschissen haben. Und dann kommen wieder die Momente, in denen ich mich frage, was das Ganze überhaupt noch soll. Wo der Sinn liegt, denn ich kann ihn verdammt noch mal nicht finden. Vielleicht ist das hier auch einfach sinnlose, aneinandergereihte Scheiße, aber ich will nicht daran glauben, da ich mir sonst mit großer Wahrscheinlichkeit das Hirn wegblasen würde.
Ich schaue sie heute zum ersten Mal genauer an und erst jetzt fällt mir auf, dass sie noch immer erschöpft und ausgelaugt wirkt. Der Vorfall gestern hat tiefe Spuren hinterlassen.
Die Erinnerungen an Kaylas Tränen, ihren zusammengekauerten Körper und den leeren Ausdruck in ihren Augen, schießen zurück in meinem Kopf. Aber auch die Erinnerungen an ihren nackten Körper und die Art und Weise, wie sie mich über den Badewannenrand hinweg angeschaut hat. An ihre weichen Lippen auf meiner Wange und ihre Fingerkuppen auf meiner Haut. Es ist bescheuert. Ich sehe sie ständig nackt und wir berühren uns auch ständig. Himmel, wir leben zusammen. Was ist mit mir los?
„Woran denkst du?"
Ich schaue in Kaylas haselnussbraune Augen, die mich fragend anschauen, doch wende schnell den Blick ab. Ich habe Angst, dass sie meine Gedanken sehen kann. Dass sie fett und in Großbuchstaben auf meiner Stirn stehen.
„Daran, dass Häuser mit Briefschlitzen eigentlich riesige Briefkästen sind", lüge ich schnell.
Sie zieht ihre Augenbrauen nach oben und mustert mich skeptisch, wie es eine Mutter bei ihrem Kind machen würde, das ziemlich offensichtlich etwas verbirgt.
„Manchmal bist du wirklich abgedreht."
„Wenn ich nicht abgedreht wäre, würde ich nicht bei dir wohnen", gebe ich neckend zurück, woraufhin Kayla gespielt beleidigt die Arme vor der Brust verschränkt.
„Dann bin ich auch durchgedreht, sonst hätte ich dich nicht gefragt, ob du einziehst."
„Autsch."
Verletzt lege ich eine Hand auf die Stelle, wo ich mein Herz vermute. Vermutlich liege ich einige Zentimeter daneben, ich bin kein Arzt. Kayla schüttelt nur amüsiert den Kopf und widmet sich wieder ihrem Laptop zu, als mein altes Handy in meiner Hosentasche vibriert. Dadurch, dass ich es drei Jahre nicht nutzen konnte, ist es wie neu. Ich hole es heraus und sehe, dass mir Darian geschrieben hat.
D: Habt ihr gleich schon was vor?
A: Kayla muss gleich wieder arbeiten :(
Es dauert wenige Sekunden bis eine Antwort kommt.
D: Hast du trotzdem Lust, was zu machen?
Ich blicke grübelnd auf seine Nachricht. Irgendwie fühlt es sich an, als würde ich Kayla hintergehen, wenn ich mich allein mit ihm treffe. Als würden wir sie ausschließen, was aber wahrscheinlich Schwachsinn ist.
„Würde es dir was ausmachen, wenn ich mich gleich mit Darian treffe?"
Kayla blickt von ihrem Bildschirm auf, ihre Lippen sind leicht geöffnet und sie sieht ein wenig verwirrt aus, weil sie eben noch so konzentriert aus. Es ist unglaublich süß.
„Nein, warum sollte es?", fragt sie ehrlich irritiert.
„Ich weiß nicht", erwidere ich schulterzuckend.
„Habt Spaß für mich mit."
Ihr Lächeln ist so aufrichtig, dass ich keine Zweifel mehr daran habe, dass es sie stören könnte.
A: Ja. Hast du sofort Zeit?
D: In zwanzig Minuten am alten Aussichtsturm?
A: Abgemacht.
D: Ich freue mich :)
„Ich gebe alles. Viel Spaß auf der Arbeit."
Ich drücke ihr einen Kuss auf die Wange und laufe in den Flur, wo ich meine Schuhe und eine Jacke anziehe. Bevor ich die Wohnung verlasse, rufe ich Kayla noch einmal zu, dass ich jetzt weg bin und mache mich dann auf den Weg.
Mal sehen, was Darian vor hat.
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