Kapitel 8
Hoffnungsvoll klappe ich den alten Laptop auf und öffne, sobald er hochgefahren ist, meine E-Mails. Vor kurzem hatte ich meine Bewerbung bei einem Büro für einen Ausbildungsplatz abgegeben und warte nun schon seit einiger Zeit auf eine Rückmeldung, die mich jedoch bis heute noch nicht erreicht hat.
In den letzten Wochen hatte ich des Öfteren Bewerbungen abgeben, doch bekam immer eine Absage oder gar keine Antwort, was zugegeben mehr als deprimierend ist. Ich bin froh, dass ich den Job als Reinigungskraft habe, aber mal abgesehen von dem Mindestlohn, macht es nicht sonderlich viel Spaß. Ich beneide meine Kollegin, die putzen liebt, für ihre gute Arbeit jedoch viel zu wenig gezahlt bekommt.
Tatsächlich habe ich eine neue Mail, die ich sofort öffne, jedoch sofort mit der Enttäuschung kämpfen muss.
Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass wir Ihnen die Ausbildung in unserem Betrieb nicht ermöglichen können.
Eigentlich hätte ich es mir denken können. Wer will immerhin einen Knasti, der das Leben anderer aufs Spiel setzt? Natürlich will man so jemanden nicht am Arbeitsplatz haben, immerhin könnte man selbst oder die Angestellten ja das nächste Opfer sein. Zumal Diebstahl besonders ungern gesehen wird. Ich klappe den Laptop wieder zu, stelle ihn beiseite und überlege fieberhaft, wo ich mich noch bewerben könnte.
Aufgeben ist definitiv keine Option, allein schon, weil ich endlich einen größeren Teil zur Miete beitragen und Kayla so entlasten will.
Wenn ich einen besseren Beruf hätte, könnte sie sich vielleicht die Schuhe leisten, die sie so schön findet oder einfach mal vernünftig essen.
Andererseits gibt es auch noch eine andere Option, die dies zumindest für diesen Monat ermöglichen könnte...
Ich laufe zur Küche, in der Kayla gerade ihre Cornflakes nach einer anstrengenden Schicht verspeist, lasse mich gegenüber von ihr nieder und blicke sie intensiv zu ihr.
„Warum schaust du mich so an?", fragt sie skeptisch und schiebt sich einen weiteren Löffel in den Mund.
„Wir machen es nochmal."
Offensichtlich weiß sie sofort, was ich meine.
„Echt jetzt? Heute Abend?" Ihre Augen weiten sich erfreut, während sie mich erwartungsvoll anblickt.
Kayla hatte bereits nach dem letzten Mal zu verstehen gegeben, dass sie keine Probleme damit hätte, wenn diese Situation zur Normalität wird.
„Heute Abend. Wenn du dabei bist", gebe ich zurück.
„Du Dummerchen, natürlich bin ich dabei, was denkst du denn?"
Sie lacht auf und knallt das Schälchen samt Löffel in die Spüle und stürmt daraufhin schon in unser Zimmer.
„Die Nachbarn denken noch wir reißen ab", brülle ich hinterher. Wobei sie sich bei ihrem Lärm eigentlich nicht beschweren dürften.
Während Kayla mit ihrem Kleid ins Badezimmer verschwindet, um sich zu schminken, hole ich erneut das rote Kleid aus dem Schrank. Ich streife es über und flechte mir kurz darauf die Haare, um später die Perücke aufzuziehen. Bei jedem Blick in den Spiegel muss ich wieder an Lorena denken und mit dem aufkommenden Hass in mir kämpfen. Dabei will ich sie gar nicht hassen. Ich will, dass sie mir egal ist. Und vor allem will ich sie nie wiedersehen. Für mich ist sie gestorben.
Auch heute schminkt Kayla mich, sogar noch dramatischer als das letzte Mal. Diesmal sind wir jedoch so schlau, die Kontaktlinsen vorher einzusetzen.
Ich ziehe meine Lippen mit dem roten Lippenstift nach und ziehe die schwarze Perücke über, während Kayla mit ihren Schuhen kämpft. Da sie abgelenkt ist, nutze ich den Moment und nehme jedes Detail ihres Aussehens in mich auf. Kayla ist unglaublich attraktiv. Wenn ich ein Mann wäre, würde ich mich vermutlich sofort verlieben.
Wenige Minuten später stehen wir bereit zum Aufbruch im Flur, kurz davor ein neues riskantes Abenteuer zu beginnen.
„Ist es eigentlich verwerflich, dass ich mich darauf freue andere zu beklauen?", platzt es völlig unerwartet aus Kayla hinaus.
Ehrlich gesagt wundert mich ihre Frage, denn die Antwort ist ziemlich eindeutig.
„Ich denke schon."
Sie nickt nachdenklich und drückt die Türklinke herunter, woraufhin wir, trotz der hohen Schuhe, in schnellem Tempo die Treppen hinunter gehen. Draußen angekommen atme ich erleichtert auf und hake mich bei Kayla unter, deren Mund sich daraufhin zu einem warmen Lächeln hochziehen.
Ihr ausgeprägtes Lippenherz hat sie leicht mit Lipliner übermalt, wodurch die Form ganz anders als sonst aussieht.
Wir gehen denselben Weg wie beim letzten Mal, jedoch ist die Aufregung heute bei weitem nicht so präsent und stechend.
Mein Herz schlägt ruhiger und meine Gedanken schwirren weniger schnell in meinem Kopf umher.
Es ist fast schon traurig, wie schnell wir uns an neue Dinge gewöhnen, egal wie gut oder schlecht sie nun sind. Tief in mir weiß ich, dass es alles andere als richtig ist und doch tue ich es trotzdem.
Die schlecht beleuchteten Straßen, dunklen Häuser und die Fahrt mit der Bahn ziehen wie im Flug an mir vorbei, sodass wir nach kurzer Zeit schon vor dem Lazos stehen.
Ich lasse Kayla kein einziges Mal los und auch sie scheint sich an mir festzuklammern. Wir sind die Konstante im unbeständigen Leben des anderen.
Die Schlange ist erneut sehr lang. Auf das Warten habe ich nicht sonderlich Lust, aber je voller der Club, desto besser unsere Chancen.
Ich verbringe die Zeit damit, mir Geschichten für die Leute auszudenken, die vor uns stehen. Neben einer Gruppe Jugendlicher, die recht leger gekleidet sind, steht eine Gruppe Anfang zwanzig Jähriger, von denen die Männer in Hemden und die Frauen in aufreizenden Outfits gekleidet sind. Wir schließen Wetten ab, ob die Jugendlichen reinkommen oder nicht. Kayla sagt ja, aber ich bin da anderer Meinung.
„Ha, ich hatte recht!", kommt es längere Zeit später von ihr, als sie tatsächlich hineingelassen werden. Das muss ein Witz sein. Ich hasse es zu verlieren. Vor allem hasse ich aber, dass Kayla mir ihren Sieg noch die nächste Woche vorhalten wird.
„Hör auf mich so triumphierend anzuschauen." Es macht mich rasend, wenn sie es mir so offensichtlich unter die Nase reibt.
Kaylas Lippen bleiben daraufhin versiegelt, bis wir schließlich an der Reihe sind. Sebastian begrüßt uns grimmig und lässt uns, bevor ich auch nur irgendetwas sagen muss, durchgehen.
Ich hatte mit vielem gerechnet, aber damit sicherlich nicht.
Beim Reingehen muss mein Körper sich zunächst wieder an die Lautstärke und an das gedimmte Licht gewöhnen. Die Realität der Außenwelt spielt hier wirklich keine Rolle mehr. Mit Adleraugen scanne ich meine Umgebung ab und entdecke dabei auch die Gruppe von draußen, die noch schüchtern weiter hinten stehen und tanzen. Sobald mehr Alkohol fließt dürfte sich das ändern. Das unschuldig aussehende hübsche Mädchen mit den Locken ist bestimmt einer der Ersten, die auf den Hockern tanzen.
An der Bar ist gerade vergleichsweise wenig los, weswegen ich beschließe mich unter die Leute auf der Tanzfläche zu mischen. Sie bewegen sich zu Black Music und lassen die Hüften schwingen.
Ich drehe mich nach der Suche auf Kayla um und erkenne, dass sie von einem großen Typen angetanzt wird, den sie jedoch freundlich abweist. Stattdessen platziert sie sich am Rand der Fläche und zeigt mit dem Daumen nach oben, als sie sieht, dass ich sie beobachte.
Nachdem ich eine gute Position gefunden habe, bewege ich meinen Körper zum Takt der Musik, während meine Augen aufmerksam die Umgebung absuchen. Es ist unglaublich zu sehen, wie Menschen, die sich seit wenigen Minuten kennen, fast Trockensex inmitten als dieser Masse haben.
Mich stört es nicht, aber diesen Mut hätte ich auch gerne.
Gerade als ich beschließe einen schlaksigen Kerl, der ziemlich reich und ziemlich betrunken aussieht, anzutanzen, bemerke ich eine schlanke Figur ganz nah neben mir.
„Du siehst toll in dem Kleid aus", brüllt eine Frau über die Musik hinweg, die ungefähr in meinem Alter sein dürfte. Da ihr Mund so nah an meiner Nase ist, rieche ich sofort den Alkohol.
Ich bedanke mich und checke sie währenddessen unauffällig ab, als mein Blick erfreut an ihrem Tiffany & Co. Armband hängen bleibt. Die Dinger sind sauteuer. Vielleicht habe ich Erfolg bei ihr.
Ihre Haare sind hellbraun und schulterlang. Sie ist ein wenig kleiner als ich, aber ihre Figur ist kurviger. Ihre Finger sind voller Ringe und ein Septum-Piercing schmückt ihre Nase. Sie ist hübsch. Ihr Körper schmiegt sich von hinten an meinen und um ehrlich zu sein, macht es Spaß mit ihr zu tanzen. Sie ist nicht aufdringlich oder unangenehm und ihr Parfüm riecht wirklich gut.
„Ich bin Stella. Und ziemlich gay, wie man offensichtlich sehen kann", teilt sie mir lachend mit, wobei zu hören ist, dass ihre Zunge durch den Alkohol deutlich an Gewicht zugenommen hat.
„Raquel", gebe ich zurück und lächle sie ebenfalls an.
Stella scheint sehr nett zu sein. Fast tut es mir leid, was ich mit ihr vorhabe, aber dann denke ich an die über achthundert Euro, die uns noch fehlen. Und an Kayla, die in unsrem Zimmer weint und denkt, ich würde es nicht hören. Es wird sie schon nicht umbringen.
Falls ich aus unerfindlichen Gründen reich werden sollte, zahle ich es ihr auch doppelt zurück.
„Toilette", formt sie mit den Lippen und bewegt sich in Richtung dieser, weswegen ich ihr folge.
Sofort muss ich an Nick und seinen groben Mund denken. Da ist mir Stella um einiges lieber. Während sie in der Toilette verschwindet, warte ich draußen und überlege mir, wie ich zum wesentlichen Teil kommen kann.
Es wäre das erste Mal, dass ich auf diese Art mit einer Frau in Kontakt trete und das macht mir ehrlich gesagt ein wenig nervös. Mein Vater hatte mir und meinen Geschwistern immer lang und breit erklärt, dass es unnatürlich sei und er uns rausschmeißen würde, wenn einer von uns nicht hetero ist. Das hinterlässt Spuren. Wegen solcher Worte hatte ich mir nie den Gedanken erlaubt, dass ich nicht heterosexuell sein könnte. Bevor ich mir weiter den Kopf über seine hässlichen Worte zerbreche, kommt Stella aus der Toilette herausgetorkelt und bleibt sehr nah vor mir stehen. Ihre Lippen berühren fast meine, während sie spricht.
„Weißt du, normalerweise mach' ich sowas nicht unbedingt, aber du bist hübsch, ich bin hübsch und so jung, dass ich noch dumme Entscheidungen treffen muss."
Mit diesen Worten presst sie ihre vollen Lippen auf meine und drückt mich leicht gegen die Wand. Eine ihrer Hände legt sich auf meine Hüfte, während sie die andere in meinen Nacken legt.
Sie kann verdammt gut küssen, aber ich darf mich nicht vom Wesentlichen ablenken lassen. Meine Hände gehen auf Wanderschaft, während ich den Kuss vertiefe. Stella seufzt leise auf und drückt sich noch ein wenig fester gegen mich.
Das leichte Pochen zwischen meinen Beinen verrät, dass ich das hier alles andere als schlecht finde, aber ich zwinge mich zur Besinnung. Mit einer flinken Bewegung löse ich das Armband und lasse es unauffällig in Kaylas Hand fallen, die in diesem Moment dicht an uns vorbei geht und in den Toiletten verschwindet. Da das Armband mehr als teuer ist, beschließe ich es dabei zu belassen.
Stella lässt ihre Lippen von meinem Hals erneut zu meinem Mund wandert und küsst mich verlangend. Ich vertiefe den Kuss und genieße den Moment, während ich darauf warte, dass Kayla auftaucht und wir verschwinden können. Ein Teil von mir würde die Sache mit Stella gerne weiterführen, doch der vernünftige Teil in mir bleibt professionell.
Es vergehen weitere Minuten, von Kayla ist jedoch immer noch nichts zu sehen. In mir kommt langsam Panik auf, die durch schlimme Befürchtungen entsteht. Ich hätte daran denken müssen. An alles habe ich gedacht, nur nicht daran, was auf Clubtoiletten getrieben wird. Und dass es sie triggern könnte. Ich hoffe inständig, dass ich falsch liege.
Gerade als ich mich von Stella lösen will, um nachzusehen, kommt Kayla aus der Toilette heraus, was mein Zeichen ist das Ganze zu beenden und abzubauen. Ich versuche an dem Ausdruck meiner besten Freundin zu erkennen, ob etwas vorgefallen ist, doch sie hat ihr Pokerface aufgesetzt, das nicht einmal ich durchschauen kann.
Mit einem kurzen Kuss verabschiede ich mich von Stella und verschwinde daraufhin in der Menge, wo Kayla zu mir stößt. Ich versuche nicht an Stella zu denken, die vermutlich verwirrter als meine demente Oma ist, bevor sie starb. Sie tut mir wirklich leid, hoffentlich nimmt sie es uns nicht allzu krumm, falls sie dahinter kommt.
Gemeinsam verlassen wir den Club und versuchen schnellstmöglich die Wohnung zu erreichen, was uns auch gelingt. Kayla ist auffällig ruhig, was mich mehr als beunruhigt. Auch sie muss heute noch mit der Vergangenheit kämpfen und ich hoffe sehr, dass sie nicht verloren hat. Sie hat so viel Besseres verdient. Trotzdem möchte ich sie nicht drängen und hoffe, dass sie mit mir redet, wenn sie dazu bereit ist.
„Ganz ehrlich, mit der hätte ich noch ganz andere Dinge angestellt als ein bisschen rumzumachen", durchbricht sie schließlich die Stille, während ich die Wohnungstür aufschließe.
„Es war schon nicht schlecht", gebe ich zu und kann nicht verhindern, dass sich meine Lippen zu einem anzüglichen Grinsen verziehen.
„Mit mir wäre es noch besser."
Ich schaue verwirrt und leicht geschockt zu meiner besten Freundin, die mich jedoch nicht weiter beachtet. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, sie hätte gerade nicht diesen Witz gerissen. Bevor ich etwas darauf erwidern kann, lässt Kayla die nächste Bombe platzen.
„Ich war kurz davor rückfällig zu werden."
In diesem Moment scheint mein Herz stehen zu bleiben und meine Gedanken auszusetzen. Ich muss mich beruhigen. Immerhin ist sie nicht rückfällig geworden. Sie war nur kurz davor. Mit aller Kraft versuche ich die Erinnerungen an Kaylas Überdosis und ihren kalten Entzug zurückzudrängen. Den gequälten und getriebenen Ausdruck in ihren Augen, wenn sie nicht high war. Wobei die Highs noch viel schlimmer waren. Weil ich jedes Mal Angst hatte, dass es ihr letztes ist. Dass ich sie verliere. Von Kayla weiß ich, dass man den Kampf nicht gewinnt oder die Sucht vollständig besiegt. Sie muss jeden Tag aufs Neue kämpfen. Gerade im Moment muss es unglaublich schwer sein, wenn die Realität ein einziger Alptraum ist, aus dem man nicht einfach aufwachen kann.
Mittlerweile sind Kaylas Augen auf mich gerichtet, doch sie schaut durch mich hindurch. Vermutlich hat der Vorfall sie zurück in die Vergangenheit versetzt. Ich war noch nie in meinem Leben auf Drogen, weswegen ich mir nicht vorstellen kann, wie es sich anfühlen muss das alles durchmachen zu müssen. Auch während der Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter war ich nicht dabei. Nicht an dem Tag, an dem sie rausgeschmissen wurde und auch nicht an den anderen. Ich weiß nur, dass sie verweint, auf Heroin und mit einer blauen Wange vor unserer Tür stand. Das Verhältnis zu ihrer Mutter war schon immer schlecht, doch an diesem Tag ist wohl alles eskaliert. Dabei sollten die Eltern doch die Personen sein, die einen am meisten lieben und unterstützen. Ihren Vater hat Kayla nie kennengelernt. Geschwister hat sie auch nicht.
Ich gehe auf sie zu und schließe meine Arme fest um ihren zierlichen, aber starken Körper. Manchmal wünschte ich, dass ich ihre Stärke hätte. Es gibt keinen Menschen, den ich so sehr bewundere. Es dauert ein paar Sekunden, bis sie schließlich ihre Arme auch um mich schlingt und sich ein herzzerreißender Schluchzer aus ihrer Kehle löst. Ich verfestige meinen Griff und halte sie einfach.
Wir stehen bestimmt zehn Minuten in diesem Flur, bis Kayla sich von mir löst und erschöpft über ihre Augen wischt. Ich hasse es sie so zu sehen. Ihr Blick ist derartig leer, dass es mir fast Angst einjagt.
Als ich einen Schritt zurücktrete, um sie in unser Zimmer zu bringen, sehe ich, dass wohl jemand sein Getränk verschüttet hat und der Inhalt auf meiner besten Freundin gelandet ist. Ich rieche daran und verziehe angeekelt die Nase, da es widerlich süß riecht und zudem verdammt klebrig ist. Warum ist es mir den ganzen Weg über nicht aufgefallen?
„Willst du duschen?"
Kayla beantwortet meine Frage bloß mit einem schwachen Nicken, sodass ich sie im Bad auf die Toilette setze und in der Zwischenzeit frische Kleidung aus dem Schrank hole. Als ich zurück ins Badezimmer komme, sitzt sie mit angezogenen Beinen vor der Wanne und starrt Löcher an die Wand. Ich hocke mich vor sie, was ihre Aufmerksamkeit auf mich lenkt. Sie wirkt so gebrochen. Alles in mir zieht sich schmerzhaft zusammen.
„Soll ich dir helfen?"
Erneut bekomme ich nur ein Nicken zur Antwort. Ich ziehe die Perücke von ihrem Kopf, entflechte die Haare und bringe sie dazu ihre Kontaktlinsen herauszunehmen, bevor ich sie abschminke. Mit den feuchten Tüchern streiche ich sanft über ihre Stupsnase, die definierten Lippen und die kleinen Sommersprossen auf ihren Wangen. Über das Muttermal unter ihrem Auge und über die geschwungenen Augenbrauen. So lange, bis alles entfernt ist. Ich merke, wie sich Kayla langsam etwas entspannt, aber sich immer noch in einer anderen Welt zu befinden scheint.
Während ich das Kleid über ihren Kopf streife, lasse ich warmes Wasser in die Wanne und danke den Göttern, dass heute ausnahmsweise mal nicht nur kaltes kommt. Ich helfe ihr dabei die Unterwäsche auszuziehen, sodass Kayla schließlich in die Badewanne krabbeln kann. Sie taucht komplett unter Wasser und kommt erst nach gefühlten Stunden nach oben, als ich kurz davor bin sie hochzuziehen. Sie setzt sich hin und zieht erneut die Beine an ihren Körper, welche sie mit ihren Armen umschließt. Ich nehme etwas Shampoo und beginne es in ihre Haare zu massieren, während ich vor der Badewanne auf den kalten Fliesen kniee. Was würde ich dafür tun, etwas von ihrem Schmerz nehmen zu können.
„Als ich rein kam, stand dort eine kleine Mädchengruppe. Eine von ihnen ließ ein durchsichtiges Tütchen mit kleinen Pillen herumgehen. Wahrscheinlich LSD oder sonst irgendeine Scheiße."
Ich halte in meiner Bewegung inne und lausche gespannt ihren Worten. An dem stockenden Laut ihrer Worte ist deutlich zu erkennen, wie schwer ihr das gerade fällt. Trotzdem bin ich unendlich dankbar, dass sie mit mir spricht. Ich möchte für sie da sein können. Ihr Halt geben.
„Du glaubst mir gar nicht, wie sehr mir einer abgegangen ist... Dabei mag ich LSD nicht einmal", gibt sie verzweifelt zu. „Ich stand wie erstarrt da, konnte den Blick nicht mehr abwenden und mein Kopf war wie leer gefegt. Ich hab angefangen zu schwitzen, mein Mund wurde ganz trocken und scheiße, hätte ich gerne nach der Tüte gegriffen und mir das Zeug eingeworfen. Den Rausch gespürt. Einfach alles andere vergessen. Und das, obwohl ich schon so lange clean bin..."
Mittlerweile laufen ihr einzelne Tränen die Wangen hinunter, woraufhin ich sie fest in meine Arme schließe, in der Hoffnung ihr wenigstens etwas Geborgenheit und Kraft schenken zu können. Kayla weint nicht oft und wenn sie es tut, dann nicht ohne Grund. Es ist mir egal, dass ich komplett nass werde. Es ist mir egal, dass meine Knie schmerzen und die Kontaktlinsen in meinen Augen brennen. Nur Kayla zählt.
„Ich will doch einfach nur normal leben können, ist das denn zu viel verlangt?! Die Drogen haben mir mein ganzes Leben zerstört. Sie haben mich aus meiner Familie gestoßen, mich beinahe umgebracht, eine bessere Schulausbildung zerschlagen. Und das alles nur, weil ich so feige und schwach bin."
Ihr Körper bebt heftig, während laute Schluchzer die erdrückende Stille zerreißen.
„Und trotzdem war ich so kurz davor wieder zu diesen Dingern zu greifen. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass du draußen wartest, hätte ich es wahrscheinlich getan. Dabei hätte ich die Mädchen doch anschreien sollen die Scheiße zu lassen, sich ihr Leben nicht genauso kaputt zu machen wie ich." Kaylas Stimme klingt heiser, rau und einfach nur ausgelaugt. Sie kann nicht mehr. Obwohl wir schon so oft über ihre Drogensucht geredet haben, weiß ich jedes Mal nicht, was ich sagen soll. Ich will es nicht schlimmer machen, aber ihr auch nicht das Gefühl geben, dass ich sie bemitleide. Deswegen sage ich nichts und halte sie bloß fest.
Du kommst an die falschen Freunde und zack, dein ganzes Leben ist im Arsch. Deine Familie lässt dich sitzen, du schaffst gerade noch so den Hauptschulabschluss, obwohl du alles andere als dumm bist. Du bekommst einen Stempel aufgedrückt, den du nicht mehr los wirst und dein Leben lang verfolgt dich dieser eine Augenblick, der alles verändert hat. Der dich zu dem gemacht hat, was du heute bist, aber eigentlich gar nicht sein willst.
„Ich gehe morgen zu einem Treffen. Ich will nicht nochmal den gleichen Fehler machen", teilt sie mir nach einigen Minuten nun ruhiger mit.
„Das ist eine gute Idee." Ich drücke meine Lippen auf ihren nassen Scheitel und streiche sanft über ihre Haare. „Soll ich dich begleiten?"
„Nein, ich gehe lieber allein."
Ich war nie ein Mensch der großen Worte, doch ich weiß, dass es Kayla schon reicht. Sie verlangt nie von anderen.
„Danke, dass du da bist", flüstert sie in die Stille und dreht sich so zu mir, dass ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt ist. Ich fokussiere mich vollkommen auf ihre haselnussbraunen Augen, die immer noch glasig sind, doch nun endlich wieder Wärme ausstrahlen. Ich habe in meinem Leben noch keine schöneren Augen gesehen. Sie erinnern mich an das grüne Blätterdach, wenn die Sonne hindurch scheint und an Honig. An den lauen Sommerwind und an Waldspaziergänge. Daran, wie es sich anfühlt glücklich zu sein.
„Ich hab dich so unendlich lieb", kommt es schließlich fast schon verzweifelt von Kayla.
„Ich dich auch."
Sie legt ihre Lippen auf meine Wange und streicht mit ihren Fingern über die andere, bevor sie aus der Wanne steigt, sich abtrocknet und in unserem Zimmer verschwindet. Ich nutze die Chance und bade ebenfalls, wenn schon einmal Wasser in der Wanne ist. Es ist mittlerweile kalt, aber es macht mir nichts aus. Ich bin es gewöhnt.
Mit nassen Haaren und frischer Kleidung schleiche ich schließlich in unser Zimmer und krieche unter die Decke zu Kayla, die bereits schläft.
Dabei werde ich jedoch dieses komische Gefühl nicht los, das sich in meiner Magengrube festgesetzt hat, als meine beste Freundin mich nackt und mit nasser Haut über den Rand der Badewanne hinweg angeschaut hat.
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