Kapitel 7
„Ob du es glaubst oder nicht, ich habe die ganze Nacht von dieser Pasta in Champagner-Garnelen-Soße geträumt. Du weißt, dass eigentlich fast nichts meine Liebe für Pizza übertrifft, aber mit ihr würde ich durchaus eine kleine heiße Affäre eingehen."
Kayla legt den Kopf in den Nacken und schließt die Augen, wobei die Geräusche aus ihrem Mund denen gleichen, die wir zu hören bekommen, wenn unsere Nachbarn ihre Auseinandersetzungen mit Versöhnungssex aus der Welt schaffen.
Ich schmunzle vor mich hin, achte aber im Gegensatz zu Kayla darauf, beim Überqueren der Straße nicht von einem Verkehrsmittel erfasst zu werden.
„Ich sollte nicht zu sehr an meine beiden Schätze denken, das führt nur zu Herzschmerz... Apropos Schmerzen, heute musst du die schwere Tüte tragen, ich war schon das letzte Mal dran", reibt Kayla mir mit einem triumphierenden Grinsen unter die Nase.
Ich kann jetzt schon spüren, wie die Henkel in meine Finger eindrücken und sie beinahe alle abfallen. Vielleicht sollten wir mal einen Einkaufswagen stehlen. Nur würde es uns wahrscheinlich eine Menge seltsamer Blicke einbringen, wenn wir damit durch die Stadt laufen.
Heute ist wieder einmal der wöchentliche Einkauf dran, sodass Kayla und ich mit Tüten bepackt auf dem Weg zum Supermarkt sind. Anfangs hatten wir uns jedes Mal gestritten, wer die schwerste Tüte tragen muss, weswegen wir zu der Regel gekommen sind, uns abzuwechseln.
So sparen wir jedes Mal die zwanzig Minuten, die wir sonst diskutieren.
„Eigentlich müssten wir Darian das nächste Mal zu uns einladen. Wir können schließlich ab jetzt nicht immer bei ihm rumhängen", kommt es nachdenklich von Kayla, die angewidert auf den halb entblößten Hintern des Mannes vor uns starrt. Manche haben das mit dem Hose hochziehen noch nicht so richtig verstanden.
„Ich will ihn nicht zu uns einladen. Zumindest noch nicht."
Sie nickt verstehend und hakt nicht weiter nach.
Kayla kennt mich gut genug, um zu wissen, dass es mir unangenehm ist. Gleichzeitig ärgert es mich, dass es mir unangenehm ist. Sie arbeitet so hart dafür, damit wir beide ein Dach über dem Kopf und ein Bett haben, in dem wir schlafen können. Wir sind nicht faul und wir wollen ein Leben wie jeder andere mittelständige Bürger führen. Uns fehlen nur eben die Mittel.
Dafür sollte ich mich nicht schämen müssen.
Doch trotzdem vergleiche Darians Wohnung und seinen Lebensstil mit unserem und kann nicht anders, als mir seine geschockte und angewiderte Reaktion vorzustellen, wenn er das Treppenhaus betritt und ihm der widerliche Geruch entgegen strömt.
Die Angst, dass er sich doch nicht mehr mit uns treffen möchte, wenn er das wirkliche Ausmaß sieht, ist einfach zu groß.
Bevor ich mir weiter den Kopf darüber zerbrechen kann, gelangen wir zu dem Supermarkt und betreten diesen. Er ist nicht weit von unserer Wohnung entfernt, aber auch dementsprechend... ranzig.
Die Türen öffnen sich mit einem lauten Quietschen automatisch, auch wenn der Sensor nicht mehr besonders gut funktioniert. Sofort kommt uns ein Schwall warmer Luft entgegen und ich scanne das Innere ab. Da wir meist vormittags einkaufen, halten sich wenige und eher ältere Menschen im Laden auf. Ich hasse es, wenn wir zu lange in der Schlange stehen müssen und der Hintermann einem den Einkaufswagen fast in die Haken schiebt.
Wie bei jedem unserer Einkäufe, schlage ich als erstes den Weg zu den Tütensuppen ein, während Kayla nach Konserven, Toast und Aufstrich schaut.
Bevor wir losgehen, studieren wir immer die Angebote im Prospekt, um so viel wie möglich sparen zu können. Durch den starken Anstieg der Preise, bringt aber auch das nicht mehr besonders viel im Vergleich zu vorher. Wenn wir die Lebensmittel nicht unbedingt brauchen würden, würde ich sie aufgrund des Preises auch gerne weglassen.
Ich lasse fünf Packungen in die Tüte fallen und versuche nicht allzu sehr über das Geld nachzudenken, was nach diesem Einkauf schon wieder weg ist. Den Weg zu den Getränken kann ich mir immerhin sparen, da wir das Wasser aus dem Hahn trinken. Nicht besonders gesund, wie ich mal gelesen habe, aber um einiges günstiger. Zumal ich mir überhaupt nicht die Diskussionen vorstellen möchte, wer den Pack tragen muss.
Ich laufe sehnsüchtig am Gemüse und an der Fleischtheke vorbei, während ich mich auf der Suche nach Kayla mache. Sie steht gerade vor einer Tafel Schokolade, die drei Euro kostet und kämpft stark mit den Tränen. Immerhin sehe ich, dass sie ihre Lieblingspizza schon eingepackt hat.
„Ich hab sie früher immer so gerne gegessen", sagt sie wehleidig und schlendert schließlich zur Kasse, an der keine Schlange steht.
Erleichtert atme ich auf und lege die Ware auf das Band. Sofort beginnt das Wettrennen mit der Zeit als die Kassiererin auch schon mit dem Abscannen beginnt. Kayla schmeißt alles in unsere Tüten, während ich, mit Schweiß auf der Stirn, die restlichen Artikel auflege. Bei jedem Piepsen schmerzt mein Herz ein wenig mehr und als ich am Ende die Summe sehe, würde ich am liebsten heulen.
Zweiundfünfzig Euro und achtundvierzig Cent.
Wir essen beide möglichst wenig und kaufen günstig ein. Nur das nötigste. Fünfzig Euro sind verdammt viel. Und das jede Woche. Wenn ich an die ganzen Familien mit randvollen Einkaufswagen denke, dreht sich mir der Magen um. Gott sei Dank hat keiner von uns ein Kind.
Widerwillig kramt Kayla den Geldbeutel heraus, bezahlt und nimmt die leichtere Tüte, sodass ich mir die schwerere und noch eine weitere schnappe. Den Zettel nehme ich wie immer mit, um ihn am Ende kontrollieren zu können.
Draußen kühlt die frische Luft meinen erhitzten Kopf ein wenig ab und ich sauge sie gierig in meine Lunge. Drinnen ist es immer so unglaublich stickig.
„Wie können gute Lebensmittel oder Lebensmittel im Generellen eigentlich so unglaublich teuer sein?! Ich meine, ist ja nicht so als bräuchte man die Scheiße zum Überleben", regt Kayla sich erneut auf.
So läuft es eigentlich jede Woche. Und jede Woche höre ich ihr zu und sage jedoch nichts, da sie recht hat, aber daran nichts zu ändern ist. Ich habe es vor einer langen Zeit aufgegeben, mich über Dinge aufzuregen, die ich nicht ändern kann. Meine Energie kann ich anderweitig verschwenden.
„Leute wie wir sind ihnen egal. Geld regiert die Welt. Scheiß doch auf die armen Schlucker, die sich von Müll ernähren müssen und dann später auch noch die gesundheitlichen Konsequenzen tragen müssen. Was würden viele bloß ohne Tafeln und Freiwillige machen?"
Sie schnauft wütend und tritt energisch eine leere Dose vom Bürgersteig, die neben einem der Mülleimer stand. Früher hätte ich mich ebenfalls Stunden darüber aufregen können, doch mittlerweile bin ich erschöpft und entmutigt. Entmutigt, dass irgendwann auch nur irgendetwas besser wird.
Gerade als wir in die nächste Straße einbiegen wollen, ist diese durch Polizei versperrt. Vielleicht gab es eine Auseinandersetzung oder irgendjemand wurde wieder abgestochen. Oder ein Elternteil hat seine Kinder vom Balkon geschmissen.
„Lass uns außen rum gehen", schlage ich vor, was Kayla bejaht.
Normalerweise hätte ich mich wahrscheinlich trotzdem durchgeschlichen, da ich keine Lust habe noch ewig mit den Tüten rumzulaufen. Doch das Haus, in dem ich mit meiner Familie lebte, ist hier ganz in der Nähe und ich war schon lange nicht mehr dort. Das letzte Mal, um genau zu sein, an dem Morgen, als ich festgenommen wurde. Kayla war ein paar Mal dort, da sie versucht hatte Kontakt zu meinem Vater aufzubauen, doch dann musste sie feststellen, dass sie ausgezogen waren.
Als sie mich besuchte und mir davon erzählte, ist eine Welt für mich zusammengebrochen. Meine Welt ist zusammengebrochen.
Ich lasse meinen Blick an den Häusern vorbeischweifen, denn ich weiß, dass es gleich auftauchen muss. So viele Erinnerungen und Gefühle sind mit diesem Haus verbunden. Ich bin dort aufgewachsen. Meine Mutter ist dort gestorben. Ich hatte mich sicher und daheim gefühlt.
Als ich es erblicke, bleibe ich für einen Moment wie erstarrt stehen, meine Augen auf das erleuchtete Fenster geheftet, in dem schon so lange kein Licht mehr geschienen hat. Das Haus stand die letzte Zeit leer. Niemand wohnt dort.
„Sie sind da! Sie sind wieder da, Kayla."
Mein Brustkorb hebt und senkt sich heftig, meine Hände zittern und ein Schauer läuft mir den Rücken herunter. Ich wische die schwitzigen Handflächen akribisch an meiner Jeans ab, doch sie sind sofort wieder feucht. Sie müssen es einfach sein, bestimmt sind sie zurückgekommen, weil ich entlassen wurde. Vielleicht kann ich Elian wiedersehen. Vielleicht können Kayla und ich wieder gemeinsam mit ihnen leben. Alles könnte so viel besser sein. Ich stehe wie angewurzelt an einer Stelle und starre auf die Lampe, die unsere ehemalige Küche beleuchtet. Die Möbel sind noch dieselben, das kann ich ganz deutlich erkennen. Es sind die hellblauen Schränke, die meine Mutter damals ausgesucht hatte.
Plötzlich erscheint ein hellbrauner Schopf im Fenster. Sofort lasse ich die Einkaufstaschen fallen und bewege mich mit schnellen Schritten auf die Haustür zu. Ich muss mit ihm sprechen. Ihm alles erklären und ihn in meine Arme schließen. Ich habe meinen kleinen Bruder so sehr vermisst. Er muss es sein, diese Haare würde ich überall erkennen.
„Adela! Bleib stehen! Verdammte Scheiße."
Ihre Schritte ertönen dumpf im Hintergrund, doch es interessiert mich nicht. Sie sind wieder da und ich muss zu ihnen gehen. Tränen brennen in meinen Augen, meine Luftzufuhr besteht nur noch aus Schnappatmungen, aber das Gefühl, welches ich verspüre, ist überwältigend. Hoffentlich hat er mich so sehr vermisst wie ich ihn. Hoffentlich glaubt er mir die Wahrheit.
An der Haustür angekommen, drücke ich mit zittrigen Fingern auf die Klingeln. Die Anspannung scheint mich zu zerreißen. Jetzt kann alles wieder gut werden. Mit großen Augen starre ich auf die weiße Tür, kaum dazu in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen. In meinem Kopf dreht sich alles nur um meinen kleinen Bruder.
Als sich die Tür endlich öffnet, fällt mein Blick zuerst auf die hellbraunen Haare, dann auf das unbekannte Gesicht und kurz drauf auf die schwangere Frau im Hintergrund, die verwirrt zu mir schaut.
„Kann ich Ihnen behilflich sein?", fragt der fremde Mann sichtlich verwirrt. „Sie sehen nicht gut aus, junge Dame. Brauchen Sie Hilfe?"
Alles, was sich noch vor ein paar Sekunden in mir zusammengefügt hat, zerbricht wieder. Mit einem Mal weicht all die Freude und Aufregung aus meinem Körper. Es ist als würde sich eine schwere, schwarze Decke auf mich legen, die all die Luft aus meinem Körper presst und mir es nicht erlaubt zu atmen.
„Es- Es tut mir leid", stottere ich, wende mich so schnell wie möglich ab und laufe zu Kayla.
Das schwarze Langarmshirt klebt nass an meinem Oberkörper, der kalte Wind umschlingt mich, lässt mich erfrieren. Mein Herz scheint nicht mehr zu schlagen, meine Beine drohen nachzugeben und am liebsten würde ich hier an Ort und Stelle zusammensinken und nie wieder aufstehen. Das Atmen einstellen. Ich falle in dieses tiefe Loch, von dem ich den Boden nicht sehen kann. Ich falle und falle und wünsche mir endlich aufzuschlagen, doch es geschieht nicht. Es ist wie Folter.
Kayla schließt mich fest in ihre Arme, versucht mich zu beruhigen und legt ihre Jacke über meinen gekrümmten Körper. Nach einer Weile löst sie sich wortlos von mir, nimmt beide Tüten und drängt mich sanft dazu loszugehen. Eigentlich will ich nicht, doch meine Beine tragen mich wie automatisch.
„Wir müssen nach Hause, du wirst noch krank", sagt sie mit sanfter Stimme, doch die Bedeutung ihrer Worte dringt nicht ganz zu mir durch.
Ich dachte wirklich, sie wären zurück. Wie blöd kann man sein? Vater hat mich verstoßen und allein gelassen, warum sollte er plötzlich seine Meinung ändern? Ich könnte mich selbst schlagen.
Ohne es auch nur bemerkt zu haben, kommen wir zu Hause an, wo Kayla schnell die Tüten abstellt und mich dann in unser Zimmer bringt. Sie streift das nasse Oberteil von meinem Körper, zieht mir ein neues an und setzt sich auf den Boden neben das Bett, während ich mich auf diesem wie ein mickriger Haufen Scheiße zusammenkauere. Ich hasse, wie ich fühle. Ich hasse, dass ich mich so verhalten habe und so naiv war. Ich hasse, dass Kayla mich ertragen muss. Ich hasse mich.
„Ich dachte sie wären wieder da... Ich dachte, ich hätte ihn endlich wieder."
Die salzigen Tränen rinnen nun in Massen meine Wagen hinunter und mein Körper bebt unter den ganzen Schluchzern. Ich will nicht mehr. Ich will einfach nicht mehr. Alles ist unglaublich anstrengend und wofür? Jeder Tag ist eine Qual.
„Ich weiß. Aber sie sind weg, Dela."
„Weißt du wie es Papa und Elian geht? Ich habe sie noch kein einziges Mal gesehen. Ich vermisse Elian so unendlich. Es macht mich verrückt, nichts von ihm zu hören."
Ich schaue zu Kayla, die gegenüber von mir an einem Tisch im Besucherraum sitzt und mich besorgt anschaut. Sofort macht sich ein ungutes Gefühl in meiner Magengegend breit. Sie weiß etwas, dass ich ihrem Ausdruck nach zu urteilen besser nicht wissen sollte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt immer noch keine Antwort von ihr, was die Panik in mir immer größer werden lässt. Wenn meinem Bruder etwas zugestoßen ist... Das würde ich nicht überleben.
„Warum sagst du denn nichts?" Meine Stimme klingt um einiges schriller als beabsichtigt.
„Adela..." Mit jeder Silbe, die sie zögernd ausspricht, spannt sich mein Körper mehr an. „Sie- Sie wohnen nicht mehr dort. Es war vor ein paar Wochen... Ich wollte mit deinem Vater sprechen, aber als ich hingekommen bin, war das Haus leer. Sie sind ausgezogen... Ich hab wirklich alles versucht, um herauszufinden, wo sie hin sind, aber ich konnte nichts finden und niemand wusste etwas." Sie wartet darauf, dass ich etwas sage, doch ich bleibe still.
„Es tut mir so leid."
„Verarsch mich nicht, Kayla. Das ist absolut nicht lustig", ermahne ich sie schließlich, doch sie lacht nicht.
„Es tut mir so unendlich leid, Dela. Dein Vater verbietet Elian bestimmt den Kontakt zu dir. Der Typ war schon immer ein riesiger Flachwichser."
Das Blut rauscht in meinen Ohren. In meinem Kopf herrscht völlige Leere. Elian ist wie mein eigener Sohn. Nach Mamas Tod habe ich ihn großgezogen.
„Dann sag mir wenigstens, dass Elian die Briefe bekommen hat."
Meine beste Freundin drückt die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen, bevor sie langsam den Kopf schüttelt.
„Sie haben jeden einzelnen zurückgeschickt. Ungeöffnet. Ich denke dein Vater hat sie abgefangen."
Tief in mir verschwindet das letzte bisschen Hoffnung, das noch irgendwo in mir schlummerte. Erst Lorena und jetzt auch noch mein Vater. Sie sind daran schuld, dass ich Elian verliere.
Sie sind weg und vielleicht sehe ich ihn nie wieder.
„Weißt du denn wirklich nicht, wo sie hin sind? Hast du nicht doch noch etwas herausgefunden? Ich muss doch wissen, ob es ihm gut geht. Er ist mein kleiner Bruder", gebe ich mit brüchiger Stimme zurück.
„Nein." Kayla streicht behutsam über meine Wange und über mein Haar, hält mich fest und verhindert, dass ich noch weiter auseinanderfalle. Ohne sie wäre ich wohl nur noch eine leblose Hülle.
Ich drücke sanft ihre Hand, um sie spüren zu lassen, wie dankbar ich ihr bin. Das Bild von Elian und mir, welches auf der Fensterbank steht, scheint mich zu verspotten. Darauf ist er gerade mal zehn Jahre alt. Jetzt ist er fünfzehn.
Ich frage mich, wie er wohl heute aussieht. Wie groß er jetzt ist. Ob sich sein Gesicht stark verändert hat. Aber vor allem frage ich mich, ob es ihm gut geht. Unser Vater ist eine sehr schwierige Person.
All der unterdrückte Schmerz der letzten Monate und Jahre überflutet mich, drückt mich zu Boden und wenn ich könnte, würde ich am liebsten einfach aufgeben.
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