Kapitel 41
„Du hast ihm einfach eine geschallert", wiederholt Elian jetzt bestimmt schon zum fünften Mal immer noch ungläubig. Auch ich kann nicht wirklich fassen, dass Kayla tatsächlich den Mut dazu hatte und gleichzeitig berührt es mich ungemein, dass sie es für mich getan hat. Natürlich auch für meinen kleinen Bruder, der ja nach all den Jahren fast ihr eigener ist. Meine Freundin scheint ebenfalls noch leicht geschockt zu sein.
„Ich kann selbst nicht glauben, dass ich das echt gemacht habe. Ich sollte aufhören so viel Marvel zu schauen, ich werde noch zum Held." Elian und ich grinsen uns verstohlen an. Sie war schon immer unverbesserlich und ist es bis zum heutigen Tag. Vermutlich wird sie es auch bleiben.
Gemeinsam gehen wir an der stark befahrenen Straße entlang, die zu unserer Wohnung führt. Eigentlich sträubt sich alles in mir dagegen, dass Elian den Ort sieht, wo wir leben. Es ist kein passender für einen noch so jungen Menschen.
Immer, wenn ich die Kinder der Menschen sehe, die in unserem Block leben, würde ich am liebsten in Tränen ausbrechen. Es ist so unglaublich traurig, dass die meisten von ihnen auf die Welt kommen und sofort schlechtere Chancen haben. Viele von ihnen werden nie wissen, wie es ist, sich keine Sorgen um Geld machen zu müssen. Oder wie es ist, in einer stabilen Familie zu leben. Und dann sind da auch noch welche wie ich, die auf die schiefe Bahn gebracht werden oder von selbst auf diese geraten. Eine Schande, dass immer noch so wenig für Chancengleichheit getan wird.
Vor allem möchte ich jedoch auch nicht, dass Elian sieht, was aus uns geworden ist. Ich meine Kayla und ich haben überlebt. Wir haben einiges überlebt. Aber zu welchem Preis? Es ist mir peinlich, dass ich ihm nun nichts bieten kann. Hoffen wir, dass ihm unsere Liebe reicht.
Der graue versiffte Kasten bauten sich bedrohlich vor uns auf und kurz wünsche ich mir vom Boden verschluckt zu werden. Eigentlich sollte ich mich nicht dafür schämen. Es hätte immerhin noch viel schlimmer kommen können. Und viele der Menschen hier, arbeiten so unglaublich hart dafür, um ihren Kindern eine warme Mahlzeit bieten zu können. Aber ich hatte mehr von meinem Leben erwartet und wenn man diesen Anblick nicht gewöhnt ist, ist es doch erst einmal ein ganz schöner Schock. Ich greife nach Elians Hand und drücke sie einmal fest. Sein nicht wertendes Lächeln gibt mir den nötigen Ruck und ich führe ihn zum Eingang. Ich spüre Kaylas Hand auf meinem Rücken, über den sie ermutigend streicht und mir damit die Sicherheit gibt, die mir oft fehlt.
„Wie du siehst, ist es hier nicht besonders schön. Im Treppenhaus stinkt es immer ein bisschen und es ist ziemlich dreckig. Unsere Wohnung ist auch sehr klein und-"
Elian unterbricht mich, indem er seine Hand auf meinen Mund drückt und rollt dann mit den Augen.
„Es ist mir egal, Dela. Ich bin einfach nur froh, dass ich bei euch sein kann."
Mit diesen Worten zieht er an der alten Tür, die immer ein wenig klemmt. Da ich ihn unglaublich gut erzogen habe, hält er sie auf, sodass Kayla und ich als erstes eintreten können. Stolz bedanke ich mich und streiche über sein Haar, woraufhin er nur den Kopf schüttelt. Ich habe ihn so sehr vermisst.
An der Tür zu unserer Wohnung angekommen, krame ich die Schlüssel aus meiner Hosentasche und schließe auf. Sofort strömt uns der himmlische Geruch von Pizza entgegen, weswegen ich verwirrt die Augenbrauen zusammenziehe. Eigentlich sollte niemand in der Wohnung sein, aber über einen Pizza backenden Einbrecher werde ich mich sicherlich nicht beschweren.
„Überraschung!", kommt es kurz darauf aus der Küche und wenig später steht Darian im Flur, der eine karierte Schürze und Kaylas pinke Ofenhandschuhe trägt. Die Sache ist nur, dass er darunter scheinbar nichts trägt, denn aus der Schürze ragen nackte Arme und Beine und unter der Schürze baumelt es verdächtig. Als er erkennt, dass wir zu dritt sind, zeichnet sich zuerst Freude auf seinem Gesicht aus, doch dann schaut er peinlich berührt an sich hinab und scheint zu bemerken, dass er nicht ganz passend bekleidet ist. „Oh."
Während Kayla und ich in schallendes Gelächter ausbrechen, scheint Elian hingegen leicht verstört, denn er zieht irritiert die Nase kraus und hält sich aus Spaß die Augen zu.
„Hi, Darian. So hatte ich mir unser erstes Wiedersehen ehrlich gesagt nicht vorgestellt."
„Glaub mir, ich auch nicht, Großer."
Nun steigen auch die beiden in unser Lachen ein und es dauert eine ganze Weile, bis wir uns wieder beruhigt haben. Der Tag wird immer besser. Ich streife schließlich die Schuhe von den Füßen und nehme Elians Jacke entgegen, die ich an unsere improvisierte Garderobe hänge. Darian läuft währenddessen schnell in unser Schlafzimmer, wobei er sehr darauf bedacht ist nur von vorne sichtbar zu sein. Doch als er durch die Tür huscht, kann ich einen Blick auf seinen nackten Hintern erhaschen, den ich ziemlich gerne... Naja. Schließlich finden wir uns alle in der Küche zusammen, wo der kleine Tisch bereits gedeckt ist und die Pizza uns aus dem Ofen anlächelt. Sofort läuft mir das Wasser im Mund zusammen und ich kann nicht anders, als Darians Gesicht in meine Hände zu nehmen und ihm einen dankbaren Kuss auf den Mund zu drücken. Er lächelt daraufhin selig und grinst Kayla provozierenden an, welche die Mundwinkel nach unten zieht und grimmig drein schaut. Um sie aufzuheitern, schenke ich auch ihr einen Kuss, was uns einen leicht verwirrten Blick von Elian bringt.
„Seid ihr alle zusammen?" Seine Stimme klingt vollkommen wertfrei, lediglich ehrlich interessiert.
„Ja."
„Okay, cool."
Er zuckt mit den Schultern und schenkt uns sein breitestes Grinsen, bevor er sich der Pizza zuwendet. Scheinbar ist die Sache damit für ihn abgehakt, was mich stolz und glücklich zugleich macht. Er ist ein wunderbarer Junge geworden. Wenn ich es mir recht überlege, geht er fast offener und unkomplizierter mit der Sache um als ich.
In der restlichen Zeit, in der die Pizza im Ofen backt, führen wir Gespräche über Belangloses und Elian erzählt Darian mit größter Freude wie Kayla unserem Vater ins Gesicht geboxt hat. Er klatscht stolz bei ihr ein, scheint jedoch nicht sonderlich überrascht, immerhin kennt er sie jetzt auch schon eine Weile. Als das Essen dann endlich fertig ist, setzen wir uns gemeinsam an den Tisch und stürzen uns auf dieses wunderbare Gericht. Kayla stöhnt mal wieder und kommt beinahe während ihres ersten Bissens, was ihr einen mahnenden Blick meinerseits, ein Lachen Darians und ein amüsiertes Grinsen von Elian einbringt.
„Das ist einfach nur göttlich. Sorry Leute, aber Pizza wird für immer meine größte Liebe bleiben", nuschelt sie mit vollem Mund. „Beziehungsweise sie teilt sie sich den Platz mit Reeses."
Kayla liebt diese Dinger. Ich esse sie auch sehr gerne, aber ich finde es immer wieder erstaunlich wie viel in einen so zierlichen Menschen hineinpasst.
Elian erzählt von den letzten Jahren, in denen nicht viel passiert ist. Wir hören ihm gespannt zu, während er von der Zeit nach meiner Festnahme erzählt und wie es war, mit Papa ganz allein zu wohnen. Er war nie sehr freundlich zu ihm, aber da er Elian keine große Aufmerksamkeit geschenkt hat, konnte er sein Ding durchziehen und hat die meiste Zeit bei seinem besten Freund verbracht, dessen Familie ihn freudig aufgenommen hat. Wie könnte man auch nicht?
Es erinnert mich an Kayla und mich, wie wir früher auch jede gemeinsame Minute miteinander verbracht haben und wie meine Mutter sie schließlich bei uns aufnahm, als sie von ihrer eigenen Mutter rausgeschmissen wurde. Lorena hatte wohl ab und zu Telefonkontakt zu unserem Vater, doch bei unserem Bruder meldete sie sich nie wirklich. Alles andere hätte mich auch gewundert.
„Ich hab oft an dich gedacht. Beziehungsweise an euch. Wie es dir geht, wo du lebst... Ob du die Zeit im Gefängnis gut überstanden hast? Ob wir uns nochmal sehen? Ich hatte echt riesige Angst, dich an dem Morgen des Überfalls das letzte Mal für immer gesehen zu haben."
„Du glaubst gar nicht, was ich erst für eine Angst hatte. Ich habe mir jeden Tag solche Vorwürfe gemacht."
Wenn ich an die vergangen Jahre denke, wird mir ganz schlecht. Am liebsten würde ich alles vergessen. Wobei, wenn ich all das nicht hätte durchmachen müssen, wäre ich nicht der Mensch, der ich heute bin. Vielleicht wäre ich nie mit Kayla und Darian zusammen gekommen und vielleicht hätte ich niemals akzeptiert, wer ich wirklich bin. Vielleicht hätte ich niemals gelernt, für mich einzustehen und nicht alles einfach hinzunehmen. Wenn man es aus einer bestimmten Perspektive betrachten möchte, könnte man fast sagen, dass der Aufenthalt im Gefängnis mich in gewisser Weise befreit hat.
„Aber wir haben jetzt eine neue Chance. Ein neues Leben. Zusammen, mit Darian, Kayla und mir. Wenn du möchtest natürlich."
„Bist du verrückt? Natürlich möchte ich!" Schon wieder schießen mir die Tränen in die Augen, doch ich wische sie schnell weg. Ich kann doch nicht den ganzen Tag mit Heulen verbringen. Kayla, die neben mir sitzt, legt ihre Hand auf meinen Oberschenkel und schenkt mir ein Lächeln, das die Jahre des Leidens widerspiegelt. „Jetzt will ich aber auch wissen, was bei euch alles passiert ist."
Ich erzähle ihm alles. Von dem Banküberfall, über die Zeit im Gefängnis bis hin zu unseren Nöten und den ganzen Problemen, welche Arbeitslosigkeit und Geldmangel mit sich brachten. Davon, wie wir Darian getroffen haben und unsere Freundschaft aufgefrischt wurde. Ich erzähle ihm von Lorenas und meinem Aufeinandertreffen und wie ich mir das Messer in den Bauch rammte. Sogar von den Taschendiebstählen im Club erzähle ich ihm, wobei ich das Thema jedoch nur kurz anreiße. Es ist schwierig vier Jahre, in denen so viel geschehen ist, in ein paar Erzählungen zusammenzufassen, doch ich denke, dass fürs Erste das Wichtigste gesagt wurde. Elian und ich haben hoffentlich noch eine Menge Zeit, um den Rest ebenfalls noch aufzuholen.
„Ihr musstet so viel durchmachen... Krass. Ich kann mir das alles überhaupt nicht vorstellen..."
„Das ist auch gut so", kommt es sanft von Kayla, die Elian kurz darauf in den Arm nimmt. Es ist wunderschön sie alle bei mir zu haben. Es ist mehr, als ich mir je hätte erträumen können.
Wir sitzen eine Weile still am Tisch. Am heutigen Tag ist einiges passiert, was wir erst einmal verdauen sollten. Jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. Dann kommt mir eine Idee. Ich erhebe mich und mache mir an den Küchenschränken zu schaffen, aus denen ich Tassen hole. In Windeseile koche ich Milch auf und gebe Schokolade sowie meine Geheimzutaten hinzu. Mit großer Mühe versuche ich mein Geheimnis zu wahren, doch als ich mich umdrehe, schaue ich in drei höchst interessierte Gesichter, die mir gespannt zuschauen.
Wenige Minuten später stelle ich vier dampfende Tassen heiße Schokolade auf den Tisch und schwelge dabei in Erinnerungen an früher.
„Heiße Schokolade", flüstert Elian und schaut mir mit glasigen Augen entgegen.
„Ich hoffe sie schmeckt so gut wie früher."
Er pustet kräftig und nimmt dann mit geschlossenen Augen einen großen Schluck, was wir anderen ihm gleichtun. Sofort kommen die Bilder von Elian auf, als er noch kleiner war und sich ständig heiße Schokolade gewünscht hat. Ich konnte ihm nie den Wunsch abschlagen, wenn er mich mit seinen großen runden und unschuldigen Augen anschaute. Plötzlich fühlt sich die Welt in Ordnung an. Eine unglaubliche Ruhe und Zufriedenheit macht sich in mir breit. Ich kann mir nun endlich die Chance finden Frieden zu finden. Diese Zuversicht habe ich schon so lange nicht mehr gespürt.
„Sie schmeckt fast noch besser." Gierig trinkt er auch den Rest aus, woraufhin ich ihm nochmal einschenke.
Es ist verrückt, wie schnell sich die Dinge ändern können. Von einer Minute auf die andere wird man aus dem Leben gerissen. Oder so wie heute endlich wieder reingeschmissen. Wenn Lorena die Anzeige wirklich zurück ziehen sollte, habe ich die Chance auf eine gute Ausbildung. Wir könnten umziehen. Uns etwas leisten. Neu anfangen. Und das mit den Menschen, die mir am meisten bedeuten. Es wird niemals alles perfekt sein. Probleme gibt es immer. Aber ich bin bereit jedes einzelne davon zu bekämpfen.
„Malst du eigentlich noch?", kommt es von Darian. „Ich kann mich noch an deine Bilder erinnern, du hattest echt viel Talent." Meiner Meinung nach war das fast noch eine Untertreibung. Elian malte großartig.
„Ja, es hat mir sehr geholfen mit allem klarzukommen. Vielleicht bekomme ich ein Stipendium für ein Kunststudium." Verlegen richtet er den Blick auf die Tischplatte. Ich klatsche erfreut in die Hände, während ein freudiger Laut aus meiner Kehle dringt.
„Das ist großartig! Mein kleiner Picasso." Ich schiebe den Stuhl nach hinten und schlinge bei ihm angekommen meine Arme fest um ihn. „Ich bin so, so stolz auf dich!", flüstere ich ein sein Ohr.
„Bitte nicht mehr Picasso, der war absoluter Sexist", bemerkt er, woraufhin ich lachend nicke. Darian klopft ihm auf die Schulter und Kayla schließt sich der Umarmung an. So verweilen wir ein paar Minuten, bis sich Elian räuspert.
„Denkt ihr Papa wird sehr sauer sein?" Bevor ich auch nur irgendetwas sagen kann, schaltet sich Kayla mit wütendem Ton ein.
„Der alte Stinkstiefel hat ja wohl mal absolut kein Recht dazu. Er soll froh sein, wenn du überhaupt nochmal nach Hause kommst und ich ihn nicht noch mehr verprügle! Ansonsten bleibst du halt bei uns."
„Oh ja, ich halte ihn fest und die kleine Hexe schlägt auf ihn ein", pflichtet ihr Darian viel zu euphorisch bei, was uns alle zum Lachen bringt. Ach, ich liebe sie.
Nach zwei weiteren Stunden beschließen wir, dass es Zeit für Elian ist, nach Hause zu gehen, um größere Konflikte mit unserem Vater zu vermeiden. Ich habe meinen Bruder gerade erst zurück, ich würde es nicht ertragen ihn erneut zu verlieren. Aber egal wie kalt und unnahbar mein Vater auch sein mag, selbst er wird mir nach all dem den Kontakt nicht mehr verwehren. Er würde es nie zugeben, aber ich glaube, dass er tief in seinem Inneren doch ein wenig Schuld mir gegenüber verspürt. Und ich denke er weiß, wie viel mir Elian bedeutet. Wenn ihm das heute nicht klar geworden ist, weiß ich auch nicht weiter.
Wir steigen gemeinsam ins Auto und fahren Elian zu der Adresse des Hauses, welches tatsächlich nur zwanzig Minuten von unserer Wohnung entfernt ist. Ich begleite Elian zu Tür, welche unser Vater mit einem blauen Fleck im Gesicht öffnet. Er hat es verdient. Wir schauen uns stillschweigend an und wie immer strahlen seine Augen diese Kälte aus. Lediglich die Wärme von Mama konnte das Eis in ihm zum Schmelzen bringen.
„Ich hole Elian morgen wieder ab." Ich betone es so, dass er sofort weiß, dass ihm keine andere Wahl bleibt. Er schaut mich noch einen Moment stillschweigend an und gibt dann ein einziges Wort von sich.
„Okay."
Es ist nicht viel, aber es ist ein Anfang. Vielleicht kann ich ihm eines Tages alles verzeihen. Das wichtigste ist jedoch nun, dass es Elian gut geht. Ich umarme ihn noch ein letztes Mal, bevor er unserem Vater ins Haus folgt und die Tür geschlossen wird. Mit einem breiten Lächeln laufe ich zum Darians Auto, das am Straßenrand steht und öffne schwungvoll die hintere Autotür.
„Ich finde wir sollten feiern gehen."
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