Kapitel 40
Alles um mich herum verschwimmt, ich nehme lediglich Elian wahr, der genauso angewurzelt am selben Ort steht und mich mit großen Augen anschaut. Er ist so groß geworden. Seit langem war ich nicht mehr so glücklich wie in diesem Moment. Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen, da mich all die Gefühle wie eine Welle überrollen. Endlich sehe ich ihn wieder. Erleichterung macht sich in mir breit und lässt Wärme in meinem Brustkorb entstehen. Doch gleichzeitig steigt auch Angst auf, da er mich immer noch hassen könnte. Vielleicht will er mich nicht sehen. Aber immerhin hätte ich dann Gewissheit. Da alles viel zu viel ist, entfährt mir ein lautes Schluchzen, woraufhin ich die Hand vor den Mund schlage. Meine Augen werden glasig, doch ich reibe schnell über sie, um zu verhindern, dass meine Sicht verschwimmt.
Am liebsten würde ich ihn sofort in die Arme schließen und ihn dann nie wieder loslassen. Jedoch weiß ich nicht, ob Elian es auch möchte, weswegen ich überfordert stehen bleibe und darauf warte, wie er reagiert.
Zum Glück muss ich dies nicht lange, da mein Bruder sich kurze Zeit später aus seiner Starre reißt, die Distanz zu mir überbrückt und seine Arme um mich schließt, was dazu führt, dass es mit meiner Selbstbeherrschung komplett vorbei ist. Tränen laufen in Bächen über meine Wangen, gleichzeitig kommen undefinierbare Geräusche aus meinem Mund, die sich aus Lachen und Schluchzen zusammensetzen. Ich kann es einfach nicht fassen. Elian ist hier. Er ist hier bei mir. Er ist gesund. Ich habe ihn endlich wieder. Und er scheint mich nicht vollkommen zu verachten. Ich schließe meine Arme noch enger um ihn, da ich Angst habe, dass er sonst wieder verschwinden und verloren gehen könnte. Dass er wie Sand durch meine Finger rinnt. Doch er ist echt und hier in meinen Armen. Nach all den Jahren ist er endlich wieder bei mir.
„Es tut mir so leid. Es tut mir so unendlich leid, Elian." Ich hole tief Luft und versuche mich zu beruhigen, damit er überhaupt verstehen kann, was ich sagen möchte, doch es gelingt mir nicht so richtig. Auch Elians Brust bewegt sich unregelmäßig auf und ab, an meiner Schulter kann ich spüren, dass das T-Shirt leicht nass ist.
„Ich hoffe du kannst mir verzeihen, dass ich mein Versprechen nicht halten konnte. Dass ich nicht für dich da war. Es tut mir so leid. Ich habe mich die ganzen letzten Jahre so sehr dafür gehasst."
Elian vergräbt sein Gesicht in meinen Haaren und gemeinsam versuchen wir uns zu beruhigen und tiefe Atemzüge zu nehmen. Es dauert eine Weile bis wir uns gefangen haben und endlich traue ich mich, ihn ein wenig von mir entfernt zu halten und ihn richtig anzuschauen. Ich lasse meinen Blick über seine Haare fahren, die immer noch dieselbe Haarfarbe wie früher haben, aber nun an den Seiten kürzer und oben länger sind. Über seine vollen Augenbrauen, die hellblauen Augen, die mittlerweile ganz gerötet und angeschwollen sind. Seine Nase, die meiner ebenfalls sehr ähnelt und ein ganz kleines bisschen schief ist, was man jedoch nur erkennt, wenn man ganz genau hinschaut. Seine markante Kieferpartie, auf der jedoch zum Glück noch kein Bart heranwächst. Wenn ich all das verpasst hätte, wäre ich verrückt geworden. Mein mittlerweile großer kleiner Bruder, der nun schon ganze sechzehn Jahre alt ist. Er sieht großartig aus. Ohne dass ich es mitbekommen habe, ist er schon ein richtiger Mann geworden. Ich habe vier Jahre seines Lebens verpasst. Das werde ich Lorena und auch mir nie verzeihen. Dafür hoffe ich umso mehr, dass Elian mir bereit ist eine zweite Chance zu geben. Dass nicht noch mehr Jahre verloren gehen.
Er ist wie mein eigenes Kind. Nach Mamas Tod habe ich mein Bestes gegeben, um sie so gut es gut zu ersetzen. Für Elian da zu sein und ihm die Liebe zu geben, die ein Kind zum Wachsen braucht. Genau wie Pflanzen Wasser, Licht und viele andere Nährstoffe benötigen, um zu wachsen, benötigen Kinder vor allem Liebe. Sonst verblühen sie. Es war meine Aufgabe es zu verhindern. Und trotzdem habe ich versagt. Ich schließe meine Hände um sein Gesicht und wische die Tränen von seinen Wangen, was ein Lächeln auf seinen Lippen entstehen lässt.
„Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich dich jemals hassen könnte." Seine Stimme ist ganz dunkel geworden und hat nichts mehr, von dem Kindlichen, das er noch vor vier Jahren hatte. „Ich habe dich so vermisst, Dela. Jeden Tag. Du warst immer für mich da. Du warst wie eine Mutter für mich und große Schwester in einem. Papa hat verboten, dass ich Kontakt zu dir aufnehme und dann wusste ich ja auch nicht mehr, wo du lebst. Ich habe echt alles versucht."
„Ich auch. Aber Papa hat wohl alles dafür getan, dass wir uns nicht finden." Er nickt in Gedanken verloren, während ich am liebsten wieder anfangen würde zu heulen. Scheiß Gefühle, ich sollte mich einfach freuen. „Ich war das nicht mit dem Überfall. Die Zeit war sehr schlimm im Gefängnis und die Zeit danach fast noch schlimmer. Aber am unerträglichsten war der Gedanke, dass ich dich im Stich gelassen habe. Dass du allein bei Papa sein musstest."
„Ich wusste, dass du es nicht warst. Sofort als sie es mir sagten. Ich kenne dich und ich wusste, dass du das niemals tun würdest. Die Zeit mit Papa war nicht besonders schön, aber sie war erträglich. Wir wohnen sogar gar nicht weit von hier, aber da ich dich nie gesehen habe, dachte ich, dass du bestimmt nicht in der Nähe bist. Aber das ist jetzt auch egal, ich habe dich wieder. Wir haben eine neue Zukunft."
„Wann bist du nur so Weise geworden?" Der Wichser von unserem Vater ist tatsächlich einfach hiergeblieben. Ich war so sicher, dass er das Weite gesucht hat. Elian grinst daraufhin nur schelmisch. „Das muss wohl passiert sein, während du alt geworden bist."
Ich mache einen übertrieben empörten Gesichtsausdruck und schaue ihn gespielt geschockt an.
„Und frech auch noch. Ich habe mich überaus gut gehalten, du kleine Pissnelke."
Ich kann nicht anders als meinen Bruder erneut in den Arm zu nehmen. Wir halten uns gegenseitig fest, lassen mit der Stille die Worte raus, die wir so lange für uns behalten mussten. Nie in meinem Leben habe ich eine solche Erleichterung verspürt. Nicht als ich aus dem Gefängnis entlassen wurde oder nach der Messersache überlebt habe. Auch nicht, als Lorena eben sagte, dass sie die Wahrheit aussagen wolle. Elian hasst mich nicht. Er will mich in seinem Leben haben. Diese riesige Last und Schuld, die ich nun schon seit Jahren mit mir herumtrage, ist mit einem Mal verschwunden. Ich fühle mich leicht und befreit. Als hätte ich endlich eine Chance darauf, glücklich zu werden. Als hätte ich eine Zukunft.
Ich schaue zur Seite, wo Kayla steht, den Blick auf uns gerichtet und der ebenfalls Tränen übers Gesicht laufen. Sie lächelt mich zaghaft an und ich kann sofort erkennen, dass sie fast genau so glücklich ist wie ich es bin. Sie hat Elian ebenfalls vermisst und ihn sicherlich schon fest vor mir gedrückt.
„Papa und ich wollten Lorena besuchen. Sie haben Papa sofort nach ihrer Einlieferung informiert. Er musste eben noch kurz was erledigen." Wer hätte gedacht, dass es Lorena ist, die uns schließlich unwissentlich wieder zusammenbringt?
„Adela?"
Wenn man vom Teufel spricht. Alle Muskel in meinem Körper spannen sich an, meine Hände balle ich zu Fäusten. Meine Schultern drücke ich zurück und achte darauf, dass ich besonders aufrecht stehe, bevor ich mich in Zeitlupe zu dem Mann umdrehe, der sich meinen Vater nennt.
„Vater."
Es fühlt sich unheimlich komisch an, nach all den Jahren wieder vor ihm zu stehen. Nach allem, was geschehen ist. Er hat mich einfach so verstoßen und mich von meinem Bruder getrennt. Er war nie sonderlich freundlich oder liebevoll, besonders nicht zu Elian und mir. Aber selbst ein nicht so perfekter Vater, sollte seiner Tochter niemals diesen Schmerz zufügen. Komischerweise spüre ich, entgegen meinen Erwartungen, größtenteils mur Gleichgültigkeit ihm gegenüber. Ich liebe ihn nicht, aber ich hasse ihn auch nicht mehr so sehr. Er ist mir egal geworden. Ich wünsche mir nur, dass er sich aus meinem Leben raushält und mir nicht den Kontakt zu meinem Bruder verwehrt.
„Was machst du hier?" Seine Stimme hört sich genauso autoritär und emotionslos an wie früher auch. Jedoch ist auch er sehr in den letzten Jahren gealtert. Um seine grauen Augen haben sich kleine Fältchen gebildet, die ihn um einiges älter wirken lassen. Das sonst so dunkle Haar ist an einigen Stellen bereits vergraut und die Mundwinkel scheinen noch mehr nach unten zu zeigen als vorher schon. Ein leichter Bartschatten ist auf seinem Gesicht zu erkennen und noch immer trägt er diesen komischen blauen Pullunder.
„Ich habe Lorena besucht."
Es ist komisch, so viele Jahre mit einem Menschen auf engstem Raum gelebt zu haben, von ihm großgezogen worden zu sein und trotzdem das Gefühl zu haben einem Fremden gegenüber zu stehen. Ich hasse dieses Gefühl, aber ich weiß auch, dass ich vorerst nichts daran ändern will. Wie ich meinen Vater kenne, geht es ihm ebenfalls so.
„Ah."
Mehr sagt er nicht. Es bleibt still. Und das macht mich unglaublich wütend. Keine schlechte Rechtfertigung oder Erklärung. Er versucht nicht mal sein Verhalten zu erläutern. Mir zu sagen, womit ich das alles verdient habe. Eine Entschuldigung für alles, was er mir angetan hat. Den Schmerz, den ich erleiden musste. Nichts. Kein einziger Buchstabe. Nicht mal das bin ich wert. Er ist mein verdammter Vater.
„Mehr hast du nicht zu sagen?"
Er schließt für einen kurzen Moment die Augen, als wäre er derjenige, der sich hier sammeln müsste. Ich schnaufe verächtlich und kreuze die Arme vor meiner Brust.
„Was soll ich sagen? Dass es mir leid tut? Ich habe das getan, was ich zu diesem Zeitpunkt für richtig gehalten habe und das bereue ich nicht. Es ist schlimm, dass du das durchmachen musstest. Wenn ich gewusst hätte, dass du unschuldig bist, hätte ich es vielleicht anders gemacht. Aber wir können die Zeit nicht zurückdrehen."
Ich lache freudlos auf und schüttle den Kopf. Das kann doch nicht sein beschissener Ernst sein. Wie konnte Mama ihn bloß lieben. Alles was ich sehe ist ein herzloser Kotzbrocken, der besser verhütet hätte. Es ist ein Wunder, dass ein solcher Mensch ein Kind wie Elian haben kann.
„Wie lange weißt du schon, dass ich unschuldig bin? Seit kurzem? Seit ein paar Monaten? Oder sind es doch schon Jahre? Und du hast es nicht für nötig gehalten Kontakt mit mir aufzunehmen? Was ist eigentlich falsch mit dir?"
Ich trete näher an ihn heran, um ihm stur in die Augen zu starren und jede kleine Gefühlsregung erkennen zu können. Doch sein Ausdruck bleibt wie in Stein gemeißelt.
„Es spielt keine Rolle. Ich wusste, unter welchen Umständen du lebst. Das wollte ich Elian nicht zumuten. Du hättest erst mal dein Leben in den Griff bekommen sollen."
Ich muss mich mit aller Kraft davon abhalten ihm nicht ins Gesicht zu schlagen. Das kann doch nur ein schlechter Witz sein.
„Warum lebe ich denn so?", brülle ich ihm nun fast entgegen. Ich kralle die Nägel in meine Handflächen, um meine Aggression irgendwie abzulenken. Was muss man getan haben, um diese Scheiße zu verdienen? Ich will mich damit nicht mehr rumschlagen. Es tut mir nicht gut und auch wenn er mein Vater ist, wenn mir der Kontakt solchen Schaden zufügt, ist es besser keinen zu haben. Es tut weh, aber das hier ist nichts als zerstört zu werden und sich selbst zu zerstören. Genau deswegen versuche ich meine verkrampfte Haltung zu lockern und wende mich erneut mit gefährlich ruhiger Stimme an meinen Vater.
„Eigentlich hast du recht, es ist egal. Ich möchte auch weiterhin nichts mit dir zu tun haben, das passt dir bestimmt auch ganz gut. Aber meine einzige Bedingung ist, dass Elian frei entscheiden darf, ob er Kontakt zu mir haben möchte. Wie oft. Und wann. Du wirst es dulden. Ansonsten ziehe ich vor Gericht, es ist mir egal. Oder ich mache es wie Lorena und bringe dich unschuldig in den Knast. Muss ja in der Familie liegen."
Für einen Moment bleibt es totenstill, während er mich kritisch beäugt und seine Optionen abwägt. Ich weiß nicht genau welcher Punkt es nun schließlich ist, der ihn einwilligen lässt. Ich möchte es auch gar nicht wissen, Hauptsache ich darf Elian sehen.
Kayla tritt an meine Seite, legt ihren Arm um meine Schulter und schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln, das jedoch sofort verschwindet als sie sich an meinen Vater wendet. Ich habe sie selten so ernst gesehen, wodurch es mir fast schon Angst macht. Es passt überhaupt nicht zu ihr.
„Sie sind so ein widerlicher Mensch. Sie sollten sich schämen. Hoffentlich schmoren Sie in der Hölle, das wäre mehr als verdient. Genau wie das hier."
Der Rest geschieht innerhalb von Sekunden. Kayla holt aus und schlägt meinem Vater mit der Faust mitten auf die Nase. Wenn sie mich daraufhin nicht packen und in Windeseile aus dem Gebäude führen und währenddessen laut Fluchen würde, wäre ich mit offenem Mund an Ort und Stelle stehen geblieben. Elian hat sie auch mit sich gezogen. Mein Vater ist scheinbar zu geschockt, um irgendetwas zu unternehmen, denn er bleibt nur starr dort stehen und tastet sich ungläubig die Nase ab.
Sobald wir an die frische Luft treten und genug Entfernung zwischen uns und die Psychiatrie gebracht haben, brechen wir alle in schallendes Gelächter aus.
Scheinbar funktioniert das mit dem Karma doch irgendwie noch. Auch wenn manchmal eingegriffen werden muss. Am Ende erntet scheinbar doch jeder das, was er erntet.
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