Kapitel 39

Der helle gummiartige Boden unter meinen Füßen dämpft Kaylas und meine Schritte und ich kann nicht anders, als dauerhaft auf die hellgrünen Streifen zu starren, die den Rand des Bodens entlang laufen und sich bis zur Hälfte der Wand hochziehen. Grün. Die Farbe der Hoffnung. Fast muss ich laut auflachen. Sehr passend für eine Psychiatrie.

Vor Aufregung war mir schon gestern und den ganzen Morgen schlecht. Ich bekam nicht mal mein Frühstück runter und wenn ich eines liebe, dann Frühstück. Mein Bauch kribbelt nervös, aber es ist dieses Kribbeln, von dem man sich einfach nur wünscht, dass es endlich verschwindet. Mein Atem geht flach, immer wieder muss ich mich daran erinnern tiefe Atemzüge zu nehmen und auch mein Herz scheint daran erinnert werden zu müssen, nicht die ganze Zeit zu stolpern.

Ich kralle meine Finger in Kaylas Arm, die mir daraufhin einen besorgten Blick zuwirft und meine Hand in ihre nimmt. Eigentlich wollte ich allein gehen, jedoch bin ich jetzt mehr als froh, dass sie dabei ist. Allein wäre ich vermutlich schon längst zusammengeklappt, bei den zitternden Knien. Ich war nicht mal vor dem Einzug ins Gefängnis derartig nervös. Und dort haben echte Mörder auf mich gewartet.

Ein junger Mann hatte uns empfangen und führt uns nun zu einem neutralen Raum, wo ich auf Lorena treffen werde. Es ist nun bereits einige Wochen her, dass ich ihr das letzte Mal in die Augen geschaut habe, was es für mich umso schwieriger macht. Nachdem ich angerufen und gewünscht hatte, Lorena besuchen zu dürfen, fanden wohl erst einige Gespräche mit ihren Psychologen und auch mit meiner Schwester selbst statt. Scheinbar hat sie mittlerweile eine gewisse Stabilität gewonnen und ist selbst auch bereit dazu, mit mir in Kontakt zu treten.

Zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, dass sie auch darunter gelitten haben könnte, doch ich verwerfe diesen schnell wieder, da ich bezweifle, dass sie zu derartigen Gedanken und Emotionen imstande ist. Wahrscheinlich manipuliert sie ihre Therapeuten auch nur, um schneller rauszukommen und anderen Menschen erneut das Leben zur Hölle machen zu können.

„Die Wege hier sind recht lang, aber wir sind gleich da." Der Mann dreht sich während des Gehens zu uns um und schenkt uns ein warmes Lächeln, welches ich schwach erwidere. Diese Institution hier ist wirklich sehr groß, aber mehr als hässlich. Von außen ist es ein großer gräulicher Kasten, an den weitere vergraute Kasten anschließen und die Fenster sehen im Vergleich zu der riesigen Fassade winzig aus. Auch innen wirkt alles kahl, lediglich die wenigen Bilder, welche die Wände schmücken und sicherlich zur Aufmunterung dienen sollen, sorgen für etwas heimeliges. Wahrscheinlich ist es nicht mal Sinn und Zweck der Sache, sich hier zu Hause zu fühlen. Die Wände sind oben weiß, genau wie die Decke. Um ehrlich zu sein hatte mich nicht damit gerechnet, dass es von innen so sehr wie eine Klinik aussieht. Was recht dumm ist, da es in gewisser Weise ja genau das ist. Die Mitarbeiter tragen teils Alltagskleidung, teils Kittel, die meisten tragen jedoch Kleidung, die der von Krankenschwestern ähnelt.

„Hier wären wir."

Er bleibt abrupt an einer großen, weißen Tür stehen, in der ein rundes Fenster eingebracht ist. Wenn mein Herz noch ein klein wenig schneller schlagen würde, wäre ich mit großer Sicherheit auf der Stelle tot. Ich ziehe meine Hand aus Kaylas und schüttle meine ein wenig durch, um der Aufregung entgegen zu wirken, doch es bringt rein gar nichts.

„Ich müsste Ihnen jedoch, bevor Sie zu Frau Langer reingehen, ein paar Grundlegende Regeln erläutern. Es werden keine Anschuldigungen gemacht oder Themen angeschnitten, die zu Eskalation führen könnten. Ich denke, Sie wissen selbst am besten, um welche es sich da handelt." Er macht eine kurze Kunstpause, bevor er mit den Regeln fortfährt. „Denken Sie bitte daran, dass Ihre Schwester immer noch sehr instabil ist und an einigen psychischen Erkrankungen leidet. Wir schätzen Sie stabil genug ein, aber wir wollen trotzdem eine erneute Verschlechterung verhindern. Kein Körperkontakt und Sie dürfen ihr nichts zukommen lassen. Kontrolliert wurden Sie ja schon. Sobald es nur zu einer kleinsten Schwierig- oder Unstimmigkeit kommt, werden wir das Gespräch beenden. Ich werde mit hereinkommen und sie begleiten, ihre Begleitung müsste jedoch bitte dort hinten warten. Ist alles klar?"

Ich schlucke schwer und nicke dann, woraufhin er die Tür öffnet. Der Kloß in meinem Hals wird immer größer, genauso wie das Verlangen mich sofort zu übergeben. Ich bleibe wie angewurzelt stehen, bis Kayla ihre Hand an zwischen meine Schulterblätter legt und mir somit bei den ersten Schritten hilft. Kurz darauf betrete ich den Raum, in dem lediglich ein paar Tische und Stühle stehen, sowie ein Wasserautomat mit Plastikbechern. Auch dieser Raum ist komplett weiß mit einigen grünen Akzenten, die in diesem Umfeld mehr aggressiv als beruhigend wirken. Und dann fällt mein Blick auf sie.

Für einen Moment setzt mein Herz endlich mal aus, schlägt dann jedoch wieder doppelt so schnell weiter. Ich wische die schwitzigen Hände an meiner Jeans ab, bevor ich langsamen Schrittes auf den stählernen Tisch zulaufe, an dem Lorena sitzt.

Ihre langen blonden Haare sind zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, ihre hellblauen Augen blicken stechend in meine und ihr Gesicht wirkt überraschend fahl. Sie trägt einen einfachen grauen Kapuzenpullover und eine Jogginghose in der gleichen Farbe. Während ich vorsichtig den Stuhl zurückschiebe und mich dann darauf niederlasse, sind ihre Augen dauerhaft auf mich gerichtet, aber auch ich traue mich nicht, sie auch nur eine Sekunde unbeobachtet zu lassen. Ausnahmsweise wirkt sie ernst und trägt nicht dieses provozierende Lächeln auf den Lippen, das mich immer so rasend macht. Vielleicht hat sich ja doch etwas bei ihr getan und die Behandlung schlägt an.

„Hallo, Schwesterherz. Lange nicht gesehen."

Ihre Stimme hört sich fremd an. So ruhig und ohne jegliche Verachtung. Es macht mir fast Angst.

„Hallo, Lorena."

Wir starren uns eine Weile schweigend an, versuchen den Gegenüber einzuschätzen und die Gedanken zu erkennen, die sich hinter der Stirn des anderen verbergen. Doch wie immer lässt sich Lorena nicht lesen. Ich werde sie wohl niemals wirklich entschlüsseln können. Schließlich bricht sie die Stille.

„Was führt dich her?"

„Ich denke, es ist Zeit nach dem letzten Vorfall zu reden. Beziehungsweise generell zu reden. Es gibt wohl einiges, was zwischen uns steht. Beispielsweise, dass du mich umbringen wolltest."

Ich drehe mich kurz in die Richtung des Mitarbeiters, doch dieser scheint gerade mit seinem Diensthandy beschäftigt zu sein und weit genug entfernt, um nicht jedes Wort unseres Gesprächs mitverfolgen zu können. Ich tue immerhin gerade genau das, was er mir mehr oder weniger verboten hat.

„Ich-..." Es ist wohl das erste Mal in meinem Leben, dass ich Lorena nach Worten ringend erlebe. Dass sie nicht weiß, was sie sagen soll. Es ist absolut arschig, aber irgendwie verschafft mir dieser Blick Genugtuung und Sicherheit. Es ist ein Anfang. „Es tut mir leid, Adela."

Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit diesen Worten. Auf der Suche nach einem Anzeichen, dass sie lügt oder es nicht aufrichtig meint, scanne ich ihr Gesicht nach jeder noch so kleinen Bewegung ab, doch ich kann nichts erkennen. Ihre Körperhaltung, der Ton... Alles wirkt aufrichtig. Es sind die Worte, die ich unbedingt hören wollte und trotzdem weiß ich nun, wo sie ausgesprochen wurden, nicht mit ihnen umzugehen. Ich vertraue ihr nicht. Sie scheint es zu bemerken, da sie ihre Erklärung fortsetzt.

„Die Therapie hilft mir. Ich weiß jetzt, dass ich krank bin. Sie geben mir Medikamente. Ich konnte meine ganze Vergangenheit aufarbeiten und arbeite sie immer noch auf. Schließlich habe ich einiges getan. Ich hab keine 180 Grad Wende gemacht, ich habe immer noch einen ziemlichen Hass auf dich. Aber ich weiß jetzt, dass du eigentlich gar nichts dafür kannst, dass ich dich so hasse. Ich hasse mich einfach selbst so sehr und habe dich dann dafür verantwortlich gemacht, dass ich von unseren Eltern nie die Liebe und Bestätigung erhalten habe, die ich gebraucht hätte. Als du geboren wurdest, hast du für mich alles kaputt gemacht. Und ich wollte, dass du bezahlst. Dass du genau so leidest. Aber das war nicht richtig. Und als du dann vor mir lagst und dieses ganze Blut aus deiner Wunde lief, deine Haut so blass war, wollte ich auf einmal doch nicht, dass du stirbst."

Ich schlucke und versuche all das zu verarbeiten, was sie sagt. Doch mein Kopf ist so voll, dass ich alles höre, es aber noch nicht richtig verstehe.

„Ich weiß nicht warum, aber irgendwie hatte ich plötzlich das Gefühl, dass du das alles vielleicht doch nicht so verdient hattest. Deswegen habe ich auch keine Gegenaussage zu deiner getätigt. Ich habe mir immer zusätzlich eingeredet, dass ich keine Gefühle habe. Dass ich emotionslos bin. Und dass ich nur glücklicher und geliebter sein kann, wenn du leidest. Wahrscheinlich verstehst du das gar nicht, ich verstehe es selbst noch nicht so richtig."

Lorenas Blick war stur nach vorne gerichtet, nur sieht sie nicht mich an, sondern knapp an mir vorbei. Erinnerungen schwirren sichtlich in ihrem Kopf umher und sie schüttelt ihn kurz, bevor sie Worte ausspricht, die mich beinahe vom Stuhl reißen.

„Ich werde aussagen, dass ich das damals mit der Bank war. Die Straftat würde dann aus deiner Akte verschwinden."

Ich muss aussehen als hätte ich das Jesuskind höchstpersönlich gesehen. Mein Mund klappt weit auf und ich kann nicht anders als sie ungläubig anzuschauen, bevor ich in schallendes Gelächter ausbreche.

„Du willst mich doch verarschen?" Doch Lorena verzieht keine Miene und schüttelt nur den Kopf.

„Ich meine es ernst. Aber das Geld behalte ich."

Obwohl diese Situation so unendlich skurril und grausam ist, kann ich nicht anders als zu grinsen. Wahrscheinlich bin ich mittlerweile auch vollkommen verrückt. Das hier muss ein bescheuerter Traum sein. Das sieht Lorena dann schon mehr ähnlich als die ganzen Worten, die bis eben aus ihrem Mund kamen.

„Von mir aus."

Ich schüttele ungläubig den Kopf und öffne mehrmals den Mund, um loszuwerden, was in mir vorgeht, doch ich scheitere immer wieder. Es kann einfach nicht real sein. Es wäre zu schön, um wahr zu sein. Denn damit hätte ich endlich Chancen auf eine gute Ausbildung. Auf ein besseres Leben. Ich hätte endlich eine Perspektive.

„Wirst du es Papa sagen?", platzt es plötzlich aus Lorena heraus.

Sofort weiß ich, was sie meint, ohne auch nur ein einziges weiteres Wort sagen zu müssen. Ich überlege eine Weile, da es, um ehrlich zu sein, das letzte war, worüber ich mir Gedanken gemacht habe. Ob sie nun die leibliche Tochter unseres Vaters ist oder eben auch nicht, geht mir ziemlich am Arsch vorbei. Für mich macht es keinen Unterschied. „Nein."

Ich spüre und weiß, wie unglaublich wichtig ihr es ist. Dass er nichts erfährt. Dass sie seine Tochter bleibt. Vielleicht macht es für sie einen großen Teil ihrer Identität aus, ich weiß es nicht. Vielleicht denkt sie auch, dass sie die einzigen Personen dadurch verliert, die sie noch hat. Für Lorena wäre es eine Katastrophe, denn offensichtlich ist Liebe und Anerkennung das einzige, wonach sie strebt. Dieses Gespräch lässt mich sie mit leicht anderen Augen sehen. Es hat mich ein wenig mehr verstehen lassen, warum sie handelt, wie sie eben handelt. Aber trotzdem lässt es mich auf keinen Fall vergessen, wie viel sie mir angetan hat. Wie sehr sie mich und mein Leben zerstört hat.

Eigentlich ist es unverzeihbar, aber ich will es um ihretwillen und vor allem aber um den Willen meines eigenes Friedens versuchen. Es liegen noch so viele ungesagte Worte und Fragen zwischen uns, jedoch spüren wir beide, dass es für heute reicht. Ich bin am Ende meiner Kräfte und brauche erst einmal Zeit, um all das zu verdauen und herauszufinden, wie ich in Zukunft damit umgehen möchte.

„Ich müsste Sie nun bitten, wieder zu gehen", ertönt die Stimme des Mannes aus dem Hintergrund und reißt mich aus meinen Gedanken.

Lorena und ich erheben uns von den Stühlen, schauen uns noch einmal an. Versuchen zu erkennen, ob der andere ehrliche Absichten hat. Ich weiß immer noch nicht, ob ich Lorena glauben kann. Vertrauen werde ich ihr vermutlich nie wieder. Aber wenn sie versucht sich zu bessern, werde ich ihr dabei ganz sicher nicht im Weg stehen. Wir verabschieden uns stumm und bevor ich den Raum verlasse, drehe ich mich ein letztes Mal zu ihr um. Vielleicht um zu kontrollieren, ob sie nun doch grinst und sich über meine Naivität lustig macht, doch sie steht dort wie angewurzelt und verzieht keine Miene. Ihre Schultern hängen ungewohnt und zum ersten Mal scheine ich die Last zu erkennen, die sie nun auch erkannt hat. Gut zu sein ist anstrengend. Viel anstrengender als auf alles und jeden zu scheißen und nur an sich selbst zu denken.

Die Tür wird hinter mir geschlossen und sofort halte ich Ausschau nach Kaylas kastanienbraunem Schopf, den ich jedoch nirgendwo sehen kann.

Mit zusammengezogenen Augenbrauen laufe ich den Flur hinunter, in Richtung der Sitzmöglichkeiten, auf die Kayla hingewiesen wurde. Sie müssten sich um die Ecke befinden, wenn ich mich nicht täusche. Ich betrachte den Boden während des Gehens so genau, dass ich nun die kleinen grauen Punkte erkenne, die ein wenig wie Dreck aussehen. Da hat wohl jemand nicht ganz zu Ende gedacht. Am Ende des Flurs angekommen blicke ich nach rechts, wo ich Kayla erwarte und finde sie auch dort vor.

Doch als ich einen karamellfarbenen Schopf neben ihr entdecke und die unverkennbaren blauen Augen, die mich und meine Geschwister miteinander verbinden, bleibt mir die Luft zum Atmen. Den Menschen, der mir mehr als die Welt bedeutet, würde ich überall sofort erkennen.

Es ist Elian.

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