Kapitel 38

„Die Wunde sieht sehr gut aus, Sie scheinen meine Anweisungen ja befolgt zu haben."

Frau Doktor Ehrlich schaut mich mit einem warmen Lächeln an und zieht währenddessen die Handschuhe von ihren Händen, da meine Behandlung nun abgeschlossen ist. Die Fäden wurden heute gezogen, es wurde ein Ultraschall gemacht und generell hat sie mich noch einmal komplett durchgecheckt, vermutlich um sicher zu gehen, dass wirklich kein anderes Organ oder Körperteil durch den Vorfall mit dem Messer gelitten hat. „Ob Sie es glauben wollen oder nicht, ich hatte mal einen Patient, dessen Wunde komplett aufgerissen war. Es sah schrecklich aus. Als ich ihn nach dem Grund fragte, sagte er mir, dass es beim Sex passiert sei und gab mir daraufhin eine viel zu genaue Beschreibung des Vorgangs. Ich freue mich, dass es bei Ihnen anders ist."

Sie lacht herzlich und ich lache auch, aber gebe mir dabei größte Mühe meine Gesichtszüge in Reih und Glied zu halten. Wenn sie nur wüsste, was ich gestern Abend getrieben habe... Allein bei dem Gedanken an die vergangene Nacht drohen sich meine Wangen in ein dunkles rot zu verfärben.

„Es gibt schon verrückte Menschen", gebe ich daraufhin nur zurück und hoffe inständig, dass mir diese Gedanken nicht auf die Stirn geschrieben stehen.

„Das stimmt wohl."

Sie rollt auf ihrem Stuhl zum Mülleimer, wo sie die Tücher vom Ultraschall entsorgt, und wendet sich danach wieder mir zu, diesmal jedoch mit ernster Miene.

„Ich wollte Sie noch fragen, wie es Ihnen nun psychisch geht. Solche Übergriffe und Geschehnisse hinterlassen meist auch tiefe Wunden anderer Art, die ich persönlich leider nicht heilen kann."

Die Stille nimmt für einen Moment den Raum ein, lässt die weißen Wände noch weiter entfernt wirken und ein ungutes Gefühl in mir aufkommen. Ich versuche in mich zu gehen und genau herauszufinden, wie ich ehrlich auf diese Frage antworten soll, doch die Antwort darauf ist recht schnell klar. Mir ging es schon einmal besser.

„Es ist nicht spurlos an mir vorbeigegangen. Ich schlafe schlecht, beziehungsweise eher gar nicht, und wenn ich schlafe, verfolgen mich Alpträume. Panikattacken sind auch schon vorgekommen. Es ist nicht so einfach..." Ich schaue stur auf meine verknoteten Hände und meide, während ich mit ihr rede, den Augenkontakt.

Irgendwie bescheuert, aber es ist mir ein wenig peinlich. Ich will nicht, dass Lorena so viel Macht über mich hat. Dass sie mich nun auch auf diese Weise einnimmt und mein Leben bestimmt. Ich will nicht schwach und hilflos wirken, obwohl ich weiß, dass es sehr stark ist, Hilfe zu suchen. Sich der Erkenntnis zu ergeben, dass man nicht gesund ist.

„Sie sind damit nicht allein." Sie legt ihre Hand sanft auf meinen Arm und drückt kurz zu, bevor sie ihre dicke Hornbrille nach oben schiebt, die sie um einige Jahre älter wirken lässt. „Ich kann Ihnen anbieten eine Überweisung zu einem Psychologen zu schreiben. Mir ist ein sehr guter bekannt, der sich auf diesem Gebiet spezialisiert hat. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich ihn für Sie kontaktieren und mich dann bei Ihnen melden."

„Sehr gerne, ich danke Ihnen von Herzen."

Erleichterung macht sich in mir breit. Vermutlich war mir schon länger bewusst, dass ich es allein nicht schaffe und professionelle Unterstützung nötig ist, ich es mir jedoch nicht eingestehen wollte. Allein endlich wieder schlafen zu können, würde einiges verbessern. Es grenzt an ein Wunder, dass mein Körper überhaupt noch dazu in der Lage ist, ohne diese wichtige Regenerationszeit zu arbeiten. Wobei ich mich momentan nur durch den Tag schleppe und auf die kleinen schönen Momente warte, die mir wenigstens ein bisschen Hoffnung geben. Beispielsweise, wenn Darian und Kayla nach Hause kommen und mir von ihrem Tag erzählen. Oder wenn eines meiner Lieblingslieder im Radio läuft und ich für wenige Minuten die Gedanken abstellen kann. Aber dieser Zustand außerhalb dessen lässt sich wohl kaum als leben beschreiben. Ich vegetiere vor mich hin, weil mir für alles die Kraft fehlt.

„Das ist mein Job. Sie sind eine sehr freundliche, junge Frau. Ich wünsche mir für Sie, dass es wieder bergauf geht." Ein letztes Mal schenkt sie mir ihr makelloses Lächeln, in dem jedoch auch ein wenig Mitleid mitschwingt, bevor sie sich aufrichtet und mit langsamen Schritten zur Tür geht, wo sie dann verweilt. „Wir wären dann fertig für heute. Ich wünsche Ihnen eine schöne Woche."

„Danke, ebenso."

Sie schließt die Tür hinter sich und kurz darauf tritt die Krankenschwester ein, die mich auch zu Beginn meines Besuchs in dieses Zimmer geführt hat. Wir wechseln ein paar Worte, während sie mich hinausbegleitet und mich zu dem Ergebnis der Untersuchung befragt. Ich verabschiede mich schließlich von ihr und sauge draußen, an der frischen Luft angekommen, so viel Sauerstoff in mich wie nur möglich. Es fühlt sich an, als würde eine frische Brise durch meinen ganzen Körper ziehen, die meine Sinne belebt und mir für einen Moment die Vitalität zurück schenkt, die ich leider verloren habe. Kurzerhand entscheide ich mich dazu den Weg nach Hause zu Fuß zu gehen und nicht mit der Bahn zu fahren. Meine Muskeln haben es nach dieser langen Schonung dringend nötig und werden es mir vermutlich danken, auch wenn ich mit Sicherheit schon von diesem kurzen Weg Muskelkater bekommen werde.

Die Straßen sind für einen Vormittag unter der Woche recht voll. Einige der Passanten überholen mich schnellen Schrittes und schnaufen währenddessen leicht verärgert, weil ich in meinem Tempo wohl ein ziemliches Hindernis darstellen muss. Auf der einen Seite tut es mir leid, da ich es selbst nicht leiden kann, wenn Menschen zu langsam laufen, auf der anderen kann ich aber nichts dafür und ein wenig Entschleunigung schadet den meisten sicherlich nicht.

Heute erscheint mir die Stadt noch stickiger und dreckiger als sonst. Die Häuser sind grau und veraltet, überall liegt Müll und nirgends ist ein Fleck grün zu sehen. Die Abgase hängen wie ein dicker Teppich über uns und lassen den Himmel noch dunkler wirken, obwohl dieser schon mit Wolken bedeckt ist. An solchen Tagen hasse ich diese Stadt, mit der ich sowieso nichts Positives verbinde, noch mehr. Wenn ich es mir aussuchen könnte, wäre ich stolze Besitzerin eines schönen Landhauses mitten im Grünen, mit einem Haufen Tiere. Leider ist dieser Traum jedoch pure Imagination und wird es vermutlich auch bis zu meinem letzten Atemzug bleiben.

Während ich gedankenverloren durch die Gegend schlendere, da meine Füße den Weg schon von selbst finden, merke ich gar nicht, dass ich nur wenige Meter von dem Ort entfernt bin, an dem ich Lorena zum ersten Mal seit Jahren wieder sah und an dem ich fast starb. Doch dann wird es mir mit doppelter Wucht klar und ich bleibe wie versteinert stehen. Eine Frau läuft fast in mich rein und beschwert sich daraufhin lautstark, aber ich nehme sie nicht wahr. Meine Aufmerksamkeit ist einzig und allein auf diese Gasse gerichtet, die sich dunkel und gefährlich vor mir aufzubauen scheint.

Ein Teil von mir will einfach weiter gehen und vergessen, doch der andere, stärkere Teil in mir will dorthin gehen. Langsam setze ich einen Fuß vor den anderen, komme der Stelle immer näher und auch mein Herz schlägt immer schneller. Ich weiß nicht, warum ich mich so anstellen muss. Warum mein Körper so durchdreht, obwohl keinerlei Gefahr mehr besteht. Ich bin sicher. Nur kann ich rein gar nichts gegen diese Reaktion tun.

Meine Finger fahren über die raue Wand, gegen die mich Lorena noch vor kurzem drückte. Ich nehme die Struktur, das Gefühl an meinen Fingerkuppen wahr, trotzdem fühlt es sich so an, als wäre es eine andere Person, mit anderen Erinnerungen und einem anderen Leben, die diese Bewegung ausführt. Als wäre ich nicht mehr ich. Als würde mein Körper nicht zu mir gehören. Mein Blick gleitet den Teer entlang und bleibt an einem großen dunkelroten Fleck hängen, der einen Störfaktor auf der grauen Fläche bildet.

Ich merke, wie die Panik immer und immer mehr in mir aufsteigt. Wie mein Atem immer flacher und schneller geht. Ich nehme alles uns gleichzeitig nichts wahr. Bin viel zu sensibel und doch fühlt sich alles so stumpf an. Kalter Schweiß rinnt meine Schläfe hinunter, tropft auf den Boden und ich meine zu hören, wie er aufschlägt. Blub. Eine platzende Blase.

Plötzlich legt sich eine Hand auf meine Schulter, woraufhin ich mich ruckartig umdrehe und einige Schritte zurück stolpere, um Abstand zu meinem Angreifer zu gewinnen, der jedoch augenblicklich beschwichtigend die Hände hebt. Er will mir sicher wehtun. Wenn meine eigene Schwester dazu in der Lage ist, warum sollte ich dann vor anderen in Sicherheit sein?

„Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht erschrecken."

Ich muss mit den weit aufgerissenen Augen, von denen ein gehetzter Blick ausgeht, und dem durchgeschwitzten Oberteil wie eine Verrückte aussehen, die geflohen ist. Seine Stimme klingt versöhnlich und leise. Er spricht wie mit einem scheuen Tier, dass er nicht verschrecken möchte.

„Sie sahen nur aus als würde es Ihnen nicht gut gehen, da wollte ich fragen, ob ich Ihnen helfen kann."

Ich kann kaum seinen Mund sehen, der sich beim Reden bewegen müsste, da er von einem vollen Bart verdeckt wird. Der Mann müsste um die fünfzig sein. Um seine Augen herum befinden sich kleine Fältchen, die es aussehen lassen als würde er dauerhaft lächeln.

Fieberhaft überlege ich, ob er wirklich die Wahrheit sagt und er mir nichts antun möchte. Dann beginnt mein Gehirn endlich wieder zu funktionieren und mir wird klar, dass er nicht Lorena ist. Nur weil sie mich leiden sehen wollte, will das nicht auch gleich jeder andere Mensch. Sie ist krank. Nicht jeder ist wie sie. Er wollte und will mir nur helfen.

Ich bin sicher. In Sicherheit. Alles ist gut. Mir passiert nichts.

„Ähm, ja, danke. Mir geht es gut." Ich zwinge ein Lächeln auf meine Lippen, das vermutlich eher aussieht als würde ich gerade in die Hose scheißen.

Schnell dränge ich mich an ihm vorbei und mische mich unter den Fluss der Menschen, um dieser mehr als unangenehmen Situation so schnell wie möglich zu entkommen. Nicht, dass er die Polizei ruft und ich ebenfalls eingewiesen werde. Lorena und ich könnten uns dann ja eine Gummizelle teilen. Wäre sicherlich gemütlich. Familiär. Fabulös.

Auch während des Gehens halte ich den Blick gesenkt und versuche mich so unauffällig wie nur möglich zu verhalten. Am liebsten würde ich hier und jetzt im Erdboden versinken. Oder weglaufen und nie wiederkommen. Ich will einfach nur nach Hause und vor allem fliehen. Meine Beine tragen mich schnell, fast mechanisch und als ich endlich das Treppenhaus hoch sprinte, unsere Tür aufreiße und mich daraufhin völlig am Ende an ihr auf den Boden sinken lasse, kann ich nur daran denken, dass das mein Blut auf diesem Boden war.

Ich wusste es schon vorher, aber irgendwie wird mir jetzt erst richtig klar, dass ich tot war. Dass ich hätte tot bleiben können. Mein Leben und das aller anderen ist so zerbrechlich und fragil, allein eine Klinge kann den Tod bedeuten. Du verlierst einen Tropfen zu viel Blut und aus ist es mit dir. Und was kommt dann? Eine leere Hülle, die verrottet. Nichts bleibt mehr übrig und all meine Wünsche, Träume und Gedanken verrotten mit ihr. Leben ist scheiße komisch.

Ich raufe mir die Haare, ziehe an den blonden Strähnen und versuche mich auf den entstehenden Schmerz zu konzentrieren. Ich muss überprüfen, ob ich real bin. Ob das alles echt ist. Und vor allem muss ich mich von den Bildern und hässlichen Worten in meinem Kopf ablenken. Der Schmerz zeigt die gewünschte Wirkung und bringt mich zu mir selbst zurück.

Ich habe trotz allem eine zweite Chance erhalten. Ich lebe noch. Das spüre ich jetzt ganz deutlich. Ich atme, auch wenn meine Lunge mehr brennt als Pfeffer in der Nase. Mein Herz schlägt. Es springt mir immer noch fast aus der Brust, aber es funktioniert. Mit jedem tiefen Atemzug, den ich nehme, beruhige ich mich ein wenig mehr. Die Gedanken in meinem Kopf werden klarer und der Nebel lichtet sich. Ich nehme die Hände aus meinem Haar und starre dann auf die ausgerissenen Haare, die sich um meine Finger gewickelt haben.

So kann es nicht weitergehen. Hoffentlich bekomme ich diesen verschissenen Therapieplatz. Vor allem muss ich aber endlich mit Lorena sprechen.

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