Kapitel 35
Um mich herum ist es eiskalt. Ich schwebe in einer schwarzen Masse umher und kann keine Orientierung finden. Selten habe ich mich so verloren gefühlt. Egal wo ich hinschaue, alles ist schwarz. Verzweifelt blicke ich jede Richtung, schaue nach rechts und links, nach oben und unten, doch nirgends ist auch nur ein einziger Lichtstrahl zu erkennen. Es ist unglaublich kalt. So, so kalt. Plötzlich bemerke ich, wo ich mich befinde. Ich ertrinke. Ertrinke in der schwarzen Masse. Überall nur schwarz. Überall nur Eiseskälte. Der Sauerstoff weicht immer mehr aus meiner Lunge, ich will nach Luft schnappen, will atmen, doch ich schlucke nur Wasser. Ich schwimme, denke ich zumindest, nach oben. Immer weiter. Bloß nicht stehen bleiben. Kurz bevor ich denke zu ersticken, erreiche ich die Wasseroberfläche und tauche auf.
„Wir haben sie zurück!"
Ruckartig öffne ich meine Augen und will mich ebenso schnell aufsetzen, doch sofort durchfährt ein unglaublicher Schmerz meinen Körper, der es mir unmöglich macht, mich nur einen Zentimeter zu bewegen. Ich schnappe erleichtert und verzweifelt nach Luft, will all den Sauerstoff aufnehmen, den ich nur bekommen kann. Ich atme. Die Kälte hat nachgelassen. Ich lebe.
Meine Umgebung wirkt zuerst viel zu hell und grell, verschiedene Gesichter treten in mein Blickfeld, fuchteln um mich herum und verschwinden dann wieder. Laute Stimmen erklingen immer wieder. Doch allmählich fügen sich die Teile zusammen und ich nehme mein Umfeld immer schärfer wahr. Ich befinde mich in einem fahrenden Krankenwagen. Wenn ich mich nicht irre, haben sie sogar die Sirenen an. Doch ich möchte mich nicht auf meine Sinne verlassen, über die ich nicht mehr Herr werde. Im Hintergrund kann ich gedämpft hören, dass einer der Menschen von einer Person redet, die sofort in den narkotisierten Zustand zurückversetzt werden soll. Es dauert einige Sekunden, bis ich verstehe, dass ich damit gemeint bin. Und es dauert ebenso lange, bis die Erinnerungen mit voller Wucht in mein Gedächtnis zurücktreten.
Lorena. Das Messer. Dieses in meinem Bauch. Blut. So unglaublich viel Blut.
Ich sammle all meine Kräfte, um meinen Kopf ein wenig anzuheben, jedoch werde ich augenblicklich in die Liege gedrückt. Trotzdem konnte ich einen kurzen Blick auf meinen Oberkörper erhaschen, der, soweit ich es in diesem Zustand beurteilen kann, ganz und gar nicht gut aussieht. Noch nie in meinem Leben habe ich mich physisch so schrecklich gefühlt. Wenn ich es mit dem psychischen Leid nach dem Tod meiner Mutter vergleichen müsste, würde ich fast behaupten, dass das hier genauso schlimm ist. Nur ist mir bewusst, dass es nicht so lange anhalten wird. Eine klaffende Wunde kann man irgendwie flicken. Falls ich nicht schon zu viel Blut verloren habe oder ein lebenswichtiges Organ getroffen wurde. Dann sterbe ich wohl. Es wundert mich sowieso sehr, dass dies noch nicht geschehen ist.
Mein Kopf ist benebelt, meine Glieder schwerer als zehn Tonnen und es fühlt sich an, als wäre mein ganzer Körper in Stücke geteilt, die nicht mehr zusammen gehören. Ich möchte etwas sagen, will aus diesem Alptraum aufwachen, aber es kämpfen sich keine Worte an die Oberfläche. Ich bleibe stumm und mein Schicksal bleibt in den Händen von fremden Menschen. Menschen, die tagtäglich Leben retten. Trotzdem kann nicht jeder überleben. Ich will mir das Atemgerät vom Mund ziehen, die Schläuche aus meinen Armen reißen und den Sanitäter anschreien, dass er, was auch immer er da an meiner äußerlichen Hülle tut, sein lassen soll. Ich will Kaylas Hand halten und Darians Lachen hören. Ich will Elian in meine Arme nehmen und die Zeit zurückdrehen. Bevor ich jedoch auch nur einen Finger bewegen kann, drifte ich erneut ab. Das Bewusstsein, und mit ihm ein klein wenig Kontrolle, entgleiten mir und das Geschehen um mich herum verschwimmt immer mehr, bis ich schließlich erneut in den schwarzen Tiefen der Existenz verschwinde.
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Langsam, ganz langsam, kehre ich in die Realität zurück. Ich versuche meine Augen zu öffnen, aber sie wollen mir nicht gehorchen. Ebenso weigern sich all meine anderen Glieder, den Befehlen meines Gehirns zu folgen. Sofort verfalle ich in Panik. Das kann nicht wahr sein. Als wäre nicht alles schon schlimm genug, nein, der Horror geht weiter. Ich habe absolut keine Ahnung, wo ich mich befinde. Ich kann leise Stimmen wahrnehmen, doch nicht die Worte verstehen, die sie von sich geben. Vielleicht ist das hier die Hölle. Vielleicht ist das die Strafe, für die Diebstähle und dafür, dass ich die Versprechen an Elian nicht halten konnte. Dass ich alle um mich herum ständig enttäusche und so egoistisch bin. Wäre es nicht gerecht für immer so leiden zu müssen? In gewisser Weise existent zu sein, aber über keinerlei Macht über sich selbst zu verfügen?
Ich muss an die Beerdigung meiner Mutter damals denken und mir vorstellen, wie sie mich lebendig begraben. Dass dort draußen gerade meine eigene Beerdigung stattfindet. Ich in einem Sarg liege und so lange nach Sauerstoff schnappen werde, bis ich schlussendlich unter der Erde ersticke. Aber das kann nicht sein. Sie hätten bemerken müssen, dass ich atme und mein Herz schlägt. Und sie würden doch niemals einen Menschen auf diese Weise töten, egal wie gut oder schlecht er nun gewesen sein mag. Dann kommt mir der Gedanke, dass es vielleicht gar nicht real ist. Dass ich mir all das nur einbilde oder träume. Niemand weiß, was nach dem Tod geschieht, vielleicht ist es auch dieser Zustand.
Kayla und Darian würden niemals zulassen, dass ich so sehr leiden muss. Wissen sie überhaupt was geschehen ist? Hat ihnen jemand Bescheid gesagt? Sie angerufen und ihnen gesagt, wo ich mich befinde und dass ich sie brauche? Plötzlich bekomme ich Angst, dass auch die beiden nie real und nur eine Einbildung waren. Ich kann nicht mehr unterscheiden, ob das hier die Realität ist oder ob diese jemals wirklich existiert hat. Wenn ich könnte, würde ich weinen, mir die Haare ausreißen und meinen Körper zerkratzen, nur um etwas zu spüren. Etwas außer Angst und Ungewissheit. Was ist das hier alles? Ich versuche erneut einen Finger zu krümmen oder die Lider aufzuschlagen. Meinen Arm oder einen Mundwinkel etwas anzuheben. Doch nichts geschieht. Atme ich überhaupt? Schlägt mein Herz noch? Ich spüre nichts. Und nichts scheint eine Bedeutung zu haben und gleichzeitig ist alles wichtiger denn je.
Die Stimmen kommen immer näher und mit ihnen wächst die Panik in mir. Sie kriecht langsam von meinen Gedanken durch meinen ganzen Schädel, den Hals hinab ins Herz und verteilt sich von dort aus überall. Breitet sich wie tödliches Gift in meinem ganzen Körper aus. Bis in den kleinen Zehn und von dort wieder hinauf zu den Haarwurzeln. Ich bin, egal was nun kommen mag, schutzlos. Ich kann mich nicht wehren. Mich nicht einmal bemerkbar machen und noch nie habe ich in meinem Leben eine solche Ohnmacht gespürt.
„Ich kann nicht glauben, dass das wirklich passiert ist. Ich kenne Lorena schon so lange, aber dass sie dazu im Stande wäre, ihre eigene Schwester zu töten, hätte ich niemals geglaubt... Ich hätte mit Dela gehen müssen. Ich hätte sie nicht allein lassen dürfen. Ich hätte ihr glauben sollen, als sie dachte Lorena gesehen zu haben. Und jetzt stirbt sie."
„Sie wird es schaffen, Kayla. Wir kennen sie doch beide gut genug. Du hättest rein gar nichts daran ändern können. Wie hätte man auch wissen sollen, dass sie sich, nach allem was sie getan hat, tatsächlich nochmal her traut."
Ich kenne diese Stimmen. Eine Welle der Erleichterung überkommt mich, doch auch die Verzweiflung wird größer. Ich will mit ihnen reden, ihnen alles erzählen und sagen, dass alles wieder gut wird. Kayla scheint zu weinen, immer wieder höre ich tiefe Schluchzer und ihre Stimme zittert. Darian scheint gefasster, er versucht sicherlich es wie immer für alle leichter zu machen.
„Komm her."
Darian hört sich weich und sanft und nach Sicherheit an. Am liebsten würde ich mich an seinen warmen Körper schmiegen, seinen Duft einatmen und dieses Gefühl in mich einsaugen. Sicherlich tut Kayla nun genau das, denn ich höre wenige Schritte und das Rascheln von Stoff, was mich sofort an den sanften Wind in Italien erinnert, der die Blätter in den Bäumen zum singen gebracht hat. Was ich nicht alles dafür machen würde, wieder dort zu sein. Die Sonne auf meiner Haut zu genießen und das kühle Meerwasser auf meiner gebräunten Haut zu spüren. Es war wie ein Traum. Ein Zufluchtsort.
„Ich bin so froh, dass du da bist."
Kayla. Ich weiß nicht, wie lange ich mich schon in diesem Zustand befinde, aber obwohl ich sie vor kurzem noch in unserem Zuhause gesehen habe, vermisse ich sie so unendlich. Sie ist mein Zuhause. Sie ist mein Ein und Alles.
Mir ist bewusst, wie unglaublich glücklich ich mich schätzen kann, dass ich diese beiden Menschen in meinem Leben habe. Keine Worte der Welt und kein noch so komplizierter Satzbau könnten je ausdrücken, wie sehr ich diese beiden liebe. Ja, ich liebe sie. Ich liebe Darian. Und ich liebe Kayla. Niemals möchte ich einen von ihnen jemals wieder verlieren. Sie gehören zu mir und ich zu ihnen. Wo eben noch Panik und Verzweiflung herrschten, breitet sich nun eine unendliche Zuversicht und Ruhe aus. Sie sind bei mir. Egal was jetzt passiert, wenn sie da sind, bin ich in Sicherheit.
„Ich liebe sie so sehr."
„Ich auch, Kayla. Ich auch."
Ich würde ihnen gerne sagen, dass ich sie auch liebe. Dass sie die wichtigsten Menschen in meinem Leben sind. Ich spürte es schon immer bei Elian. Ich liebte und liebe ihn so sehr, dass sich jedes Mal, wenn ich an ihn denke, mein Herz zusammenzieht. Es wird ganz schwer, aber auf eine gute und auch schmerzvolle Art und Weise, die sich nicht richtig beschreiben lässt. Genau so geht es mir mit Darian und Kayla. Es ist noch einmal eine andere Art von Liebe und trotzdem ähneln sie sich. Dieses Gefühl nicht mehr ohne den anderen Leben zu wollen, diese Anziehung, die ich bei beiden verspüre. Das Verlangen ihnen nah zu sein.
Wenn ich das Geräusch richtig einordne, öffnet und schließt sich in diesem Moment eine Tür, mehrere Schritte sind zu hören und kurz darauf ertönt eine weibliche Stimme, die ich nicht zuordnen kann.
„Ich müsste Sie bitten, den Raum nun zu verlassen. Wir wollen sie aufwecken. Wenn alles funktioniert hat und sie wach ist, werde ich sie wieder hinein holen."
Erneut öffnet und schließt sich die Tür und mehrere Menschen scheinen um mir zu arbeiten. Je länger sie da sind, desto mehr Leben kehrt in meinen Körper ein. Nach einiger Zeit schaffe ich es, meine Augen zu öffnen und blicke erst noch in das verschwommene lächelnde Gesicht einer Frau mittleren Alters. Ihre Haut ist straff und leicht gebräunt, die dunkeln Augen blitzen mir freundlich entgegen und lässt sie die Erschöpfung ein wenig älter wirken.
„Schön, dass sie wieder da sind." Es scheint die Frau zu sein, die auch schon am Anfang gesprochen hat. „Mein Name ist Doktor Christina Ehrlich, ich behandle sie. Sie haben für mehrere Tage geschlafen, weswegen sie sich jetzt noch stark ausruhen müssen. Bewegen sie sich bitte so wenig wie möglich, auch um zu verhindern, dass die Stichwunde erneut aufreißt. Sie hatten großes Glück, junge Dame."
Es sind so viele Informationen auf einmal, dass ich überhaupt nicht hinterher komme und nur zum Teil verstehe, was sie da gesagt hat. Aber ich mache mir darüber keine großen Gedanken, da ich es in den nächsten Tagen vermutlich noch oft genug hören werde. Ich habe überlebt. Ich lebe. Es war so riskant und trotzdem hat es funktioniert. Meine Zeit hier ist noch nicht vorüber. Vorerst zumindest.
„Ich werde Sie in einer Stunde erneut besuchen, falls bis dahin irgendetwas sein sollte, drücken Sie bitte den roten Knopf dort", sie zeigt auf einen kleinen Schalter, der direkt neben meiner rechten Hand liegt. „Ich werde Ihren Besuch nun kurz hereinlassen, aber dann sollten Sie wieder schlafen."
Die Ärztin schenkt mir ein letztes Lächeln, bevor sie den Raum mit ihrem Team verlässt. Kaum ist die weiße Tür zu, wird sie direkt wieder aufgerissen und eine verheulte Kayla tritt ein, der ein lauter Schluchzer entfährt, sobald sie mich sieht. Darian folgt ihr und atmet erleichtert auf, bevor auch er zu weinen beginnt. Da mich der Anblick der beiden derartig überwältigt, kullern auch über meine Wangen nicht gerade wenige Tränen.
Kaylas Haare liegen wild auf ihrem Kopf, die Wimperntusche ist fast über ihr ganzes Gesicht verteilt, besonders um ihre geschwollenen Augen und trotzdem sieht sie umwerfender aus als eh und je. Darian habe ich wohl kaum jemals so fertig gesehen, die Augenringe sind tief und seine Wangen sind eingefallen. Trotzdem leuchten mich seine dunklen, braunen Augen an und sein schiefes verschmitztes Lächeln blitzt kurz auf. Ich will überhaupt nicht wissen, wie ich aussehe und wie sehr ich stinken muss, doch als sie sich an jeweils eine Seite setzen, ist all das vergessen und ich weiß, dass ich eine Menge zu erzählen habe und sie mir auch.
Aber vorerst möchte ich ihre warmen Hände in meinen genießen und dankbar dafür sein, dass ich diesen Moment überhaupt noch einmal erleben darf.
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