Kapitel 33

Die Luft brennt in meiner Lunge, während sich dicke Regentropfen wie ein kalter Mantel um mich legen und sich gleichzeitig mit dem Schweiß vermischen, der sich seinen Weg entlang meiner Schläfen bahnt. Meine Beine tragen mich so schnell wie möglich zurück zu unserer Wohnung. Beinahe fühlt es sich an, als könnte ich fliegen. Das Gefühl der Überlegenheit ist ein ganz neues, da ich mein Leben lang nur von meiner großen Schwester, und auch von meinem Vater, erniedrigt wurde. Ein Leben lang haben sie mir eingeredet, dass ich nichts wert sei. Dass ich schwach sei. Dass es nicht möglich wäre mich zu lieben. Wenn ich Mama und Kayla sowie Darian nicht gehabt hätte, wäre ich wahrscheinlich schon am Selbsthass zerbrochen. Denn sie haben mir gezeigt, dass ich wertvoll bin. Dass ich stark bin. Und dass man mich lieben kann.

Unter normalen Umständen hätte ich schon lange eine Pause machen müssen. Mein Körper fühlt sich an als würde er in Flammen stehen, doch auch in mir scheint ein Feuer entflammt zu sein, das mich nicht aufgeben oder langsamer werden lässt. Eine halbe Stunde ist nicht gerade viel Zeit. Jedoch hängt mein Leben davon ab. Es ist meine einzige Chance Elian wiederzusehen. Ihm sagen zu können, wie leid es mir tut. Ihm vor allem jedoch die Wahrheit sagen zu können. Ihn endlich wieder in die Arme zu nehmen. Wenn er das denn überhaupt noch will. Immerhin ist eine sehr lange Zeit vergangen, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben. Außerdem denkt er, ich sei eine Kriminelle, die ihn für Geld verlassen und mit unserem gestörten Vater allein gelassen hat. Es ist jedoch genau diese Gestörtheit, die mir nun in die Karten spielt. Jeder normale Vater würde sein Kind trotzdem lieben. Egal ob es nun sein biologisches Kind ist oder auch nicht. Aber nicht unser Vater. Er kann nur sich selbst lieben. Lorena liebte er nur, weil sie so sehr wie er ist. Sein Ebenbild. Und das natürlich, weil sein Blut durch ihre Adern fließt. Vielleicht hat er sie sogar nie geliebt, sondern sie nur am meisten toleriert. Das würde zu ihm passen.

Als ich um die Ecke biege, kann ich schon unser Wohnhaus entdecken. Die letzten Meter fühlen sich länger als der ganze bereits zurückgelegte Weg an. Ich reiße die Tür zum Treppenhaus auf, springe die Treppenstufen hoch und öffne schließlich wenige Sekunden später unsere Wohnungstür. Kurz verschnaufe ich, doch reiße mich daraufhin wieder zusammen und gehe zielstrebig zu der Schublade in unserem Schlafzimmer, in der auch der Brief der Frau liegt, der mir ins Gefängnis geschickt wurde. Ich reiße sie auf und beginne alles herauszuholen, was obendrauf liegt, aber gerade nicht von Bedeutung ist.

Mein Herz scheint stehen zu bleiben, als die Schublade leer ist, aber ich das Dokument immer noch nicht in meinen Händen halte. Das kann nicht sein. Das kann einfach nicht wahr sein. Wenn es nicht hier ist, ist es im alten Haus. Oder im schlimmsten Fall sogar verschwunden. All die Hoffnung schwindet mit einem Mal aus meinem Körper und ich spüre auch, wie mir all das Blut aus dem Gesicht weicht und ich leichenblass sein muss. Das könnte das Ende bedeuten. Es könnte bedeuten, dass Elian mir doch entfernt bleibt und es immer bleiben wird. Tränen wollen sich an die Oberfläche kämpfen, aber ich werde nicht schwach werden. Nicht jetzt. Aggressiv reibe ich über meine Augen, um meine Sicht wieder klar zu machen und durchsuche erneut den Stapel an Papieren.

Und da ist es. Auf dem Dokument steht es schwarz auf weiß geschrieben. Es werden ein paar Buchstaben sein, welche die Macht haben, alles zum Guten zu wenden. Ich will keine Rache. Es geht mir nicht darum Lorena zu verletzen. Ich möchte nur Elian zurück und mit der Vergangenheit abschließen können. Ich möchte meinen Frieden. Ich möchte endlich alles loslassen und von vorne beginnen können. Mir selbst die Chance geben, glücklich zu sein.

All die Anspannung entweicht meinem Körper. Ein erleichtertes Lachen entflieht mir, bevor ich mich schnell aufraffe und meine Beine mich erneut aus dem Wohnkomplex heraustragen und meine Schuhsohlen schließlich den schwarzen Teer berühren. Meine Füße kommen fast so schnell auf dem Boden auf wie mein Herz schlägt und ich bekomme das Lächeln schon nicht mehr aus meinem Gesicht. Jedoch verbiete ich mir dieses wieder, da das Spiel mit Lorena noch nicht beendet ist. So wie ich sie kenne, wird sie nicht kampflos aufgeben. Und es würde mich nicht wundern, wenn sie noch einen Weg findet, mich zu überlisten. Sie ist vollkommen verrückt, aber keineswegs dumm. Im Gegenteil, sie ist einer der schlausten Menschen, die ich kenne. Aber auch einer der Arrogantesten. Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. Sie denkt sie sei unbesiegbar, nur stellt sich die Frage, ob ihr auch bewusst ist, dass es oft diese Einstellung ist, die letztendlich den Fall bedeutet.

Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich noch fünf Minuten Zeit habe, doch ich erblicke schon die Gasse, in der ich Lorena nach all den Jahren vor einer halben Stunde begegnet bin. Meine Vermutung, dass sie bereits da sein würde, erfüllt sich. Nur hat sie mich noch nicht entdeckt. Das berechnende, abstoßende Lächeln schmückt nicht mehr ihr Gesicht und all die Selbstsicherheit scheint aus ihr gewichen zu sein. Sie läuft beinahe nervös hin und her und ist tief in Gedanken versunken. Ihren Kopf hält sie gesenkt, ihre Schultern hängen leicht. Es sieht ihr nicht ähnlich. Und das lässt mich nur noch selbstsicherer werden. Noch nie konnte ich mich gegen sie wehren, das hat sie wohl nun etwas aus der Bahn geschmissen.

Ungefähr zehn Meter vor meinem Ziel bemerkt sie mich endlich. Sofort ändert sich ihre Körperhaltung sowie ihre Mimik. Lorena setzt eine Maske auf, spielt dasselbe Schauspiel wie immer. Doch dieses Mal habe ich bereits gesehen, was darunter steckt. Ein armes, unsicheres Mädchen, welches sich auch nur nach Liebe sehnt. Das jedoch narzisstisch, selbstsüchtig und psychopathisch geworden ist. Ein Mensch, der keine Grenzen mehr kennt und der nach seinen ganz eigenen Regeln spielt.

Ich hatte sie vergöttert. In meinen Augen war sie perfekt. Jetzt ist es mir nur noch ein Rätsel warum. Sie hat nichts an sich, was man mögen könnte. Was erstrebenswert ist. Was liebenswert ist.

„Du kannst zwar sonst nichts, aber wenigstens bist du pünktlich." Sie grinst verschmitzt und denkt wahrscheinlich, dass sie so ihre Maskerade aufrecht erhalten kann, jedoch ist die Hysterie in ihrer Stimme nicht zu überhören. „Gib mir den Vaterschaftstest und ich sage dir, wo sie sind."

„Denkst du wirklich, dass ich so dumm bin, Lorena? Du bist die hinterhältigste Schlange, die ich kenne. Du kannst ihn dir gerne anschauen, aber bevor du ihn in den Händen halten kannst, bringst du mich erst zu ihnen. Ich schwöre, dass ich Papa nie etwas sagen werde, wenn du das tust. Und du weißt, dass ich meine Versprechen immer halte."

Ich blicke intensiv in ihre Augen, in denen ich mein eigenes Spiegelbild erkennen kann. Ihre Pupillen sind geweitet und für einen kurzen Moment frage ich mich, ob sie vielleicht Drogen konsumiert. Ihre Augen scannen mein ganzes Gesicht ab, springen schnell von einem Punkt zum anderen und schauen sich dann wieder angespannt in der Gegend um uns herum um. Mich beschleicht ein ungutes Gefühl. Will sie wegrennen? Oder hat sie vielleicht noch etwas viel Schlimmeres vor?

„Schlangen sind wunderschöne, intelligente und geniale Tiere, ich fühle mich geehrt. Wenn du mich weiter so mit Komplimenten zuschüttest, werde ich noch rot. Das passt leider gar nicht zu meinem Teint und meinen Augen, aber du hast es sicher nur gut gemeint. Mit deinem Herzen aus Gold." Sie schnauft verachtend und tritt einen Schritt näher an mich, woraufhin ich sofort wieder einen zurücktrete.

Und da sehe ich es plötzlich.

„Dann zeig mal her. Wie fühlt sich das so an, auch mal was zu sagen zu haben? Das Gefühl macht süchtig, oder?"

Ihre Worte dringen zwar zu meinen Ohren vor, doch das Gesagte kommt nicht wirklich in meinem Gehirn an. Denn die Gedanken dort überschlagen sich. Ich kann nicht verhindern, dass meine Augen immer wieder zu ihrer Hand huschen und ich einen weiteren Schritt zurücktrete. Lorena scheint in diesem Moment zu verstehen, da sich ein wissendes Lächeln auf ihren Lippen ausbreitet und sie den hergestellten Abstand zu mir wieder schließt. Mein Rücken drängt sich nah an die Hauswand hinter mir. Ich kann mich nicht bewegen. Jede Entscheidung, die ich jetzt treffe, könnte tödlich enden. Nie hatte ich so sehr Angst um mein Leben.

„Ahh, du hast es entdeckt. Papa hat es mir mal geschenkt, weißt du noch?"

In Erinnerungen schwelgend betrachtet sie lächelnd das Messer, bevor sie es über meine Wangen streifen lässt.

„Es sieht sehr gut an dir aus, aber sicherlich noch besser in deiner Brust. Ich muss zugeben, mein rotes Kleid hat dir wunderbar gestanden. Rot scheint deine Farbe zu sein. Blaue Haut steht dir sicherlich auch ganz gut. Passt zu deinen Augen."

Sie wird mich umbringen. Meine eigene Schwester wird mich umbringen. Niemals hätte ich gedacht, dass sie dazu in der Lage wäre. Schreien ist keine Möglichkeit. Sie wird mich sofort abstechen und bevor ein Passant bei mir ist, ist sie lange verschwunden. Sie darf nicht wieder davon kommen. Sie ist krank. Sie ist nicht nur eine Gefahr für mich, sondern für alle. Ich könnte versuchen das Messer zu entwenden, aber auch dann könnte sie verschwinden oder sie verletzt mich trotzdem. Vielleicht muss auch ich sie verletzen und dann hat sie erneut etwas gegen mich in der Hand. Ich würde aufgrund meiner Vorstrafe sofort wieder ins Gefängnis wandern. Das darf nicht passieren. All diese Gedanken schießen in kürzester Zeit durch meinen Kopf. Mein Herz pocht laut in meinen Ohren, Lorena muss meine Angst riechen und hören können.

Ich wünschte, Darian und Kayla wären hier. Ich wünschte, meine Mama wäre da, um mich zu beschützen. So wie sie es auch immer früher getan hat. Ich will nicht gehen, ohne mich zu verabschieden. Ich will nicht gehen, ohne Elian nochmal zu sehen. Und ich will nicht gehen, ohne Lorena vorher zu stoppen.

„Du bist krank, Lorena. Willst du mich wirklich umbringen? Damit überschreitest du eine Grenze, hinter die du nie wieder treten kannst. Ich bin deine Schwester. Ich habe dich immer geliebt. Ich kann dir helfen. Ich helfe dir gesund zu werden."

Meine Stimme zittert, während ich flehend auf sie einrede, doch alle Worte prallen an ihr ab. Es hat keinen Zweck. Doch ich muss trotzdem weiter Zeit schinden.

„Wir sind doch alle irgendwie krank. Du. Ich. Papa. Die Grenze habe ich schon lange überschritten. Ein Zurück gibt es sowieso nicht mehr. Ich bin Gott, Adela. Ich lasse Recht walten und richte. Ich entscheide, ob du lebst oder nicht. Es gibt nur einen Unterschied zwischen Gott und mir. Er ist gütiger."

Kurz bevor sie ihren Satz beendet schaue ich nach links, da ich ihrem Blick nicht mehr Stand halten kann. Ein Mann scheint uns zu beobachten und genau in diesem Moment treffe ich eine Entscheidung. Eine Entscheidung, die alles verändern wird. Die mich töten und zugleich auferstehen lassen kann.

Blitzschnell umfasse ich mit beiden Händen Lorenas Hand, in der das silberne Messer mit dem schönen dunklen Holzgriff liegt, in dem ein Schmetterling eingeschnitzt ist und stoße es in meinen Bauch.

Die ganze Welt scheint in diesem Moment stehen zu bleiben. Ein unglaublicher Schmerz durchfährt mich und breitet sich in meinem ganzen Körper aus. Während ich an der Wand hinab auf den Boden gleite, verhaken sich meine und die Augen meiner Schwester. Mein Kopf ist gähnend leer. Ich sehe sie an und sehe mich selbst. Ich sehe die Person, die ich war und die ich jetzt bin. Alles scheint in Zeitlupe zu geschehen. Lorena bleibt geschockt an Ort und Stelle wie gelähmt stehen. Darauf hatte ich gehofft. Sie hat nicht damit gerechnet. Ich konnte den Moment der Überraschung ausnutzen. Ihr Blick ist leer und ihr Gesicht emotionslos. Sie scheint sich nicht mehr in ihrem Körper zu befinden.

Es fühlt sich an als wäre ich in Watte eingepackt. Als wäre nichts von alldem real. Als wäre nichts jemals real gewesen. Meine Schmerzen sind nicht real. Das Blut, das aus meiner Wunde strömt, den Teer dunkelrot färbt und an meinen Fingern klebt, ist nicht real. Und es scheint auch nicht real, als ein Mann an meinen Schultern schüttelt und etwas auf meinen Bauch drückt. Ich höre laute Stimmen, doch nichts dringt zu mir durch.

Ich habe mich geopfert. Sie werden Lorena fassen können und sie wird Hilfe bekommen. Sie wird keinen Schaden mehr anrichten können. Kurz bevor alles schwarz wird, ziehen sich meine Mundwinkel nach oben und lächeln Lorena an. Aber nicht aus Spott, sondern weil ich ihr verzeihe. Ich verzeihe meinem Vater. Ich verzeihe meine schlechten Entscheidungen und lasse all meine Schmerzen und Probleme los. Ich verzeihe mir selbst. Das Blut strömt weiterhin in Mengen aus meiner Wunde, doch ich bin so zufrieden wie schon lange nicht mehr.

Ich fliege endlich. Aus dem kleinen Würmchen ist ein Schmetterling geworden. Und alles fühlt sich so unglaublich leicht an.

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