Kapitel 32
Die Stofftüte baumelt leicht an meiner Hand, während ich leise summend auf dem Weg zum Supermarkt bin. Heute Morgen hatte noch die Sonne geschienen, doch mittlerweile ist der Himmel von dunklen Regenwolken überzogen, weswegen ich hoffe, dass ich es noch trocken zum Geschäft schaffe. Normalerweise wäre Kayla mitgekommen, da wir sonst immer zusammen einkaufen, jedoch musste sie eine Schicht übernehmen und Darian konnte ich auch nicht fragen.
Bis zu meinem Ziel sind es einige Blocks. Wenn wir genug Geld hätten, würde ich mit der U-Bahn fahren. Natürlich könnte ich auch schwarzfahren, aber dafür ist mir der Weg dann doch zu kurz und das Risiko, erwischt zu werden, zu hoch. Ich lasse meinen Blick über die Häuser und Menschen wandern und denke dabei mit einem kleinen Grinsen an den gestrigen Abend. Kayla und ich hatten es uns auf der Couch gemütlich gemacht, mit Darian telefoniert, dem es unglaublich gut in Frankreich gefällt, und danach gekuschelt.
Normalerweise fällt es mir eher schwer körperliche Nähe zuzulassen, seitdem Mama tot ist, aber mit Kayla fühlt sich alles ganz natürlich und einfach an. Wir hatten auch schon zuvor gekuschelt, dieses Mal war es hingegen intimer. Tiefergehend. Emotionaler.
In mir macht sich immer mehr der Gedanke und die Vorstellung von uns als Paar breit. Eigentlich spricht nichts dagegen. Es ist nur diese Unsicherheit, die immer noch in mir wütet und alles durcheinanderbringt. Warum muss vieles so schwer sein? Warum kann ich mich nicht einfach überwinden und alles, was noch folgt, auf mich zukommen lassen? Wieso müssen mich meine Gedanken immer erst fast umbringen, bevor ich richtig leben kann?
Und dann ist da auch noch Darian, den ich ebenfalls unglaublich gern habe. Keine Frage, es würde ihn sicherlich verletzen, wenn Kayla und ich zusammenkommen. Das will ich jedoch nicht, dafür ist er mir viel zu wichtig. Auch seine Nähe und Anwesenheit genieße ich. Beide geben mir ein Gefühl von Sicher- und Geborgenheit, das mir sonst noch niemand zuvor geben konnte. Darian sprach von so etwas wie Polyamorie, aber kann es denn wirklich funktionieren eine Beziehung mit zwei Personen zu führen? Könnte ich es mir überhaupt vorstellen?
Es ist möglich zwei Menschen zu lieben, oder? Warum sollte man dann einen von ihnen fallen lassen, wenn man nicht auch beide haben kann? Fragen über Fragen, auf die ich keine wirkliche Antwort finden kann. Vielleicht ist die einzige Lösung es einfach auszuprobieren. Was nützt schon das ganze Kopfzerbrechen?
Heute ist einer der Tage, an denen ich mich schon wieder beobachtet fühle. Als würde ständig ein Augenpaar auf mir liegen, das ich nicht entdecken kann. In letzter Zeit geht es mir immer öfter so, was großes Unbehagen in mir auslöst. Fast schon paranoid drehe ich mich während des Laufens hinten, doch ich kann nichts entdecken. Mit meinem Blick scanne ich auch die restliche Umgebung ab, bis meine Augen plötzlich auf etwas Ungewöhnliches fallen.
Oder wohl eher jemand Ungewöhnlichen.
Ich bleibe ruckartig auf dem überfüllten Gehweg stehen, was einige Menschen mit einem verärgerten Murren kommentieren, doch ich nehme es nicht wahr. Alles in meinem Körper ist zum Zerreißen gespannt, während mein Herz in Höchstgeschwindigkeit Unmengen an Blut durch diesen pumpt. Das kann nicht sein. Das kann einfach nicht wahr sein. Ich muss mich täuschen. Niemals ist es möglich, dass sie nach all den Jahren einfach so in einer kleinen Gasse steht.
Mir wird klar, dass ich nie paranoid war. Sie hat mich beobachtet, schon seit Wochen. Und nun ist wohl der große Showdown gekommen.
Meine Hände zittern unaufhörlich, mir ist heiß und kalt zugleich und ich drücke die Zähne fest zusammen. Nach der ersten Welle des Schocks machen sich nun Wut und Hass in mir breit. Das Blut, das durch meine Adern fließt, unser Blut, beginnt zu kochen. Wie kann sie nur nach allem, was sie getan hat, hier aufkreuzen als wäre nichts gewesen.
Ihre hellblauen Augen bohren sich in meine, während sie lässig an einer Hauswand angelehnt steht. Das falsche und widerwärtigste Lächeln macht sich auf ihren Lippen breit. Sie denkt, dass sie überlegen ist. Dass sie über allem steht und dass sie mit mir und allen anderen machen kann, was sie will. Aber diese Zeiten sind endgültig vorbei.
Ohne auch nur wirklich auf die fahrenden Autos zu achten, überquere ich die Straße und bewege mich mit schnellen, festen Schritten auf sie zu. Ich will ihr allein so schon zeigen, dass ich nicht mehr die kleine, schwache Adela von früher bin. Ich will ihr zeigen, dass ich ihr die Stirn bieten kann und es auch werde.
Bei ihr angekommen umfasse ich, bevor sie irgendetwas sagen kann, ihre Kehle mit meinen Händen und drücke sie so gegen die Wand hinter ihr. Kurz scheint sie die Fassung zu verlieren, doch dann klebt sich wieder dieses abstoßende und erniedrigende Lächeln auf ihren Lippen fest, was mich noch fester zudrücken lässt. Ich spüre die Ader an meiner Stirn pochen und den Hass immer mehr in mir emporsprudeln.
„Freut mich auch dich wiederzusehen, Schwesterherz", presst sie außer Atem hervor. „Du solltest loslassen, die Leute gucken schon. Nicht, dass noch einer die Polizei ruft und du schon wieder im Knast landest."
Ruckartig wende ich meinen Kopf zur Straße und tatsächlich spähen einige Passanten interessiert herüber, weswegen ich meine Hände von ihrem Hals entferne und stattdessen unauffällig ihre Handgelenke fixiere. Wegrennen kann Lorena am besten, aber dieses Mal wird sie sicher nicht entkommen.
Voller Abneigung blicke ich in ihre eiskalten Augen, die mich kampflustig und verspottend ansehen. Sie nimmt mich immer noch nicht ernst. Hält sich für etwas Besseres. Für unbesiegbar.
„Unsere erste Begegnung nach all der Zeit hätte ich mir ehrlich gesagt... Liebevoller vorgestellt. Ich bin schließlich deine große Schwester. Hast du mich denn nicht vermisst, Würmchen?"
Lorena sieht noch genauso aus wie früher, sie hat sich kein bisschen verändert. Nur scheint sie noch gestörter und kälter geworden zu sein. Ich habe sie nicht vermisst, ganz und gar nicht. Nicht ihre gespielt freundliche Stimme, nicht ihre Maske und auch nicht ihre Intrigen. Gar nichts an ihr.
„Wo ist Elian?", bringe ich gerade so zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ich will nichts von ihrem Geschwafel hören. Ich will nichts mit ihr zu tun haben. Ich will einfach nur Elian wiedersehen und in meine Arme schließen können.
„Na na na, lass uns doch erst ein wenig quatschen, es ist schließlich so viel passiert, während ich weg war. Du bist jetzt wohl eine amateurhafte Kleinkriminelle und eine Lesbe noch dazu. Passt zu dir." Sie macht eine kleine Pause, um den Schmerz zu genießen, den sie mir mit jedem ihrer Worte zufügt. Stupst meine Nase an, als wäre ich ein Kleinkind.
„Aus dir wäre auch ohne unseren kleinen Vorfall nichts geworden. Ich beobachte dich seit Wochen und du bemerkst es einfach nicht. Meine Zeit als leidende Schwester, unter Palmen und viel Geld, war jedenfalls sehr hart. Aber jetzt habe ich mich ja dazu entschieden zurückzukommen", schmollt sie gespielt.
Wenn ich könnte, würde ich ihr den Hals umdrehen. Würde sie wortwörtlich umbringen, doch dort ist immer noch dieser verschissene Teil in mir, der schreit, dass sie meine Schwester ist, die ich immer so sehr geliebt habe. Auf komische Art und Weise liebe ich sie unter all dem Hass immer noch.
Ich lache fast schon verrückt auf, bevor ich wieder die wutverzerrte Grimasse aufsetze, die wohl am besten zu diesem grotesken Szenario passt.
„Wie konntest du verschwinden?"
„Es war alles so schrecklich einfach, Schätzchen. Du hast es mir so schrecklich einfach gemacht", beginnt sie zu erzählen. „Es war fast schon süß, wie sehr du dich darüber gefreut hast, dass du mit mir tanzen darfst. Und über diese bescheuerte schwarze Sporttasche."
Sie lacht belustigt auf, was mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen lässt.
„Als ob ich dir ohne Hintergedanken irgendetwas schenken würde. Aber du bist ja so schrecklich naiv und weich. Ein kleines Würmchen eben."
Ich versuche all die Worte, die ich ihr am liebsten entgegen spucken würde, zurückzuhalten. Es ist Zeit, dass ich erfahre, was hinter alldem gesteckt hat. Vielleicht kann ich sie sogar besser verstehen, auch wenn ich es bezweifele. Wegen Lorena bin ich durch die Hölle gegangen und das kann nie wieder rückgängig gemacht werden. Wegen Lorena ist mein ganzes Leben zerstört.
„Während du vor der Bank auf mich gewartet hast, habe ich drinnen alles ausgeräumt und bin dann durch die Hintertür verschwunden, nachdem alle mit der Omi beschäftigt waren, die den Herzinfarkt erlitten hat. Die Alte hat mir fabelhaft in die Karten gespielt. Alles war genau geplant und meine Pläne gehen immer auf. Ich habe die Maske getragen, von der ich eine zweite in deine Tasche gelegt habe, die genau wie die aussah, in die ich das Geld gepackt habe. Wir sehen uns so unglaublich ähnlich, sind ähnlich gebaut und hatten auch noch wegen des Tanzens dasselbe Outfit an." Amüsiert blickt sie nach oben, scheint die Erinnerung nur so zu genießen. „Während ich verschwunden bin, haben sie dich geschnappt, nicht? Dachten, dass du versucht hättest auf unschuldige Passantin zu machen. Die kleine Summe Geld, die ich in deine Tasche gelegt habe, reichte schon dafür aus, dass sie an deine Schuld glaubten. Alles hat gegen dich gesprochen. Ich habe extra in die Überwachungskamera gelächelt, damit sie die Maske schön drauf haben. Und deine DNA habe ich sogar auch am Tatort hinterlassen. Gott, es war so perfekt."
Lorena schließt mit einem zufriedenen Lächeln die Augen und scheint den Überfall noch einmal ganz in ihrem Kopf durchzugehen. Aber es ist keine Reue oder sonstiges zu erkennen, im Gegenteil. Sie genießt es. Sie ist stolz. Gänsehaut zieht sich über meinen ganzen Körper, während ich das Gefühl habe kotzen zu müssen. Lorena ist krank.
„Zu Hause habe ich dann die verstörte Angehörige gespielt, die nicht damit klarkommt, dass ihre ach so geliebte Schwester kriminell ist. Alle haben schließlich über dich und uns geredet, meine armen Nerven waren da zu schwach für. Also bin ich verreist. Mit dem Geld. Aber genug von meiner Wenigkeit, wie war es im Gefängnis?"
„Warum? Warum, verdammte Scheiße?!", brülle ich ihr fast schon entgegen. Warum ich? Warum musste sie mir das antun? „Ich war unschuldig im Gefängnis. Mir hat absolut niemand geglaubt. Ich war allein. Ich habe die Hölle durchgemacht wegen dir. Alles verloren. Mein ganzes Leben ist ruiniert. Ich will eine verdammte Antwort!"
„Menschen sind wie Figuren auf einem Schachbrett. Wenn man gewinnen will, müssen andere fallen."
Lorena blickt mir nun ernst entgegen, während sich bei mir die Tränen an die Oberfläche kämpfen wollen, doch ich darf keine Schwäche zeigen. Nicht vor ihr. Nicht schon wieder.
„Immer warst du Mamas Liebling. Du warst so brav und ekelhaft nett. Ein wahrer Engel. Ich konnte dich nie wirklich leiden und da warst du eben das perfekte Opfer." Sie zuckt mit den Schultern. „Papa liebt nur mich. Ich bin die Einzige, die es verdient hat von ihm geliebt zu werden."
Nun spuckt sie mir ihre Worte entgegen, die wie Scherben in meine Haut schneiden und tiefe Wunden hinterlassen, die nie wieder ganz heilen werden.
„Papa ist mir scheißegal. Ich will nur Elian wiedersehen", gebe ich mit brüchiger Stimme zu. Wenn ich mein Ziel erreichen will, muss ich ebenfalls spielen. Mein König darf nicht zu Boden gehen, aber das geht nur, wenn ich auch Lorenas Spieler schmeiße.
„Es ist ja schön, dass dich Papa so sehr liebt, aber wird er das auch noch, wenn er erfährt, dass du nicht seine leibliche Tochter bist?"
Damit lasse ich die Bombe platzen. Gehe auf alles oder nichts. Das hier ist mein einziges Druckmittel. Papa liebt nur sich selbst. Und Lorena liebt er, weil sie ihm so verdammt ähnlich ist. Wenn er jedoch erfährt, dass sie durch Betrug und Verrat entstanden ist... Wenn er erfährt, dass nicht sein Blut durch ihre Adern fließt, wird er sie verstoßen.
„Wenn du mich nicht zu Elian bringst, lasse ich in allen Radios, in den Nachrichten und sonst überall verkünden, dass du nicht seine Tochter bist. Glaub mir, selbst wenn ich dafür sterben müsste, ich finde einen Weg, damit er es herausfindet. Und dann liebt er dich nicht mehr. Dann liebt dich niemand mehr."
Lorena entgleiten alle Gesichtszüge und eine nie zuvor gesehene Panik tritt auf ihr Gesicht. Sie sitzt in der Zwickmühle und das weiß sie auch. Ich habe die Oberhand.
„Ich mach dir jetzt einen Vorschlag, hör gut zu", raune ich nah an ihr Ohr. „Ich gebe dir den Vaterschaftstest, der beweist, dass du nicht Papas leibliche Tochter bist. Im Gegenzug bringst du mich zu ihnen."
Kurz bevor Mama gestorben war, hatte sie mir die Wahrheit offenbart und mir dieses Dokument anvertraut. Ich bin die Einzige, die von Mamas Ausrutscher weiß. Sie hat es immer geheim gehalten. In diesem Moment bin ich ihr für nichts mehr dankbar als dafür. Dieses Dokument könnte mein Leben retten. Könnte mich endlich zu Elian bringen.
„Hol die Papiere. Wir treffen uns in einer halben Stunde wieder hier", bemerkt sie nach längerem Überlegen trocken, reißt sich von mir los und verschwindet in der Dunkelheit der Gasse.
Ich spiele mit dem Feuer. Und ich darf mich verdammt nicht noch ein zweites Mal an ihr verbrennen. Vielleicht ist es nämlich dann mein endgültiger Tod.
Jetzt muss ich aber erst zurück zur Wohnung. Ich darf keine Zeit mehr verlieren, denn mein Leben habe ich schon viel zu lange mit Warten verbracht.
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