Kapitel 30
Die Sonne steht bereits relativ tief am Himmel und wirft ihr goldenes Licht durch unser Küchenfenster. Die warmen Strahlen kitzeln auf meiner Haut und lassen gleichzeitig die Partikel in der Luft tanzen. Ob es Walzer oder Tango ist, kann ich nicht sagen, aber sie sehen dabei wie glitzernde Punkte aus. In dem richtigen Licht wird selbst Staub zu Gold. Zumindest erscheint es so.
Ich war erst nachmittags aufgestanden und hatte die Zeit danach mit aufräumen und putzen verbracht. Kayla war schon nicht mehr zu Hause, da sie arbeiten musste, weswegen mich seitdem eine ungewohnte Stille umgibt, die lediglich von meinem Summen und dem leisen Brummen der Mikrowelle durchbrochen wird.
Wir haben seit dem Kuss heute Morgen nicht mehr wirklich miteinander geredet, was ein mulmiges und nervöses Gefühl in meiner Magengegend hinterlässt, das mit dem warmen und sicheren konkurriert. Wie wird es wohl jetzt zwischen uns laufen? Und noch viel wichtiger, was soll die Zukunft bringen? Ich hatte gehofft, dass mir eine Runde Schlaf Klarheit bringen würde. Trotzdem bin ich mir nicht hundertprozentig sicher, was ich mir genau wünsche. Das leichte Kribbeln auf meinen Lippen und in meinem Bauch will jedenfalls nicht verschwinden.
Ich schaue dem Teller mit den Dosenravioli dabei zu wie, er sich fröhlich im Kreis dreht und dabei erwärmt wird. Es ist jetzt der dritte Tag in Folge, an dem ich diese Mahlzeit zu mir nehme. Wahrscheinlich wird es auch vorerst bei Ravioli, Toast und Dosensuppe bleiben.
Wir können nicht mehr in den Clubs klauen gehen, das Risiko ist mir zu hoch. Außerdem ist Kayla nun schon auf dem Revier registriert und wenn die Betreiber nicht ganz dumm sind, haben sie andere Clubs über die Taschendiebstähle informiert. Sicherlich finden ab jetzt genauere Kontrollen beim Ein- und Ausgehen statt. Wir können uns zwar keine Luxusgüter leisten, aber weitere Straftaten noch weniger. Eine Pause vom Kriminellen ist fürs Erste die beste Entscheidung. Mit den vorherigen Diebstählen haben wir uns ein kleines Polster aufgebaut, das vorerst für das Nötige und Notfälle reichen sollte.
Das Piepen der Mikrowelle wird von einem lauten Klopfen begleitet, weswegen ich zur Tür laufe, um diese zu öffnen. Die Klingel ist seit vorgestern kaputt. Meine Vermutung, dass es Darian ist, bestätigt sich als er mir breit grinsend und definitiv erholt entgegenblickt.
„Hey", begrüßt er mich fröhlich und schließt mich gleich darauf in eine Umarmung, die ich sofort erwidere. Bei all der Verwirrung und Unsicherheit fühlt sich Darian wie mein sicherer Fels in der Brandung an. Ich weiß, dass ich mich immer auf ihn verlassen kann und dass er mich nie im Stich lassen würde.
„Du schon wieder", gebe ich neckend zurück.
Darian schaut gespielt verletzt drein und zieht sich das imaginäre Messer aus seiner Brust, woraufhin ich leise Lache.
„Ich rieche Essen."
Mit diesen Worten streift er seine Schuhe ab und lässt mich wortlos an der offenen Tür stehen, während er schnurstracks in die Küche marschiert. Kopfschüttelnd folge ich ihm und will den Teller herausholen, doch Darian ist mir zuvorgekommen. Die erste Gabel Ravioli landet bereits in seinem Mund, was mir die Kinnlade runterklappen lässt.
„Was glaubst du eigentlich, wer du bist?!"
Ich will nach dem Teller greifen, doch er kommt mir zuvor, indem er seinen Arm nach oben streckt und aufsteht. Da Darian mindestens einen Kopf größer als ich ist, habe ich absolut keine Chance heranzukommen.
„Du bist so ein Arsch! Ich sterbe vor Hunger, das ist die letzte Portion", lüge ich wie gedruckt, womit ich jedoch mein Ziel erreiche.
„Tut mir leid, wusste ich nicht." Beschämt gibt er mir Teller mitsamt Gabel zurück, was mir ein triumphierendes böses Grinsen entlockt. Meinem Gegenüber geht scheinbar ein Licht auf, nachdem er die noch halb volle Dose erblickt hat. „Du eiskalte Lügnerin."
„Mach dir einfach eine eigene Portion warm."
Das lässt sich Darian natürlich nicht zweimal sagen, sodass er wenige Minuten später gegenüber von mir sitzt und seine eigenen Ravioli verzehrt.
Meine Gedanken werden währenddessen immer wieder von Kayla und unserem Kuss bestimmt. Egal wie sehr ich versuche an etwas Anderes zu denken, es gelingt mir nicht. Der Drang mit jemandem darüber zu reden, wird immer größer, da ich das Gefühl habe sonst zu explodieren. Vielleicht liegt die Lösung ganz nah und ich brauche nur jemanden, der in die richtige Richtung zeigt.
Ich schaue verstohlen zu Darian, der nichts ahnt. Kann ich mit ihm darüber reden, wo unser Verhältnis diesbezüglich ähnlich schwierig ist? Ihn habe ich damit abgespeist, dass ich momentan keine Beziehung will und komme mir jetzt umso schrecklicher vor. Aber wir haben uns darauf geeinigt vorerst ganz normale Freunde zu bleiben. Und seinen Freunden sollte man alles erzählen können. Er hat die Wahrheit verdient. Ich bin mir sicher, dass er mir nicht böse sein wird, weswegen ich mich vorsichtig räuspere.
„Ich muss dir etwas erzählen", beginne ich zögerlich und erlange somit seine volle Aufmerksamkeit. Darian legt die Gabel beiseite und blickt mich stumm an, womit er mir zeigt, dass ich fortfahren soll. „Kayla hat mir, kurz nachdem du gegangen bist, gesagt, dass sie mich liebt. Und dann hat sie mich geküsst."
Kurz und schmerzlos.
Auf eine Reaktion seinerseits wartend, schaue ich ihn gespannt an. Eigentlich hatte ich mit Schock, Überraschung, Verwirrung oder Sonstigem gerechnet, doch nichts von alldem ist der Fall. Ein fast schon wissender Ausdruck tritt auf sein Gesicht, während sich seine Mundwinkel langsam anheben. Er ist alles andere als überrascht. Es wirkt als hätte er damit gerechnet.
„Kayla hat es doch tatsächlich endlich auf die Reihe gebracht. Es war kaum zu übersehen, dass sie über beide Ohren in dich verliebt ist. Schon in Italien und davor hatte ich die Vermutung, aber letztens ist es mir dann so richtig klargeworden. Ich komme mir wie das größte Arschloch vor, weil wir miteinander geschlafen haben." Ich nicke zustimmend. Erst fühlte ich mich schrecklich, da ich dachte, sie würde auf Darian stehen, dabei war ich es die ganze Zeit. „Wie hast du reagiert?"
„Ich habe den Kuss erwidert, aber ich bin immer noch scheiße überfordert und weiß nicht, was ich machen soll. Ich weiß nicht, ob ich für eine Beziehung geeignet bin. Ich habe einfach scheiße viel Angst. Kayla hat ja sogar erst behauptet, dass sie dich liebt, weil sie nicht die Wahrheit sagen wollte. Und natürlich hab ich das geglaubt, weil sie in deiner Nähe immer ein bisschen anders war. Bis vor kurzem zumindest."
Darian lacht daraufhin nur und schüttelt grinsend seinen Kopf.
„Sie war eifersüchtig. Aber das hatte auch noch einen anderen Grund." Sofort werde ich hellhörig, da mir sein Unterton verrät, dass da etwas im Busch ist. Dabei hatte ich die letzten Tage genug Überraschungen. „Bitte sei nicht sauer. Weder auf Kayla noch auf mich."
„Nun sag schon."
„Kurz bevor ich umgezogen bin, war ich auf einer Party, wo Kayla auch war. Damals hat es mich nicht wirklich gejuckt, da gefühlt alle irgendwie high waren, aber sie war ziemlich dicht. Ich wusste da noch nichts von ihrer Abhängigkeit."
Der Entzug kam erst, nachdem sie zu Hause rausgeschmissen wurde und fast an einer zu hohen Dosis gestorben wäre. Ich hatte sie damals gefunden. Es war schrecklich.
„Auf jeden Fall war ich ziemlich angetrunken und irgendwie hatten wir Sex."
Dafür, dass Darian eben überhaupt nicht überrascht war, bin ich es gerade umso mehr. Kayla und Darian? Sex? Die Vorstellung ist im ersten Moment befremdlich und komisch, aber je länger ich darüber nachdenke, desto weniger stört es mich. Eigentlich kann ich mir die beiden sogar gut miteinander vorstellen.
„Wir wollten dir nichts erzählen, zumal ich sowieso weggezogen bin. Aber als ich dann wieder hier war, stand es zwischen uns. Das hat zu der teilweise angespannten Stimmung beigetragen. Wir haben aber ein tieferes Gespräch geführt, als du schon im Bett lagst und alles aus dem Weg geräumt."
Das erklärt ebenfalls einiges. Umso mehr freut es mich aber, dass nun nichts mehr zwischen ihnen steht. Vielleicht sollte ich sauer sein, dass sie es mir verschwiegen haben, aber nur weil wir befreundet sind, müssen sie mir noch lange nicht alles erzählen. Das war eine Sache zwischen Darian und Kayla und letztendlich freut es mich, dass er es mir nun doch anvertraut hat.
„Danke fürs Erzählen. Hätte ich ja nicht wirklich gedacht, ihr kleinen Sexluder."
Darians herzliches Lachen erfüllt den Raum und lässt die abgekühlten Ravioli wieder warm werden. Ich sehe ihn so unglaublich gerne lachen. Genauso wie Kayla. Es sind eine der schönsten Anblicke. Und ihr Lachen zusammen ergibt eine schönere Melodie als sie jedes Orchester spielen könnte.
„Mach einfach das, was du für richtig hältst, Cindy. Ich sage immer, probieren geht über studieren. Im Endeffekt kann man sich immer noch dagegen entscheiden. Aber man kann nie wissen, wie es sich anfühlen könnte, wenn man es nicht auf sich zukommen lässt und es erfährt. Du hast nichts zu verlieren. Ihr kennt euch schon so lange, Freunde werdet ihr immer bleiben, egal was kommt."
Dankbar stehe ich auf und schlinge meine Arme um seinen Hals, wobei ich mich auf seinen Schoß fallen lassen. Bei Darian und Kayla fühle ich mich wohl. Es gibt keinen Ort, an dem ich lieber sein würde. Wenn mir eine Person eine Millionen Euro anbieten würde, ich aber meine zwei besten Freunde nie wieder sehen dürfte, würde ich das Geld ablehnen. Dann bleibe ich lieber arm wie eine Kirchenmaus.
„Ich hätte aber natürlich nichts dagegen, wenn ihr mich in eure Beziehung miteinbeziehen würdet. Polyamorie und so", bemerkt er ganz locker nebenher.
Bevor ich etwas erwidern kann, höre ich wie sich der Schlüssel im Türschloss dreht, womit unser Gespräch vorerst beendet ist. Weil ich nicht will, dass Kayla etwas Falsches denkt, löse ich mich von Darian, bevor sie in die Küche tritt und uns mit einem breitem Lächeln begrüßt.
„Hey, ihr zwei."
Geschafft lässt sie ihre alte Tasche auf einen der Stühle fallen, bevor sie sich meine Gabel schnappt und von meinem Teller nascht.
„Die sind ja schon kalt." Angeekelt verzieht sie das Gesicht und lässt das Besteck zurück auf die Platte gleiten.
„Jetzt hast du Darians und meinen Speichel gegessen. Wie war dein Tag?"
„Na und? Als wäre das was Neues", bemerkt sie augenverdrehend, wirkt kurz darauf jedoch ertappt.
„Ich hab es ihr erzählt." Ich nicke bekräftigend, mit einem Grinsen auf den Lippen, damit sie direkt sieht, dass es mir nichts ausmacht.
„Oh, okay. Mein Tag war anstrengend. Der Laden war brechend voll. Ich konnte im Gegensatz zu euch kein Kaffeekränzchen veranstalten."
Ich kann mir genau vorstellen wie Kayla abgehetzt zwischen all den Menschen umherwuselt und eine Bestellung nach der anderen aufnimmt. Jetzt lässt sie sich aber erstmal mit einem Glas Wasser auf einen der Stühle fallen und genießt den Moment der Ruhe und Stille. Dann scheint ihr jedoch etwas einzufallen.
„Irgendwie hab ich das nach dem ganzen Chaos total vergessen, aber vielleicht ist es möglich, dass ich Kians Nummer von der Polizeistation habe mitgehen lassen", beginnt sie vorsichtig und mit hochgezogenen Schultern. „Ich dachte, dass wir uns bei ihm bedanken könnten. Immerhin wären wir ohne sein Verzichten auf die Anzeige am Arsch gewesen."
Das ist mal wieder so typisch Kayla. Begeht nach einer Straftat, für die sie auf das Revier mitgenommen wird, gleich noch eine, vor den Augen der Polizei. Und das nur, um sich zu bedanken.
„Du hast Recht, wir sollten ihn gleich morgen anrufen. Ich habe auch schon eine Idee."
Falls sich Kian mit uns treffen will, wird er das beste Geschenk aller Zeiten bekommen.
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