Kapitel 29

„Hi."

Bevor ich auch nur irgendetwas sagen kann, stößt sich Kayla vom Türrahmen ab und verschwindet in der Küche. Sofort springe ich vom Bett auf und stürme ebenfalls zu den anderen, die nun stillschweigend am Küchentisch sitzen. Mit verschränkten Armen betrachte ich Kayla eingehend, versuche zu erkennen, was in ihr vorgeht und was sie fühlt. Versuche zu sehen, ob sie verletzt ist. Ob es ihr den Umständen entsprechend gut geht.

„Er hat kurz bevor ich gehen durfte angerufen", beginnt sie zögerlich.

Ich halte angespannt die Luft an. Der nächste Satz wird über Kaylas Zukunft bestimmen, über ihre Freiheit. Innerlich bete ich, dass meine Worte etwas genützt haben und Kian der gute Mensch ist, für den ich ihn halte. Das ist Schwachsinn, ich kenne ihn nicht einmal. Außerdem wäre er auch gut, wenn er Anzeige erstatten würde. In diesem Szenario sind wir, egal wie man es sehen will, die schlechten Menschen.

„Er erstattet keine Anzeige."

Diese riesengroße Last fällt augenblicklich von meinen Schultern und erlaubt mir wieder durchatmen und aufrecht stehen zu können. Der Sturm in mir legt sich, meine Gedanken werden nicht mehr wild herumgewirbelt. Ich kann nicht anders als Kayla in die Arme zu fallen und sie fast zu erdrücken. Wenn sie nicht so ein Sturkopf wäre, hätte sie das nicht durchmachen müssen. Nach einer Weile lasse ich von ihr ab, da sie erstickende Geräusche nachahmt und mich leicht von sich drückt.

„Es ist alles in Ordnung. Sie haben nur meine Personalien aufgenommen und mich ein wenig über das Gesetz und die Strafen informiert. Es wird keinen Gerichtstermin geben. Keine Geldstrafe, keine Sozialstunden und auch keine Gefängnisstrafe. Dass wir Hausverbot haben, erklärt sich denke von selbst."

„Scheiße. Was ein unglaubliches Glück", kommt es von Darian, der sich geschafft über sein zerknirschtes Gesicht reibt. Den Abdrücken auf diesem nach zu urteilen, hat er mit dem Kopf auf dem Tisch geschlafen. Zumindest für eine kurze Zeit, da wir wohl alle nicht sonderlich viel oder eher gar nicht geschlafen haben.

„Du solltest nach Hause fahren und dich hinlegen", bemerke ich mit sanfter Stimme und schenke Darian ein leichtes Lächeln. „Tut mir übrigens leid, dass ich so handgreiflich geworden bin..."

„Mach dir keinen Kopf. Es war ziemlich heftig heute. Ruht euch ordentlich aus, ich komme gegen Abend nochmal vorbei. Schlaft gut."

Mit diesen Worten verabschiedet er sich von uns, jedoch nicht ohne Kayla und mich vorher einmal kräftig in seine Bärenarme zu nehmen.

Ich schaue ihm hinterher, doch sobald ich das Schließen der Wohnungstür höre, wende ich mich Kayla zu, die mich ebenfalls intensiv anschaut. Die Spannung ist nun deutlich zu spüren, weswegen ich aufstehe und im Raum herumtigere. Ich kann nicht mehr ruhig sitzen, obwohl ich mich gleichzeitig fühle, als könnte ich augenblicklich in einen komaartigen Schlaf rutschen. Zur Abwechslung bin ich diejenige, welche die Stille zwischen uns bricht.

„Warum hast du das gemacht? Es reicht, wenn einer von uns eine gefüllte Strafakte hat."

Ich kann nichts gegen den wütenden Unterton tun, der sich eingeschlichen hat und sich mit einem weinerlichen Ton vermischt. In mir beginnt es erneut zu brodeln, obwohl ich gerade das nicht will.

„Warum ich das gemacht habe? Vielleicht damit du nicht wieder ins Gefängnis wanderst!"

Nun springt auch Kayla wutentbrannt auf, während sie sich die Haare rauft. Sie scheint noch etwas sagen zu wollen, doch sie hält sich zurück. Als würde sie sich an mir verbrennen, wenn sie es ausspricht. Aber so sauer wie sie ist, brennt sie ebenfalls. Die Flammen würden nur noch höher steigen.

„Und dafür bin ich dir dankbar, aber deswegen kannst du dich nicht strafbar machen! Das ist auf meinen Mist gewachsen, also hör auf, meine Scheiße ausbaden zu wollen! Wenn es einer verdient hätte, erneut belangt zu werden, dann ich. Ich hätte es mir niemals verzeihen können, wenn dir etwas wegen mir passiert wäre. Stell dir vor, Kian hätte Anzeige erstattet. Du wärst deine Jobs und alles losgeworden. Dein Leben wäre ruiniert!"

Mit wild gestikulierenden Händen versuche ich ihr den Ernst der Situation deutlich zu machen, aber sie blickt mir nur trotzig und zornig entgegen. Kayla hat zurecht mit einer anderen Reaktion gerechnet, jedoch kann ich nicht meinen ganzen Mist und meine ganzen Probleme auf sie abladen. Das geht nicht. Und ihr muss klar werden, dass sie nicht für mich verantwortlich ist und sie gefälligst nicht für meine Fehler büßen soll.

Ich habe Scheiße gebaut. Als mir die Idee kam, habe ich aus einem mit Regentropfen überlaufenen Fenster geblickt. Meine Sicht war verzerrt und verschwommen. Das Falsche sah in diesem Moment richtig aus. Nur dann kommt irgendwann der Moment, in dem alles klar wird, es aber zu spät ist, denn du hast es bereits getan. Das Klauen hat uns vielleicht Geld gebracht, doch kein Glück und keine Freude. Wir haben etwas, das uns in keinster Weise zusteht genommen, und allein dafür werde ich in der Hölle landen.

Dieses Konstrukt aus kriminellen Taten und Lügen ist wackelig und instabil. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es zusammenbricht und das wird es früher oder später auf jeden Fall. Man denkt unter einem schützenden Dach zu stehen, doch das Material ist marode und wird dich erschlagen.

„Mein Leben wäre ruiniert gewesen, wenn ich dich schon wieder verloren hätte!", brüllt sie mir entgegen. „Mir wäre es egal gewesen, weil ich es für dich getan hätte. Ich würde alles für dich tun."

Kayla stemmt die Hände in ihre Hüfte, während es in ihren Augen lodert. Gleichzeitig wirkt sie so unendlich verzweifelt.

„Warum?! Denk doch nur einmal an dich selbst!"

„Weil ich dich liebe, verdammte Scheiße!", brüllt sie mir entgegen.

„Ich hab dich doch auch lieb, aber-"

„Nein, ich hab dich nicht lieb."

In diesem Moment ändert sich etwas in ihrem Blick. Tränen treten in ihre Augen, was mich meine Augenbrauen verwirrt zusammen ziehen lässt. Ihr Kiefer ist am Mahlen und mir wird klar, dass ihre nächsten Worte wie eine Bombe einschlagen werden. Vielleicht zerstören sie alles, vielleicht gelangen wir durch den Aufprall näher zusammen.

„Ich liebe dich, du dumme Kuh."

Kaylas Brustkorb hebt und senkt sich unregelmäßig, während mir alle Farbe aus dem Gesicht weicht. Sie liebt mich. Das war es also die ganze Zeit. Mein Hirn läuft auf Hochtouren, versucht das alles irgendwie zu verarbeiten, doch in meinem Kopf herrscht gähnende Leere. Es ist als würde die Zeit plötzlich stehen bleiben. Ich weiß nicht mehr, wo oben und wo unten ist, bin verwirrt und verunsichert zu gleich, kann das alles nicht verstehen. Ein Teil in mir, dessen Herz klopft, sobald sie in der Nähe ist und der sie ständig küssen will, kämpft mit dem Teil, der von Angst getrieben wird. Der denkt, er kann nicht lieben und es nicht wert ist geliebt zu werden. Eine andere Frau lieben. Und dann ist da auch noch Darian.

Ihre großen Augen sind abwartend auf mich gerichtet, suchen nach irgendeiner Reaktion, doch ich bin immer noch wie erstarrt. Diese Gefühle, die sie damals beschrieben hatte, waren ihre Gefühle zu mir. Nicht zu Darian und nicht zu jemand anderem. Zu mir.

Ich wollte einen besseren Zeitpunkt abwarten, aber jetzt ist es raus. Tut mir leid, jetzt wird bestimmt alles scheiße. Ich wollte unsere Freundschaft nicht damit belasten, nur kann ich es nicht mehr für mich behalten. Ich will diese Gefühle selbst nicht, wirklich, du bist hetero und das ist in Ordnung, ich kann aber nichts dagegen tun. Sie sind einfach da und wollen nicht gehen."

Erschöpft und gekränkt lässt sie sich auf den Stuhl hinter sich fallen. Nervös spielt sie mit ihren Händen und schaut dabei überall hin, außer zu mir. Sie schämt sich. Und das bricht mir das Herz.

„Ich bin alles, aber sicher nicht hetero", gebe ich leise zu. „Nur habe ich riesige Angst. Und ich will ehrlich zu dir sein, ich denke auch an Darian."

„Ich habe auch Angst", gesteht sie. „Wir haben alle Zeit der Welt. Ich wollte dich nicht so überfallen, wirklich nicht. Das mit Darian verstehe ich natürlich."

Kayla hat sich schon unglaublich früh geoutet. Zu diesem Zeitpunkt war die Gesellschaft queeren Menschen gegenüber verschlossener. Nicht, dass sie jetzt offen wäre. Ich habe heute noch Angst, ich selbst zu sein.

Mein Vater betonte immer, dass wir rausgeschmissen und enterbt werden, wenn einer von uns homosexuell sein sollte. Dass es widerlich sei. Uns wird ständig vorgelebt, dass Heterosexualität das Normale ist und alles andere eben nicht. Und alles, was nicht normal ist, ist in unserer Gesellschaft schlecht und verachtet. Ich habe Kayla immer für ihre Offenheit und Orientierung bewundert, während ich mich im Schrank versteckte und jeden Gedanken an eine gleichgeschlechtliche Beziehung verbannte.

„Ich bin ehrlich gesagt überfordert. Aber ich kann dir versprechen, dass sich nichts an unserer Freundschaft verändern wird. Ich kann, nein, ich will nicht ohne dich leben. Wirklich nicht", erwidere ich mit Nachdruck.

Ich schenke ihr ein aufrichtiges Lächeln und lege meine Zeigefinger an ihre Mundwinkel, um diese hochzuziehen, was sie ebenfalls zum Lachen bringt. Es ist total bescheuert, wenn immer gesagt wird, dass manche Menschen nicht ohne einen anderen Leben können. Das ist Schwachsinn. Wenn ich sehr krank bin, dann kann ich nicht ohne Medikamente und Hilfe leben. Aber ich sollte von keinem Menschen abhängig sein. Viel schöner ist doch, wenn man nicht ohne einen Menschen leben will. Wir haben eine Entscheidung und diese treffen wir aktiv für eine gewisse Person. Nicht, weil wir keine andere Wahl haben.

Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, spüre ich plötzlich Kaylas warme und zarte Lippen auf meinen. Ihr Kuss schmeckt süß und ist liebevoll und sanft. Er fühlt sich wie ein pastellfarbener Sonnenaufgang an einem klaren See an. Wie ein frischer Morgen im Wald. Ganz anders als die Küsse im Club. Er lässt mein Herz klopfen und treibt mir gleichzeitig Hitze zwischen die Beine.

Ohne groß darüber nachzudenken, erwidere ich ihn, lasse unsere Münder verschmelzen und eine Nähe zu, die ich vorher noch nicht gespürt habe. Es fühlt sich komisch, verängstigend und gut zugleich an. Ihre zarten Hände streichen sanft über meine Wange, bevor sie sich zögerlich von mir löst und mich mit mehr Fragen als Antworten zurück lässt.

„Ich musste das einfach tun. Jedes Mal, wenn ich dich sehe, frage ich mich, wie sich deine Lippen anfühlen. Jetzt weiß ich es." Ein schüchternes Lächeln umspielt ihre Lippen, das sie ungewohnt unschuldig und jung wirken lässt. „Und es ist besser, als ich es mir hätte vorstellen können."

Jetzt weiß ich, dass ich das Gefühl ihrer Lippen auf meinen nie wieder vergessen kann. Dass dieser Moment unweigerlich in meinen Kopf eingebrannt ist. Wie konnte ich all die Jahre ohne überleben? Gleichzeitig gibt er mir ein unglaubliches Gefühl von Sicher- und Geborgenheit. Ruhe. Zuversicht. Ich brauche immer noch Zeit, und zwar sehr viel davon, aber plötzlich bin ich mir sicher, dass ich es vielleicht zulassen kann.

Anstatt mit Worten zu antworten, verschließe ich unsere Lippen erneut und streiche ihr eine Strähne hinters Ohr, als wir uns wieder voneinander lösen. Ich lehne meine Stirn an ihre, inhaliere ihren Duft und spüre, dass ich angekommen bin. Dort ist dieses Gefühl, nach dem ich seit einer Ewigkeit suche. Aber gerade das, macht mir noch mehr Angst. Denn jetzt, wo ich es gefunden habe, kann ich es auch wieder verlieren.

„Lass dir alle Zeit der Welt. Ich kann warten. Und entscheide nur danach, ob es am besten für dich ist. Nicht so, dass es mir am wenigsten wehtut, okay?", flüstert Kayla, wobei ihr warmer Atem meine Haut streift.

„Okay."

Ich schließe die Augen und stelle mir vor, Kayla immer dann zu küssen, wenn ich Lust dazu habe. Unser Leben auf eine ganz neue Art und Weise zu teilen. Und je länger ich daran denke, desto mehr gefällt mir dieser Gedanke.

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