Kapitel 28

Ich lasse Kian, der mittlerweile ebenfalls die Polizei bemerkt hat, wortlos stehen, während ich verzweifelt nach einer Lösung suche. Wir kommen nicht raus, da der Ausgang versperrt ist, weswegen wir wohl oder übel hier bleiben müssen. Aber wir können Zeit schinden.

Einer der Polizisten bewegt sich direkt auf mich zu, was meinen Herzschlag nochmals beschleunigt. Alles spricht gegen mich. Kian wird merken, dass seine Geldbörse fehlt und die Einzige, die sie geklaut haben kann, bin ich. Dann nehmen sie mich mit und buchten mich ein. Ohne groß darüber nachzudenken, schlage ich schnell die entgegengesetzte Richtung ein, wobei meine Augen von einer Person zur nächsten springen. Kayla steht nicht mehr dort, wo ich sie eben noch gesehen habe und von Darian fehlt jede Spur.

Plötzlich spüre ich, wie mir die Perücke vom Kopf gerissen wird. Ich drehe mich sofort um, doch vor mir steht nicht die Polizei, sondern Kayla. Kayla, die ihre eigene Perücke gegen meine tauscht. Die mich retten und sich opfern will.

„Nein!"

Ich greife nach den falschen Haaren, will sie ihr wieder vom Kopf reißen, doch es schlingen sich zwei kräftige Arme um meine Taille, die mich von ihr wegziehen. Darian greift nach der bronzefarbenen Perücke in Kaylas Hand und nimmt ihr diese ab, bevor wir uns immer weiter von ihr entfernen und sie sich den Polizisten immer mehr nähert. Dem Verderben tiefer und tiefer ins Auge blickt.

Immer wollte ich sie beschützen und nun versage ich. Aber ich werde das nicht einfach zulassen. Mit voller Wucht ramme ich meinen Ellenbogen in Darians Bauch, da das vorherige Zappeln nicht gereicht hat, und befreie mich somit für einen Moment. Jedoch komme ich nur wenige Schritte weiter, da ich sofort wieder gepackt werde.

„Sie hat seinen Geldbeutel, verdammte Scheiße!", brülle ich Darian an, was uns einige skeptische Blicke einbringt.

Es schert mich nicht. Gerade ist mir alles egal. Kayla darf nicht gefasst werden. Sie darf einfach nicht gefasst werden, nicht wegen meiner Idee. Die Tränen brennen in meinen Augen, diese unsichtbare stählerne Hand legt sich um meinen Hals und drückt so fest zu, dass ich keine Luft bekomme. Ich habe das Gefühl kotzen zu müssen. Es ist alles zu viel.

„Willst du wieder in den Knast wandern, oder was? Sie weiß, was sie da tut", knurrt Darian dicht an meinem Ohr und schiebt mich ganz nach hinten an die Wand, wo er sich vor mich stellt.

„Weiß sie nicht. Wir können sie nicht im Stich lassen. Lass mich los!"

„Nein."

Tränen kullern meine Wangen hinunter, während ich alles um mich herum ausblende. Ich höre nichts mehr. Nicht die laute wummernde Musik. Nicht Darians Stimme, die auf mich einredet oder die der Menschen um uns herum. Nur diese kleine, hässliche Stimme in meinem Kopf, die mir zuflüstert, wie sehr ich versagt habe. Und dass es meine Schuld ist, wenn sie ins Gefängnis muss.

Es fühlt sich an als wäre mein Körper viel zu klein für die ganzen Gefühle, die darin brodeln. Als wäre ich ein Topf, gefüllt mit heißem Wasser. Doch ich bin nicht aus Edelstahl oder Kupfer. Das kochende Wasser verbrennt mich innerlich und droht überzulaufen.

Ich beobachte, wie die Polizisten Kayla ansprechen. Ihre Lippen bewegen sich, dann bewegen sich die von meiner besten Freundin. Sie muss ihre Tasche öffnen. Das ist der Moment, in dem das letzte bisschen Hoffnung aus mir weicht. Sie hat seinen Geldbeutel und nicht bloß das Bargeld. In diesem Geldbeutel sind seine Personalien. Er wird ihnen berichten, dass er beklaut wurde. Kayla ist dran. Und das dank mir. Ich hasse mich. Gerade hasse ich mich so sehr wie noch nie zuvor.

Der eine Polizist drückt sie unsanft nach links, dann verliere ich sie. Ich boxe wie verrückt gegen Darians Brust, doch er lässt mich nicht los. Kraftlos fällt mein zitternder Körper gegen die Wand hinter mir. Ich kann nicht mehr. Und ich will nicht mehr. Wie muss sich Kayla gerade fühlen? Ist sie auch von dieser riesigen Angst betäubt?

Meine Gedanken wandern zu den nächsten Wochen. Was ist, wenn sie wirklich ins Gefängnis muss? Wird sie rückfällig? Sie ist nicht für diese Welt gemacht. Kayla ist zu zart. Zu liebreizend. Zu gut. Wir stehen gemeinsam in einem Glashaus und ich habe den Stein geworfen. Aber nicht ich gehe in Trümmern unter, sondern Kayla. Es ist fast wie bei Lorena und mir. Der einzige Unterschied ist, dass mich Lorena begraben sehen wollte.

Mit leerem Blick starre ich auf die Stelle, wo sie eben noch standen. Was ist aus uns geworden? Was ist aus mir geworden? Aus den kindlichen Träumen? Aus dieser unschuldigen Person, die ich war? Was ist aus meiner Moral und meinen Werten geworden? Ich beklaue andere für mein eigenes Wohl.

Als Kind bekommt man immer beigebracht, dass alles möglich ist. Dass wir alles schaffen können, was wir uns nur vornehmen. Dass wir alle die gleiche Chance haben. Es ist eine noch größere Lüge als zu erzählen, dass der Weihnachtsmann und Osterhase existieren. Die sozial Schwächeren bleiben meistens schwach und die Starken werden nur noch stärker gemacht. Von dem einen auf den anderen Tag kann sich alles verändern. Fallen kann jeder, wenn man nicht schon ganz unten ist. Hoch kommen die wenigsten. Denen, die durch das System fallen, wird nicht aufgeholfen. All das ist eine große Sauerei. Aber warum sollte das schon jemanden interessieren. Solange es mir selbst gut geht, brauche ich mich doch nicht um andere kümmern, denen es schlechter geht. Egoismus, Ignoranz und Bequemlichkeit. Was eine wunderbare Mischung.

Ich stoße mich in einer schnellen Bewegung von der Wand ab. Die Polizisten laufen mit Kayla im Schlepptau in Richtung des Ausgangs. Sie nehmen sie mit. Zwar hat sie keine Handschellen angelegt, doch es ist keine nette Einladung zu einem Kaffeekränzchen auf dem Revier. Kayla blickt sich suchend um, bis sie mich findet und sich unsere Blicke verhaken. Ich versuche ihr zu zeigen, dass alles gut gehen wird und dass ich für sie da bin. Doch das Schimmern in ihren Rehaugen bricht mein Herz in tausend Stücke. Bevor ich noch irgendetwas tun kann, verschwinden sie. Jetzt kann ich Kayla nicht einmal sehen. Und sie mich auch nicht.

„Wir müssen hinterher!", dränge ich mit fester Stimme.

„Genau, das ist eine super Idee! Dann können sie uns auf dem Revier gleich mit festnehmen und dich sofort in den Knast verfrachten." Der triefende Sarkasmus holt mich auf den Boden der Tatsachen zurück und versetzt mir einen dumpfen Schlag in die Magengrube. Kayla muss da ganz allein durch.

Irgendetwas muss ich tun können, wenn ich schon nicht bei ihr sein kann. Fieberhaft überlegend lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Meine Augen machen bei Kian halt, der sich auf dem Weg zurück zur Lounge befindet. Ich nutze Darians Unaufmerksamkeit, stoße ihn ruckartig von mir weg und renne zu Kian, dem ich mich in den Weg stelle.

Seine Augenbrauen ziehen sich verwirrt zusammen, doch dann tritt ein wissender Ausdruck auf sein Gesicht und er lacht. Lacht einfach so, als wäre diese Situation hier eine beschissene Comedy-Show.

„Sie haben die Falsche mitgenommen", gluckst er. „Deine Freundin, oder? Beklaut ihr öfter irgendwelche Leute in Clubs? Oder darf ich mich als Einzelopfer geehrt fühlen?"

Ich bleibe einen Moment still, da ich mich sammeln und Worte finden muss. Ich darf keine Fehler mehr machen.

„Ich flehe dich an. Bitte erstatte keine Anzeige. Wir haben Probleme. Sehr viele Probleme. Werde bitte nicht noch zu einem weiterem. Ich tue alles, wirklich alles, was du willst. Meine beste Freundin darf einfach nicht belangt werden. Sie trägt keine Schuld."

„Nenn' mir einen Grund", sagt er immer noch grinsend.

„Ich-..."

Scheiße. Ich darf das nicht verkacken. Nur reichen keine Worte der Welt aus, um meine Gefühle und meine Verzweiflung zu beschreiben. In den Filmen bekommen sie immer eine Knarre an den Kopf gesetzt und werden gefragt, warum man sie am Leben lassen sollte. Das hier ist das gleiche. Es gibt dazu keine richtige Antwort. Du könntest tausend Gründe nennen, doch am Ende sind wir alle tot und diese Zeit dazwischen macht eigentlich keinen Unterschied. Ganz davon abgesehen, dass die Entscheidung vor den Gründen fällt.

„Du bist ein guter Mensch. Gute Menschen verzeihen. Wir machen das nicht aus Spaß. Glaub mir, wenn ich eine Wahl hätte, würde ich nicht klauen. Hast du nicht schon einmal in so einer richtig dreckigen Situation gesteckt?"

Lächerlich. Das war lächerlich. Wie kann man so dumm sein?

Seine dunklen Augen bohren sich tief in meine, während er mich eingehend betrachtet. Ich kann förmlich sehen, wie es hinter seiner Stirn rattert, doch dann scheint er sich entschieden zu haben.

„Okay."

„Okay?! Okay im Sinne von 'ich erstatte keine Anzeige'?" Meine Augen müssen kugelrund sein, denn ich kann es nicht fassen. Scheinbar haben wir heute Abend den Richtigen ausgesucht.

„Okay, im Sinne von 'ich werde darüber nachdenken'. Blond steht dir übrigens besser, Raquel."

Er lässt mich wortlos stehen, nachdem er den Samen der Hoffnung in mir gesät hat. Wenn Kian keine Anzeige erstattet, kann alles gut werden. Dann können wir mit einem blauen Auge davon kommen.

Darians warme Hand legt sich auf meine Schulter, bevor er mich in eine Umarmung zieht. Es ist verrückt. Um uns tanzen und feiern die Menschen, während manche am Abgrund stehen, kurz davor zu fallen. Doch niemand bemerkt es. Alle sind immer viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

„Wir gehen zu euch nach Hause und warten dort auf sie."

Ich kann nur wie erschlagen nicken, woraufhin mich Darian sanft aus dem Club schiebt und uns zur Wohnung bringt. Die frische, kühle Luft belebt meinen Körper und hilft mir gleichzeitig, meine Gedanken zu beruhigen. Die Angst und Verzweiflung weicht der Wut, die sich auf die Erkenntnis in mir breit macht.

„Ihr habt das geplant, oder? Ein Notfallplan, falls so etwas passieren sollte. Und kein Schwein hat mich eingeweiht."

Sein entschuldigender Blick verrät mir sofort, dass ich Recht habe.

„Das hättest du doch niemals zugelassen. Du würdest lieber sterben oder zurück ins Gefängnis gehen, als einen von uns zu Schaden kommen zu lassen."

Daraufhin bleibe ich still, denn in seiner Aussage steckt ein Funken Wahrheit. Ich hätte es nicht zugelassen. Wenn ich von diesem Notfallplan gewusst hätte, wäre ich ohne die Beiden gegangen und hätte es allein durchgezogen.

Niemand, wirklich niemand, sollte seinen Kopf für mich hinhalten. Und das habe ich, vor allem Kayla, öfter und sehr deutlich klar gemacht. Ich sollte ihr dankbar sein. Ich sollte vor ihr auf die Knie fallen und ihr die Füße küssen, aber ich bin komischerweise wütend auf sie. Wütend, dass sie sich 'opfert', obwohl ich es nicht verdient habe. Wütend, dass sie meine Fehler und Probleme ausbaden will. Wütend auf mich selbst, weil ich uns erst in diese Lage gebracht und nicht genug aufgepasst habe.

An der Wohnung angekommen, schließe ich wortlos die Tür auf und lasse mich auf einen der Stühle in der Küche fallen. Wenn alles normal wäre, würde ich hier nun mit Kayla sitzen, die über beide Backen grinsen und vor sich hinreden würde. Aber Kayla sitzt nicht hier. Nur Darian, der mich besorgt betrachtet.

„Du solltest schlafen. Ich wecke dich sofort, wenn sie da ist. Die können sowieso erst einmal nur ihre Daten aufnehmen."

Ich antworte gar nicht, sondern stehe, ohne ihn anzusehen, auf und rolle mich auf unserem Bett zusammen, das so sehr nach Kaylas vanilligem Duft riecht. Natürlich werde ich nicht schlafen, das ist unmöglich, aber ich habe keine Lust auf Darians entschuldigenden und mitleidigen Blick.

Kayla wird gleich nach Hause kommen und hier wird sie auch bleiben. Kian wird keine Anzeige erstatten und alles wird gut werden. Wir werden nicht mehr stehlen und ich werde sicher einen besseren Job finden. Wir werden unser Leben auf die Reihe bekommen.

Zumindest rede ich mir das die ganze Zeit ein, bis es beinahe hell ist, die Tür aufgeht und meine beste Freundin mit meiner schwarzen Perücke vor mir steht.

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