Kapitel 27

Der Himmel ist heute Nacht so unglaublich schwarz, dass die Sterne heller als sonst zu leuchten scheinen. Wenn ich mich nicht irre, lässt sich sogar die Milchstraße erkennen. Als meine Mutter noch lebte, haben wir uns oft nachts auf die Wiese gelegt und gemeinsam den Himmel beobachtet. Es war als hätten wir das ganze Universum für uns allein und als könnte ich die Sterne berühren. Als wäre alles möglich.

Heute weiß ich, dass wir zwar nach den Sternen greifen können, sie aber nie zu fassen bekommen werden, egal wie sehr wir uns anstrengen. Jedoch kann der Anblick an sich schon glücklich machen. Vieles sieht aus der Entfernung wunderschön aus, die hässlichen Seiten kommen erst aus der Nähe zum Vorschein. Vielleicht ist es mit den Sternen genauso. Am Himmelszelt sind sie wunderschön, wenn man sie zu fassen bekommen würde, würde der ganze Zauber erlöschen.

Wenn ich die Augen schließe, höre ich auch jetzt noch das Zirpen der Grillen und Mamas regelmäßigen Atem. Rieche ihr Lieblingsparfüm, das sie jeden Tag getragen hat und höre ihr helles Lachen. Ich sehe ihre funkelnden blauen Augen, die selbst wie Sterne geleuchtet haben und mein Fenster zum Glück waren. Sie sagte immer, dass wenn man ganz genau hinhört, selbst die kleinsten Insekten eine Stimme bekommen. Und dann strengte ich mich immer besonders an, damit ich bloß nichts überhörte. In unserer lauten Gesellschaft gehen diese Stimmen unter. Sie können und wollen nicht gehört werden. Ich fühle mich wie eines dieser winzigen Tiere. Schutzlos, nicht gehört und im schlimmsten Fall von den größeren zertrampelt.

„Wir sind dran." Kaylas Stimme holt mich aus meiner Welt zurück in die Realität, wobei ein bitterer Beigeschmack zurückbleibt.

Meine Mutter ist tot, mein Leben das reinste Chaos und anstatt auf einer Wiese zu liegen und der Stille zu lauschen, stehe ich gemeinsam mit Kayla und Darian vor Basti, kurz davor erneut ein Verbrechen zu begehen. Wie immer ist dieses widerliche Grinsen auf seinen Lippen festgeklebt und seine blonden Haare an seine Kopfhaut betoniert.

„Da seid ihr ja wieder. Ganz schön in Partylaune, was?"

Mit einem angeekelten Blick ignoriere ich ihn gekonnt und gehe schnurstracks auf den Eingang des Clubs zu, ebenso wie meine besten Freunde. Wir sind relativ früh dran, weswegen wir nicht allzu lange warten mussten und der Raum nicht so brechend voll wie sonst ist. Aber es dürfte nicht mehr lange dauern, bis sich ein verschwitzter Körper an den anderen reibt.

Ich scanne grob die anwesenden Personen ab, von denen manche alles auf der Tanzfläche geben und andere einen Drink an der Bar nehmen. Bei dem Anblick von Alkohol kommt mir sofort mein letzter Besuch hier in den Sinn, der nicht wirklich optimal geendet hatte. Nie wieder werde ich so viel trinken. Nicht einmal, wenn es kostenlos ist. Ganz abgesehen davon bete ich innerlich, dass Max nicht hier ist. Jedoch kann ich mir nach seinem Zustand nicht vorstellen, dass er heute schon wieder feiern geht. Ich glaube nicht, dass er Student ist.

Sofort sticht mir ein junger Mann ins Auge, der mit seinen Freunden auf einer Lounge im hinteren Teil des Clubs sitzt und einen der Angestellten großzügig mit einem Bündel Scheinen herüberwinkt. Kurze Zeit später wird ihm ein Champagner gebracht, den er mit großer Show öffnet. Allein eine dieser Sitzgelegenheiten zu mieten ist nicht gerade der billigste Spaß.

Je länger ich ihn beobachte, desto mehr muss ich den Kotzreiz verdrängen, da mich dieses verschwenderische und dick aufgetragene Verhalten anwidert. Er kann mit seinem Geld tun und lassen, was er will, aber Verschwendung nervt mich einfach nur. Ich sollte mich nicht beschweren, da mir sein Verhalten positiv in die Karten spielt. Und vielleicht ist er auch ein super Kerl, der nur eben auf den ersten Blick derart wirkt. Sein Charakter kann mir aber sowieso egal sein, da ich bloß sein Geld will und mit dem Ausgeben hat er offensichtlich kein Problem. Dann wird es ihn nicht stören, wenn ein wenig mehr fehlt.

„Es geht los", gebe ich mit einem Nicken meinen beiden Komplizen Bescheid, die daraufhin ihre Positionen einnehmen.

Darian beobachtet das Ganze wie immer von etwas weiter weg, während sich Kayla wie ein zweiter Schatten in meiner Nähe aufhält und darauf wartet, dass sie zum Einsatz kommt. Mittlerweile sind wir unglaublich geübt und eingespielt, sodass ich mir fast sicher bin, dass wir es mit geschlossenen Augen durchziehen könnten. Alle einzelnen Schritte und Griffe gehen problemlos ineinander über.

Mit einem selbstbewussten Lächeln und aufreizend schwingenden Hüften, bewege ich mich auf die Lounge zu und komme schließlich vor ihnen zum Stehen. Die Gespräche verstummen, während sich fünf Augenpaare auf mich richten, doch ich hefte meinen Blick nur auf ihn. Wir starren uns gegenseitig in die Augen, wobei ich mich leicht nach vorne lehne und mir eines der leeren Gläser vom Tisch nehme, ohne meinen Blick abzuwenden. Seiner richtet sich jedoch mehr als auffällig auf meinen Ausschnitt, was mein Ziel war.

„Ihr habt doch sicherlich nichts dagegen, wenn ich mich zu euch geselle. Meine Freunde sind einfach verschwunden", erkläre ich mit einem Schmollmund.

Er befeuchtet seine zugegeben schönen Lippen, bevor sich ein anzügliches Grinsen auf ihnen ausbreitet. Es ist deutlich zu erkennen, dass er hier das Sagen hat, was wahrscheinlich daran liegt, dass er auch das meiste Geld besitzt und solche Clubbesuche finanziert.

„Zu einer wie Dir sagen wir sicherlich nicht nein. Gut, dass noch ein Platz neben mir frei ist."

Natürlich ist nichts neben ihm frei, doch mit einem Handzeichen rückt die junge Frau links von ihm weiter weg, sodass ich mich neben ihn setzen kann. Wenn ihre Blicke töten könnten, müsste ich mich in diesem Moment von dem Licht der Erde verabschieden.

Ich rücke extra nah an ihn heran und streife unabsichtlich absichtlich über seinen Oberschenkel, was ich mit einem unschuldigen Lächeln quittiere. Er reicht mir ein Glas mit diesem sündhaft teuren Zeug, woraufhin wir gemeinsam anstoßen.

„Auf..." Er schaut mich abwartend an, während die ganze Aufmerksamkeit immer noch auf mir liegt.

„Raquel." Wir stoßen gemeinsam an, wobei wir uns jedoch immer noch unverwandt anschauen.

„Wir wollen ja nicht, dass es sieben Jahre schlechten Sex gibt", raune ich an seinem Ohr, nachdem ich einen großen Schluck des Getränks genommen habe und lasse meine Lippen, bevor ich mich wieder nach hinten lehne, über die Stelle hinter seinem Ohr streifen.

„Das wäre natürlich tragisch. Wobei man mit mir keinen schlechten Sex haben kann. Und mit Dir sicherlich auch nicht."

Eins muss man ihm lassen, er ist definitiv selbstbewusst und komischerweise ist seine leicht arrogante Art ziemlich heiß. Und er scheint zu wissen, wie man flirtet.

„Darf ich auch deinen Namen erfahren?"

„Kian."

„Schöner Name", säusle ich, woraufhin sich seine Hand relativ weit oben auf meinen Oberschenkel legt und er mir ins Ohr flüstert. „Hört sich gestöhnt noch schöner an."

Sein warmer Atem streift meine Haut, bevor er sich leicht zurücklehnt und mich seine dunklen Augen unverwandt anblicken.

„Ich denke, das müsste ich selbst bewerten."

Zwischen unseren Gesichtern befinden sich nur noch wenige Millimeter Abstand, die er schon schließen will, doch mir macht es zu sehr Spaß, ihn ein wenig hinzuhalten, weswegen ich mich verschmitzt grinsend abwende. Kurz meine ich sowas wie Unglauben aufblitzen zu sehen, doch er fängt sich ziemlich schnell und setzt erneut seinen arroganten Ausdruck auf.

Die anderen in der Runde haben sich eben schon wieder ihren Gesprächen zugewendet, jedoch scheint es sowieso nichts Neues für den Rest zu sein, dass Kian flirtet und Trockensex durch Blickkontakte hat. Nur die Frau mit den langen dunklen Haaren neben mir, schaut immer wieder säuerlich herüber. Sie würde bestimmt alles tun, um an meiner Stelle zu sitzen.

„Ich gehe mal auf Toilette."

Ich erhebe mich mit einem bedeutenden Blick zu Kian und lasse meine Hand ein weiteres Mal über seine Schulter streifen, bevor ich mich mit wackelndem Hintern auf den Weg zur Toilette mache.

Kaum bin ich in dem schmalen Gang, werde ich am Handgelenk gepackt, mit dem Rücken gegen die Wand gepresst und stürmisch geküsst. Mein Plan ist aufgegangen. Ich habe ihn genau dort, wo ich ihn haben will und dem alkoholischen Geschmack nach zu urteilen, ist er nicht mehr ganz nüchtern. Perfekte Voraussetzungen.

Unsere Lippen bewegen sich wild und drängend gegeneinander, während ich meine Hände in seinen Haaren vergrabe und sie danach über seinen Körper wandern lasse. Auch seine Hände begeben sich auf Wanderschaft und bleiben schließlich kurz über meinem Hintern stehen, wo er sie vorerst liegen lässt. Kian spuckt nicht nur große Töne, sondern kann wirklich unglaublich küssen. Ich würde es fast genießen, wenn da nicht dieser kleine Aspekt des Diebstahls wäre.

„Wenn du willst, dass ich deinen Namen stöhne, musst du dich etwas mehr anstrengen", bemerke ich frech und außer Atem.

Er vertieft den Kuss weiter und presst nun auch seine Mitte gegen meine, was ihm ein tiefes Stöhnen entlockt. Ich kann mich gerade noch so beherrschen, da meine Prioritäten woanders liegen. Auch wenn er wirklich weiß, was er tun muss, um eine Frau zu verwöhnen. Außerdem will ich ihm diesen Triumph nicht gönnen. Während Kian alles gibt, gleitet meine Hand in seine hintere Hosentasche und fischt sein Portemonnaie geschickt heraus.

Da er sehr damit beschäftigt ist, mir ein Stöhnen zu entlocken, spürt er absolut nichts von den anderen Berührungen, die ihm sicherlich nicht sonderlich gefallen würden. Kayla ist sofort zur Stelle und nimmt mir die Börse im Vorbeigehen geschickt aus der Hand, bevor sie auf der Damentoilette verschwindet.

Doch so weit kommt es nicht.

Ich löse mich gerade von Kian, um ein wenig Luft zu holen, als ich aus dem Augenwinkel erkenne, wie Kayla angespannt und geschockt stehen bleibt. Ihre Augen, die auf einen bestimmten Punkt fixiert sind, weiten sich gefährlich und ich kann von hier aus sehen, dass ihr gesamter Körper zum Zerreißen angespannt ist.

In mir steigt die Panik auf. Da mir Kian die Sicht versperrt, muss ich mich auf die Zehenspitzen stellen, um über seine Schultern zu schauen, wobei ich als Alibi einen Kuss auf seinen Hals drücke. Als ich das sehe, was Kayla sieht, halte ich wie versteinert inne.

Unmengen an Blut werden von meinem viel zu schnell schlagenden Herzen durch meinen Körper gepumpt, während in meinen Ohren nur noch ein Rauschen zu hören ist. Angstschweiß bildet sich auf meiner Stirn und mein Körper beginnt zu zittern, doch ich versuche irgendwie meine Gedanken zu ordnen und einen kühlen Kopf zu bewahren. Es muss einen Ausweg geben.

Ich kann nicht zurück. Das überlebe ich nicht. Ich kann nicht noch einmal ins Gefängnis. Das wäre mein Todesurteil.

Kian, der etwas zu mir sagt, und alles andere treten in den Hintergrund. Ich bin nur dazu in der Lage auf die Polizisten zu starren, die den Aus- und Eingang versperren und suchend den Raum abscannen.

Hinter ihnen kommt ein fies grinsender Basti zum Vorschein und in diesem Augenblick wird mir klar, dass diese Polizisten nur wegen mir hier sein können. Basti hat uns beobachtet, ohne dass wir es bemerkt haben. Es ist seine perfekte Rache. Und unsere Selbstsicherheit und daraus resultierende Unachtsamkeit werden uns nun den Todesstoß geben. Wir haben Fehler gemacht, die sich nun rächen. Ich habe Fehler gemacht.

Es wird nicht lange dauern, bis sie mich finden und dann gibt es keinen Ausweg mehr. Das war es mit meiner Bewährung. Dann bin ich geliefert. Vielleicht habe ich hinter schwedischen Gardinen keine Geldprobleme, aber dafür ganz andere, schlimmere Probleme. Das alles darf nicht wahr sein. Es muss ein fieser Traum sein. Warum war ich so dumm und naiv und dachte, dass das hier tatsächlich auf Dauer gut gehen kann? Warum musste ich die anderen mit hineinziehen?

Ich muss sie schützen. Darian und Kayla dürfen nicht gefasst werden. Ich werde all die Schuld auf mich nehmen, denn ich würde es nicht aushalten, wenn sie wegen mir ihr Leben versaut bekommen. Sie könnten ihre Jobs und alles andere verlieren. Vor allem Darian hat viel zu verlieren und Kayla hat schon genug Schwierigkeiten.

Scheiße. Scheiße, Scheiße, Scheiße.

Kaylas Blick spiegelt die Panik wider, die ich im Inneren verspüre, doch als sie zu mir schaut, tritt Entschlossenheit in ihren Ausdruck.

Und von da an geht alles ganz schnell.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top