Kapitel 26
„Nur noch mal, damit ich das richtig verstanden habe...", beginnt Kayla mit belustigter Miene. „Du wolltest stockbesoffen mit einem Fremden nach Hause, um vermutlich zu ficken. Dann hat Darian dich abgefangen, dich abgeschminkt und damit mehr oder weniger seine Liebe gestanden und heute Morgen dachtet ihr, ein gemeinsames Frühstück ist nötig, damit ich euch nicht umbringe?"
„So in etwa." Ich zucke verlegen mit den Schultern, da die Situation doch irgendwie anders unangenehm ist, wenn man das Ganze noch einmal laut von jemand anderem zu hören bekommt. Den Part mit der Liebe ignoriere ich dabei geflissentlich.
Kayla beißt stillschweigend und mit diesem wissenden Ausdruck in ihr zweites Croissant - das erste hat sie bereits verdrückt - und starrt in Gedanken versunken auf den Tisch. Auch Darian sagt kein Wort, während er sein Brötchen mit Nutella bestreicht.
„Was ist bei dir gestern oder eher heute noch vorgefallen?", frage ich vorsichtig an Kayla gewandt, die daraufhin kurz zu mir blickt, jedoch schnell wieder wegschaut.
„Ich hatte noch ein wenig getanzt und wollte dich dann abholen, aber du warst nicht da. Warum hast du eigentlich nicht Bescheid gegeben? Als auch dieser Typ nicht mehr da war und du nirgends zu finden warst, konnte ich es mir schon denken, weswegen ich dann nach Hause gegangen bin. Also sehr unspektakulär."
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich noch bei dir war, während du getanzt hast. Du hast es bestimmt nicht gehört."
Sie zuckt fast schon desinteressiert mit den Schultern, sodass ich das Gespräch fallen lasse und mich ebenfalls diesem nicht alltäglichen und äußerst leckeren Frühstück zuwende. Sonst essen wir immer nur Toast.
Während Kayla den Tisch gedeckt hat, war ich schnell unter die Dusche gesprungen und hatte meine Klamotten gewechselt, was mehr als dringend nötig war. Ich hätte es keine Sekunde länger derartig stinkig ausgehalten. Bei Darian wollte ich nicht auch noch duschen. Es gibt nichts Besseres als nach einer solchen Nacht frisch und sauber aus der Dusche zu kommen.
Da heute Sonntag ist, müssen weder Darian noch ich arbeiten, jedoch hat Kayla heute eine Schicht in der kleinen Bar, in der sie seit Kurzem zwei Abende die Woche arbeitet. Es würde mich nicht wundern, wenn sie an Überarbeitung stirbt. Kein Mensch sollte sich für sein tägliches Brot dermaßen abschuften müssen. Das Leben hat noch so viel mehr zu bieten. Aber nur für die, die es sich auch leisten können. Wenn ich könnte, würde ich ebenfalls viel mehr arbeiten, aber ich muss mich wohl mit der Teilzeitstelle in der Firma zufrieden geben. Ich kann froh sein, dass sie mir einen Vertrag gegeben haben und ich nicht jede Minute gekündigt werden kann.
In der letzten Zeit habe ich weiterhin nur Absagen auf meine Bewerbungen hin bekommen. Es ist deprimierend und kraftraubend. An manchen Tagen frage ich mich, wozu ich das alles überhaupt mache, wenn das Ergebnis immer das gleiche ist. Die Hoffnung schrumpft, genauso wie meine Motivation weiterzumachen. Ohne Kaylas Ermutigungen hätte ich wahrscheinlich schon lange aufgegeben. Ohne sie würde ich auf der Straße in irgendeiner Ecke schmoren und betteln müssen, um nicht zu verhungern. Obwohl, ohne meine beste Freundin wäre ich wahrscheinlich ziemlich schnell wieder im Gefängnis gelandet.
Ich wünsche mir, dass ich ihr eines Tages all das zurückgeben kann, was sie mir geschenkt hat und noch mehr. Ich wünsche mir, dass ich eines Tages Brötchen und Croissants für uns kaufen und andere zum Essen einladen kann. Vor allem wünsche ich mir aber fürs Erste, dass wir nicht aus der Wohnung geschmissen werden. Mir würde nämlich niemand einfallen, der einem Ex-Drogenjunkie und einer Ex-Insassin eine Wohnung vermieten würde. Die Kombination kommt meistens nicht ganz so gut an. Außerdem muss ich aufgrund meiner Bewährung einen Wohnvertrag vorlegen. Wenn ich das nicht mehr kann, gibt es große Probleme.
„Sind mittlerweile eigentlich alle Armbänder und Uhren verkauft?", frage ich, als wir endlich alle gemeinsam am Tisch sitzen und essen.
Kayla kaut bemüht schneller, um mir mit leerem Mund antworten zu können. Manieren waren ihr schon immer wichtig. Vielleicht weil es ihre Art ist zu zeigen, dass man nicht dumm oder asozial sein muss, um hier zu landen. Und auch, wenn man nicht viel Geld hat, kann man sich trotzdem benehmen. Überraschenderweise ist das vielen Menschen nämlich ein Fremdwort, egal wieviel Geld sie besitzen.
„Alles bis auf eine Uhr. Die Dinger sind echt schneller weggegangen als gedacht. Ich kann dir nicht genau aus dem Kopf sagen, wieviel das alles gebracht hat, Bargeld eingeschlossen, aber für uns ist es eine große Menge. Wenn wir noch einmal diese Woche gehen, haben wir die Miete für diesen und nächsten Monat abgedeckt."
Das sind mehr als erfreuliche Nachrichten. Es hätte natürlich auch sein können, dass wir den Schmuck nicht loswerden, aber es muss ja nicht immer alles beschissen sein. Vielleicht können wir diesen Monat sogar mal mehr Gemüse und Obst kaufen und öfter kochen. Oder auch mal heiß und etwas länger duschen, wenn der Tag besonders anstrengend war.
„Dann würde ich sagen, gehen wir noch mal", erwidere ich von diesem kleinem Erfolg beflügelt.
„Übermorgen ist doch Feiertag, dann sind morgen Abend sicherlich viele feiern, wenn sie den nächsten Tag ausschlafen können. Dann könnten wir doch morgen gehen", meldet sich Darian zu Wort, der dem Gespräch zuvor still gefolgt war.
„Gute Idee."
„Dann ist das abgemacht", bestätigt nun auch Kayla den Vorschlag. Das heißt dann wohl, dass es morgen wieder in den Club geht. Auch wenn ich vorerst ehrlich gesagt genug vom Feiern und Alkohol habe. Mein Schädel brummt immer noch schrecklich und ich war eben kurz davor mich zu übergeben. Aber schließlich wollen wir nicht feiern, sondern arbeiten.
„Es gibt aber noch einige Rechnungen, die zu bezahlen sind. Mir wäre es lieber, wenn wir zu Basti gehen, das lohnt sich mehr", gibt Kayla zu bedenken. Ich nicke zustimmend, Darian will etwas einwenden, wird aber sofort von meiner besten Freundin unterbrochen. „Du zahlst keinen Eintritt, vergiss es einfach direkt."
Ihre Stimme duldet keinen Widerspruch, weswegen Darian missmutig brummend in sein Brot beißt und nichts weiter erwidert.
„Ich wäre eine tolle Mutter. Die Scheißerchen würden super auf mich hören", bemerkt sie darauf breit grinsend, woraufhin Darians und mein Lachen ertönt.
Tatsächlich könnte ich mir Kayla sehr gut als Mutter vorstellen, nur weiß ich, dass sie ihrem Kind wirklich etwas bieten wollen würde. Mal ganz davon abgesehen, dass wir noch sehr jung sind. Früher wollte sie immer in der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten. Vielleicht geht dieser Traum eines Tages noch für sie in Erfüllung.
Der laute Ton unserer Klingel reißt mich aus meinen Gedanken und lässt gleichzeitig Darians und Kaylas Gespräch verstummen. Ich war dermaßen in meine Welt abgedriftet, dass ich ihre Stimmen überhaupt nicht wahrgenommen habe.
„Ich gehe schon." Das Zurückschieben meines Stuhls wird von einem schrecklichen Quietschen begleitet, weswegen ich die Augen gequält zukneife und daraufhin einen entschuldigenden Blick zu meinen Freunden werfe.
Im Flur angekommen, öffne ich die ziemlich demolierte Wohnungstür und erblicke sofort einen unserer Nachbarn, der in der kleinen Wohnung unter uns mit seiner Frau und ihrem kleinen Kind wohnt. Er ist noch ziemlich jung, jedoch ist sein Gesicht von Sorgenfalten geprägt und er wirkt ausgelaugt und fertig. Unter seinen Augen zeichnen sich dunkle Augenringe ab, weswegen ich vermute, dass ich nicht die Einzige bin, die nachts schlecht schläft.
„Hi, Tobias", begrüße ich ihn freundlich und warte darauf, dass er sein Anliegen äußert.
„Hallo, Adela. Ich will euch gar nicht stören, aber wir sammeln Unterschriften gegen die Mietpreiserhöhung. Die Wahrscheinlichkeit, dass es etwas bewirkt, sind nicht unbedingt hoch, aber wir wollen nicht kampflos aufgeben und dachten, dass es wenigstens ein Versuch wert ist. Wollt ihr auch unterschreiben?"
Erst jetzt fällt mir das Klemmbrett unter seinem Arm auf. Das weiße Papier ist bereits mit einigen Unterschriften versehen, was Hoffnung in mir aufkeimen lässt.
„Klar, das ist eine super Idee! Ich hole Kayla, warte einen Moment." Mit diesen Worten lasse ich Tobias stehen und laufe zurück zur Küche.
„Weißt du, manchmal habe ich das Gefühl, dass ich überhaupt nicht an sie rankomme. Früher war das anders", tönt Darians dunkle Stimme gedämpft zu mir, was mich neugierig stehen bleiben lässt. Lauschen ist kacke, aber ich bin neugierig und genau deswegen bleibe ich stehen.
„Wir hatten beide beschissene Erlebnisse. Die Zeit verändert und wenn du das durchmachen musst, was Dela durchgemacht hat, ist diese Veränderung nun mal nicht immer positiv. Ihre Schwester-"
Bevor sie fortfahren kann, trete ich geräuschvoll ein, sodass sofort beide Augenpaare zu mir schießen. Auf Kaylas Gesicht tritt augenblicklich ein reuevoller Blick, denn sie kann sich wohl denken, dass ich einen Teil gehört habe. Sie bedeutet mir alles, aber sie hat kein Recht über meine Familie und mich bei Darian zu reden. Das ist ganz allein meine Sache. Vor allem dieses eine Geschehnis.
„Tobi sammelt Unterschriften gegen die Mietpreiserhöhung. Willst du auch unterschreiben?"
„Klar."
Sie steht ebenfalls auf und folgt mir zurück zur Tür, an der immer noch ein leicht überforderter Tobias steht. Ich hätte ihn nicht so lange warten lassen sollen, der Arme wusste sicher nichts mit sich anzufangen.
Nachdem auch Kayla ihn fröhlich begrüßt und wenige Worte mit ihm wechselt, unterschreiben wir und verabschieden Tobias, der seine Tour durch das Wohnhaus fortsetzt. Ich schlage die Tür zu und setze mich erneut wortlos in die Küche, in der Darian gerade seine Sachen zusammenpackt.
„Ich muss los, Leute, es gibt noch einiges für die Arbeit zu tun. War schön mit euch." Er zwinkert uns kokett zu, zieht sich seine Jacke über und bleibt schließlich noch kurz im Türrahmen stehen, während ich mich über seinen plötzlichen Abflug wundere. „Bis morgen dann."
„Tschüss." Kayla begleitet ihn noch zur Tür, während ich auf die zerschrammte Tischplatte vor mir starre.
Hoffentlich kommt es morgen Abend zu keinem Absturz. Aber wie tief sollen wir noch fallen?
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