Kapitel 23

Die Handschellen schmiegen sich kalt um meine heiße Haut. Auch wenn ich sie dort nicht das erste Mal spüre, werde ich mich nie daran gewöhnen können. Sie gehören nicht dorthin. Ich gehöre nicht hierhin. Wenn sie mir doch nur geglaubt hätten. Aber die Beweise sprechen gegen mich. Und Beweisen wird natürlich mehr Glauben geschenkt als der Aussage eines fast achtzehnjährigen Mädchens, das verzweifelt auf seine Unschuld plädiert.

Vor und hinter mir laufen jeweils eine der Gefängniswärterinnen, welche mich zu dem Besucherraum führen. Bis jetzt hat mir niemand Auskunft darüber gegeben, wer zum Besuch angemeldet ist. Ich vermute meinen Anwalt, der vielleicht noch eine Unterschrift braucht. Es sind nun schon mehrere Tage seit meiner Inhaftierung vergangen, aber ich wurde kein einziges Mal von meiner Familie besucht, geschweige denn angerufen. Außer von Kayla. Allein der Gedanke daran führt dazu, dass sich meine Brust schmerzhaft zusammenzieht. Wenn du ihr Ansehen beschmutzt, wirst du ganz schnell aus ihren Gedächtnissen radiert.

Mein Blick ist fest auf den Boden gerichtet. Ich meide die Reflektion meines Ichs auf der Glasfront rechts von mir ganz bewusst. Im Gegensatz zu den Darstellungen in den Filmen muss ich keinen gestreiften Einteiler tragen. Mir wurde ein grauer Pullover sowie eine graue Jogginghose gegeben, die ich jedoch nun schon seit mehreren Tagen trage. Unter meinen Augen zeichnen sich schrecklich dunkle Ringe ab, die von Nacht zu Nacht stärker werden. Ich bekomme kein einziges Auge zu, was mehrere Gründe hat. Das unbequeme Bett ist sicherlich einer davon.

Die ersten Nächte hatte ich schrecklich viel geweint. Sobald meine Zellengesellinnen schliefen, habe ich den Tränen stumm freien Lauf gelassen. Mittlerweile starre ich bloß an die dunkle Decke und hoffe, dass es schnell wieder hell wird. Tagsüber rede ich nicht viel, nur, wenn ich gefragt werde, was aber nicht oft vorkommt. Die meisten hier sind älter als ich. Es ist komisch. Das Schönste am Tag ist die eine Stunde, die wir draußen verbringen müssen. Es ist das Einzige, was mich hier drinnen vom Durchdrehen abhält. Außer des Gedankens an Elian und Kayla.

Ein Gefängniswärter öffnet uns die dicke eiserne Tür, die zum Besucherraum führt. Ich werde hinein dirigiert und überraschenderweise nimmt mir die blonde Wärterin die Handschellen ab. Sie schenkt mir ein kleines Lächeln, was mich noch mehr irritiert, doch ich erwidere es. Solche Gesten sind in letzter Zeit sehr selten geworden. Wir sind hier schließlich nicht im Paradies, sondern im Gefängnis.

Die andere Wärterin, die ihre Hand interessanterweise stets an ihrer Waffe hat, deutet auf den Tisch, an dem bereits meine Besucher sitzen. Als ich sehe, wer es ist, entgleiten mir alle Gesichtszüge. Es dauert eine Weile, bis ich mich aus meiner Starre befreien kann und schließlich schnellen Schrittes auf die beiden zulaufe. Niemals hätte ich mit meinem Vater und Elian gerechnet.

Auf halbem Wege kommt mir Elian entgegen, der seine zierlichen Arme stürmisch um mich schlingt. Sein Kopf geht mir bereits bis zu meinem Kinn. Für seine elf Jahre ist er schon unheimlich groß, doch für mich wird er immer mein kleiner Bruder bleiben. Tränen schießen mir in die Augen, obwohl ich dachte, dass sie bereits alle verbraucht sind. Elian ist mein Ein und Alles, vor allem seit Mama gestorben ist. Er ist meine Luft zum Atmen. Mein Licht in der Dunkelheit. Ohne ihn könnte und würde ich nicht leben wollen.

„Hey. Ich habe dich schon vermisst, kleiner Meister", flüstere ich mit brüchiger Stimme ganz nah an sein Ohr und drücke ihm daraufhin einen Kuss auf seine Wange, bevor ich meine Arme noch fester als zuvor um ihn schließe.

„Ich dich auch, Dela. Papa sagt, dass du was ganz Schlimmes gemacht hast. Stimmt das?"

„Es wird sicherlich ganz viel erzählt, aber ich habe nichts getan, hörst du? Du musst mir glauben, Elian. Ich würde niemals etwas Schreckliches tun, das anderen wehtut."

Ich halte ihn eine Armeslänge von mir entfernt und schaue ihm fest in seine hellblauen Augen, die meinen und auch Lorenas so sehr ähneln. Wir haben sie alle von Mama geerbt. Elian darf nicht schlecht von mir denken. Es würde mich zerstören. Nein, es würde mich nicht nur zerstören, es würde mir den Todesstoß geben. Er nickt ganz energisch, wodurch ihm seine karamellfarbenen Haare ins Gesicht fallen.

Gerade als ich noch etwas erwidern will, tritt unser Vater hinter ihn und zerrt ihn einige Schritte von mir weg. Seine grauen Augen sprühen nichts als Gift und Hass, sobald sie auf mich fallen. Ihm ist die Enttäuschung, der Ekel und die Wut ins Gesicht geschrieben. Er hasst mich. Wenn er es nicht schon vorher getan hat, tut er es spätestens jetzt. Meine Augen fahren über seine hellbraunen Haare, die an manchen Stellen schon leicht ergraut sind und seine krumme Nase bis hin zu seinen Lippen, die zu einer schmalen Linie verzogen sind. Ich suche verzweifelt nach irgendeinem Anzeichen der Liebe, die ein Vater für seine Tochter verspüren sollte, doch ich werde nicht fündig.

„Ich denke, das reicht dann jetzt", ertönt seine autoritäre, monotone Stimme. „Nicht, dass Elian auch noch hier landet. Er sollte sich kein Beispiel an dir nehmen."

„Hör nicht auf ihn", flehe ich sofort Elian an, was sich jedoch als großen Fehler rausstellt. Die Hand meines Vaters schnellt hervor und hinterlässt einen brennenden Abdruck auf meiner Wange. Nicht zum ersten Mal. Ich beiße die Zähne fest zusammen und versuche die aufkommenden Tränen zu unterdrücken, die sich an die Oberfläche kämpfen wollen. Für dieses Arschloch, das sich meinen Vater schimpft, werde ich keine einzige Träne mehr vergießen. Bis vor kurzem hasste ich mich noch dafür, dass ich meinen eigenen Papa nicht so liebte wie man es von mir verlangte. Der Hass ist immer noch da, doch nun hat er sich komplett auf ihn gerichtet.

Entgegen meinen Erwartungen rührt sich niemand. Niemand weist meinen Vater zurecht, niemand erkundigt sich nach meinem Wohlbefinden. Lediglich Elian steht stocksteif neben unserem Vater, der seine kleine Hand krampfhaft und viel zu fest mit seiner großen umschlungen hält, und weint stumme Tränen. Ich schenke ihm ein aufmunterndes Lächeln und will ihm die Tränen wegwischen, doch sobald ich auch nur einen Schritt nach vorne treten will, greift Papa wieder ein.

„Bleib da stehen. Oder du hast wieder eine sitzen. Hoffentlich werden dir hier Manieren beigebracht. Deine Mutter und ich haben diesbezüglich ja scheinbar versagt."

In mir kocht eine riesige Wut auf. Dass er mich niedermacht ist mir egal, aber er hat gefälligst Mama rauszuhalten. Um mich nicht noch mehr demütigen zu lassen und Elian zuliebe sage ich nichts. Ich bleibe wie so oft still und lasse alles über mich ergehen. Besonders nach dieser Zeit ist mir bewusst geworden, dass die Wahrheit sowieso niemand glaubt.

„Wo ist Lorena?", erkundige ich mich.

Nicht, weil ich sie gerne sehen will oder sie gar vermisse. Ich erkundige mich, weil ich wissen will, wo meine Schlange von Schwester abgeblieben ist. Es wundert mich fast schon, dass sie sich dieses Theater hier und meine Demütigung entgehen lässt, wo es doch sonst immer zu ihren Lieblingsbeschäftigungen gehört hat dabei zuzusehen.

„Deine Schwester ist dank dir weg. Sie hat es nicht mehr ausgehalten und schämt sich für dich. So wie wir alle. Du bist eine Schande, Adela. Eine wirkliche Schande."

Er schüttelt seinen Kopf. So wie er ihn geschüttelt hat, als ich versucht habe ihm die Wahrheit zu erklären. Aber auch er hat mir nicht geglaubt. Mein eigener Vater glaubt mir nicht.

„Warum hast du Elian mitgenommen, wenn du mich nur wieder fertig machen willst?"

Die Bitterkeit in meiner Stimme ist kaum zu überhören. Und auch der Hass, den ich ihm gegenüber empfinde. Dabei sollten mir er und sein Verhalten gleichgültig sein. Ich kann nicht verstehen, warum er Elian mit hineinziehen muss. Aber wahrscheinlich will er auch sein Bild von mir zerstören.

„Es konnte niemand auf ihn aufpassen. Außerdem soll eher ruhig sehen, was seine große Schwester für eine elendige Versagerin ist. Es wird doch immer von Negativbeispielen geredet. Du bist eins", spuckt er mir vor die Füße und zerstört mich damit immer mehr.

Ich will keine Versagerin sein. Und ich werde mein Leben auf die Reihe kriegen. All das ist nicht meine Schuld. Ganz und gar nicht meine Schuld und das werde ich, sobald ich draußen bin, allen beweisen.

„Bist du nur gekommen, um mich zu beschimpfen?"

„Nein. Nein, bin ich nicht. Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass wir umziehen werden. Ich will nicht, dass du weißt wohin und ich will nicht, dass du dich versuchst zu melden oder gar versuchst herauszufinden, wo wir hin sind. Du gehörst nicht mehr zur Familie. Ich will dich nicht mehr sehen. Wir sind also gekommen, um uns zu verabschieden."

In mir gefriert alles zu Eis. Das muss ein Scherz sein. Das kann er überhaupt nicht machen. Mein Herz klopft wild in meiner Brust, doch ich versuche mich zu beruhigen. Es kann nicht stimmen. Wir haben überhaupt nicht genug Geld für einen Umzug. Er legt mich rein. Er will mich nur noch mehr demütigen. Mich brechen und mich dazu bringen den Kontakt abzubrechen, damit er Elian von mir abkapseln kann. Aber das wird er nicht schaffen. Nicht, solange ich noch lebe. Das ist alles ein ganz beschissener Scherz. Ich lache verbittert auf, da mir die ganze Situation so bescheuert und grotesk vorkommt. Nur bin ich die Einzige, die lacht. Um mich herum bleibt es still.

Mein Erzeuger scheint alles gesagt zu haben, denn er dreht sich um und will ohne weitere Worte den Besucherraum verlassen, doch Elian reißt sich los und rennt zu mir herüber. Er schließt seine Arme ein letztes Mal besonders fest um mich, während ich ihm beruhigend übers Haar streiche.

„Es wird alles gut, versprochen. Ich schreibe dir jeden Tag einen Brief. Verärgere Papa nicht zu sehr. Und denk immer daran, wie sehr ich dich lieb habe, ja? Ich hoffe, dass du mich auch immer noch lieb hast, wenn wir uns bald wiedersehen."

„Ich werde dich immer lieb haben, Dela."

Nach diesen Worten wird Elian grob am Arm gepackt und von Vater aus dem Raum gezogen, der mich keines Blickes mehr würdigt. Ich weiß, dass ich nun endgültig fertig mit ihm bin. Dass ich nicht mehr um seine Gunst buhlen werde. Einzelne Tränen rollen meine Wangen hinunter, während meine Augen starr und leblos auf die nun geschlossene Tür geheftet sind. Mir ist bewusst, dass ich Elian eine lange Zeit nicht mehr sehen werde, aber ich werde ihm, wie versprochen, jeden Tag einen Brief schreiben. Und wenn ich dafür meine Seele an den Teufel verkaufen muss.

Ich spüre stumpf, wie mir erneut Handschellen angelegt werden und wie ich unsanft aus dem Raum dirigiert werde, da ich mich selbst nicht vom Fleck bewege. Es ist als wäre ich nicht mehr in meinem eigenen Körper. Als wäre ich überall, aber nicht dort, wo ich sein sollte. Hoffentlich geht Papa gut mit Elian um. Wenn nicht, werde ich ihn umbringen. Wenigstens würde ich dann für etwas sitzen, das ich wirklich getan habe.

In meiner Zelle angekommen kauere ich mich auf dem kleinen Bett zusammen. Ich weine nicht mehr. Allein diese Position strahlt bereits zu viel Schwäche aus und Schwäche wird mein Todesurteil sein. Das letzte Mal habe ich mich so elend, allein und verloren gefühlt als Mama gestorben ist. Sie hätte zu mir gehalten. Sie hätte für mich gekämpft. Aber sie ist nicht da, also werde ich wohl oder übel für mich allein kämpfen müssen. Ich starre gefühlte Stunden auf die weiß bemalte Wand, bis sich ein Entschluss tief in mir festsetzt.

Wenn ich wieder draußen bin, werde ich Elian zu mir holen. Ich werde mein Leben auf die Reihe bekommen. Und ich werde mein verschissenes Glück finden und mir den Arsch abarbeiten, damit ich uns ein gutes Leben gewährleisten kann.

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