Kapitel 22
Die Perücke auf meinem Kopf hinterlässt heute ein besonders unangenehmes Gefühl, jedoch versuche ich es weitestgehend zu ignorieren. Kayla scheint es dabei nicht anders zu gehen, da sie sich während des Anziehens ihrer Schuhe immer wieder mit gequältem Gesichtsausdruck an den Kopf fasst. Es ist Wochenende und wie auch bereits letzte Woche, werden wir einem Club der Stadt einen Besuch abstatten und einen der Gäste auf ganz besondere Art und Weise beehren.
Darian hatte nur allzu sehr verdeutlicht, dass er uns nicht allein gehen lassen wird oder uns andernfalls verpfeift, sollten wir dies verweigern. Jedoch kann ihn nichts heiß machen, was er nicht weiß. Deswegen haben Kayla und ich vereinbart, alles wie gewohnt durchzuziehen und kein Sterbenswörtchen bei unserem guten Freund zu verlieren. Es ist nicht nur für uns, sondern auch besonders für Darian, das Beste, wenn er nicht dabei ist.
Nach meinem letzten großen Fehler sitzen nun nicht nur Make-up, Haare und das Kleid perfekt, sondern auch die Kontaktlinsen befinden sich dort, wo sie hingehören. Bekanntlich lernt man aus Fehlern und diesen werde ich sicher nicht noch einmal begehen. Bleibt zu hoffen, dass sich die schlechten Ereignisse weit entfernt halten und aus der letzten Reihe zuschauen, anstatt mit auf dem Feld zu spielen.
Kayla schließt die Wohnungstür ab, während ich geduldig die gelben Wände des Treppenhauses anstarre und darauf warte, dass wir endlich los können. Da die Laune meiner besten Freundin seit letzter Woche verwunderlicher Weise exponentiell gestiegen ist, hakt sie sich breit grinsend bei mir unter, sodass wir gemeinsam die Treppen in unseren Heels hinunterstolzieren, wobei ich jedes Mal innerlich bete, dass ich dabei nicht umkomme. Wegen hohen Schuhen in einem ranzigen Treppenhaus zu sterben, wäre dann doch nicht unbedingt der Tod, den ich mir wünschen würde. Andererseits aber besser als beispielsweise wegen zu schlechtem Sex zu sterben.
Ich ziehe die schwere Tür auf und lasse Kayla den Vortritt, jedoch bleibt sie abrupt an der Türschwelle stehen und dreht ihren Kopf langsam mit weit aufgerissenen Augen zu mir.
„Hammerbeschissene Affenscheiße", flüstert sie dabei und versucht krampfhaft ihre Lippen währenddessen nicht zu bewegen. In meinem Kopf malen sich bereits die schlimmsten Szenarien aus, weswegen ich nach vorne trete und über ihre Schulter schaue. Was ich dort erblicke, freut mich ebenfalls ganz und gar nicht. Es ist einer der Momente, in denen ich mir innigst wünsche, augenblicklich unsichtbar zu werden.
Darian steht angelehnt an der Mauer des gegenüberliegenden Gebäudes und mustert uns mit einem Pokerface, das mir bisher gar nicht von ihm bekannt war. Er trägt ein weißes Hemd mit einer schwarzen Jeans und scheint durchaus zu genießen, dass er die Oberhand in dieser Situation hat. Immerhin steht der Überraschungsfaktor auf seiner Seite.
„Ich freue mich auch euch zu sehen. Wohin des Weges, meine Damen?"
Er bewegt sich einige Schritte auf uns zu, bis er schließlich mit verschränkten Armen vor uns stehen bleibt, wobei er seinen Blick kritisch über uns fliegen lässt. Wenn ich mir bei einer Sache sicher bin, dann, dass Darian absolut nicht glücklich darüber ist, dass wir ohne ihn verschwinden wollten.
„Was machst du denn hier? Wir wollten gerade noch einkaufen", startet Kayla den vergeblichen Versuch eine Ausrede zu finden und uns aus diesem Schlamassel zu befreien. Jedoch würde ein Blinder erkennen, dass wir sicher nicht auf dem Weg zum Supermarkt sind. Davon abgesehen, dass Darian nun weiß, was wir an den Abenden unserer Wochenenden treiben.
„Hört auf mich zu verarschen. Bewegt lieber euren Arsch, ich dachte, wir wollen jemanden beklauen."
Ein spitzbübisches Grinsen legt sich plötzlich auf seine Lippen, während er sich zwischen Kayla und mich drängt und uns dazu auffordert unsere Arme bei ihm einzuhaken. Sofort setzt er sich in Bewegung, wobei er uns gezwungenermaßen mitzieht. Kayla wirft mir einen verzweifelten Blick hinter Darians Rücken zu, den ich aber nur mit einem Schulterzucken quittiere.
Es verblüfft mich immer wieder, wie sehr das Verbotene und Böse die Menschen reizt. Dabei sind den meisten nicht einmal die Folgen und Konsequenzen bewusst, die solche Taten mit sich bringen. Aber allein die Komponente, dass manches illegal ist, reicht, um ein inneres Verlangen zu erwecken, genau das auszuprobieren. Den Nervenkitzel zu erfahren. Nur folgt nach diesem Hoch meist ein Tief. Und je intensiver das Hoch, desto heftiger der Fall.
Innerhalb weniger Minuten erreichen wir den Club, vor dem sich bereits eine beträchtliche Schlange gebildet hat, an deren Ende wir uns anstellen. Während Darian und Kayla ein Gespräch über eine mir unbekannte Band führen, beobachte ich meine Umgebung und halte bereits nach möglichen Zielobjekten Ausschau. Diese Methode war schließlich das letzte Mal ein Erfolg. Aber keiner der Wartenden scheint mich wirklich zu bemerken und auch mir springt niemand sonderlich Attraktives ins Auge.
Da ich so in meine Gedanken und Beobachtungen vertieft bin, bemerke ich nicht, dass wir bereits vor dem Türsteher angekommen sind. Es handelt sich um einen kräftigen Mann, wahrscheinlich Mitte vierzig, mit einem kleinen Ziegenbart, welcher lustig durch den leichten Wind umhertanzt. Er lässt seine Augen kritisch über meinen Körper schweifen, deutet mir dann aber mit einem Nicken, dass ich eintreten darf. Auch Kayla lässt er herein und wir wollen bereits mit Darian hineingehen, jedoch wird letzter nicht durchgelassen.
„Ich gehöre zu den beiden Frauen", informiert mein bester Freund den Mann, der keinerlei Regung zeigt und Darian stattdessen angewidert anschaut.
Ich betrachte die Szene stumm, da ich mehr als perplex bin und nicht verstehe, wo genau das Problem liegt. Doch mit dem nächsten Satz des Türstehers wird so einiges klar.
„Afrikaner haben hier nichts zu suchen. Hau ab und treib dein Unwesen woanders."
Kayla und mich schockt diese Aussage so sehr, dass wir diesen Mann nur perplex anschauen können. Doch Darian wirkt fast schon ungerührt und korrigiert ihn ohne jegliche Emotionen.
„Ich bin Deutscher. Auch wenn ich auf den ersten Blick nicht wie der klassische Deutsche aussehe."
Während Darian diese Situation wahrscheinlich schon tausend Mal hinter sich hat, kocht es in mir vor Wut. Ruckartig packe ich Kayla und Darian am Handgelenk und ziehe sie weg, wobei ich angeekelt vor diesem Kerl stehenbleibe.
„Lasst uns gehen, so ein Club sollte keinen Cent verdienen."
Mit diesen Worten wende ich mich hasserfüllt ab und kann mich gerade so davon abhalten, ihm doch noch einen Schlag zu verpassen, oder auf sonstige Art und Weise handgreiflich zu werden. Wir leben im fucking einundzwanzigsten Jahrhundert, müsste da nicht langsam angekommen sein, dass wir alle gleich sind und gleich behandelt werden sollten?
„Bist du okay?", wende ich mich an Darian, der nun doch leicht wütend wirkt und mit seinem Fuß einen Stein vom Gehweg kickt.
„Ja. Ist nicht das erste und nicht das letzte Mal. Irgendwann gewöhnt man sich dran."
Da ich nicht weiß, was ich noch erwidern soll und in keinster Weise nachvollziehen kann, wie es sich anfühlen muss, bleibe ich still. In solchen Momenten wird mir mal wieder bewusst, welches Privileg ich allein aufgrund meiner Hautfarbe habe. Ich könnte im Strahl kotzen. Manchmal hasse ich Menschen.
Die Stimmung ist unheimlich gedrückt. Jeder von uns hängt schweigend seinen Gedanken hinterher, wobei Kayla die Führung übernommen hat und uns nun zu einem anderen Club führt, der nicht weit entfernt liegt. Da es nun bereits später ist, hat sich die Länge der Schlange um einiges verkürzt, sodass wir schneller ins Innere des Clubs kommen, diesmal sogar ohne Komplikationen. Eher im Gegenteil, der Türsteher hier war sehr nett.
Sobald mein Fuß über die Türschwelle tritt, legt sich in meinem Kopf ein Schalter um und ich gelange in meinen Raubtier-Modus. Der Bass dröhnt durch meinen Körper, meine Augen gewöhnen sich schnell an die Dunkelheit mit einzelnen aufblitzenden Lichtern und suchen die Menschenmenge nach einer passenden Person ab.
Ich beschließe es zuerst an der Bar zu versuchen, weswegen ich einen kurzen Blick zu Kayla werfe, die mir zunickt, und laufe dann mit eleganten Schritten auf einen leeren Barhocker zu, in der Hoffnung, dass ich das ein oder andere Augenpaar auf mich ziehen kann. Kurz schiele ich auf die Stelle zurück, an der ich eben noch stand, wo ich einen sichtlich überforderten Darian entdecke. Seine Augen flackern unsicher von einem Ort zum anderen, während er seine Hände unschlüssig in die Hosentaschen schiebt. Er wollte unbedingt mitkommen, jetzt kann er sehen, was er mit sich anstellt. Wir sind nämlich nicht auf seine Hilfe angewiesen. Lediglich auf seine Diskretion.
Der penetrante Geruch eines starken Aftershaves umgibt mich und ich kann deutlich die verstohlenen Seitenblicke eines Mannes mittleren Alters vernehmen. Normalerweise würde er keinesfalls meinem persönlichen Beuteschema entsprechen. Er ist zu alt, die braunen Haare sind an die Kopfhaut angeklatscht und die Brusthaare sprießen aus dem Ausschnitt seines Hemdes heraus. Aber die teure Uhr an seinem Handgelenk macht ihn durchaus attraktiv.
Ich setze einen lasziven Blick auf und bewege mich mit übertrieben schwingenden Hüften auf ihn zu, woraufhin ich schließlich wenige Zentimeter vor ihm zum Stehen komme. Beinahe reißt mich seine schreckliche Alkoholfahne von den Socken, doch ich überspiele den ersten Schock mit einem breiten verführerischen Lächeln. Seine gierigen dunklen Augen checken meinen Körper ab, was einen Würgereiz in mir aufkommen lässt, doch ich ziehe das Kleid noch etwas weiter runter, um ihm einen tieferen Einblick in mein Dekolleté zu gewähren. Ablenkung ist immer gut.
„Ich dachte schon es gibt keine anständigen Männer mehr. Aber dann habe ich eben dich gesehen", flüstere ich nah an seinem Ohr, wobei es schon fast einem Stöhnen gleicht und streiche mit meiner Hand über seinen Oberarm. Dabei habe ich das Gefühl, dass es mir jede Sekunde hochkommen könnte, aber ich bleibe stark. Das hier hat einen Sinn.
„Von so einer wunderschönen Frau hört man das doch gerne", erwidert der Schmierlappen und legt sein breitestes Grinsen auf. Mit diesem Kerl werde ich ganz sicher nicht rummachen.
Aber ich will die Uhr, weswegen ich auf seine Komplimente eingehe und ihn immer wieder unauffällig berühre. Ich habe die letzten Wochen stark an meinen Fähigkeiten gearbeitet, sodass ich mittlerweile im Schlaf stehlen könnte. Der Mann legt nach einer Weile seinen Arm, an dem sich der Zeitmesser befindet, um meine Taille. Das ist meine Chance.
Ich fixiere seine Aufmerksamkeit auf meine Augen, während ich ihn mit meiner freien Hand immer wieder berühre und ihn somit ständig ablenke, sodass seine Aufmerksamkeit immer woanders liegt. Meine andere Hand öffnet blitzschnell den Verschluss und entfernt seinen Arm von meinem Körper, wobei ich ihm unauffällig die Uhr abstreife und in Kaylas Hand fallen lasse, die für einen kurzen Moment dicht hinter mir steht. Ein breites Grinsen legt sich auf meine Lippen, da er nichts bemerkt hat und stattdessen irgendetwas von seiner Firma erzählt. Meine Arbeit hier ist getan.
„Ich muss mal kurz für böse Mädchen", kichere ich und widere mich absolut selbst an, bevor ich mich entschuldigend abwende und schließlich genervt die Augen verdrehe.
Scheinbar ist der Gute jedoch noch nicht fertig mit mir, denn er verpasst mir mit seiner Pranke einen Klaps auf den Arsch. Unter normalen Umständen hätte ich ihm daraufhin einen Klaps auf die Wange gegeben, doch ich drehe mich bloß um und zwinkere ihm zu. Ekelhaft.
Wie ein Geist verschwinde ich in der tanzende Menge, in der sich Kayla zu mir gesellt und wir gemeinsam den Weg zum Ausgang antreten. Darian steht immer noch an derselben Stelle wie zuvor, setzt sich aber auch endlich in Bewegung als er uns sieht. Zu dritt verlassen wir den Club und sehen zu, dass wir schnellstmöglich viel Abstand zwischen uns und den Tatort bringen. Kayla führt nach einigen Metern einen kleinen Freudentanz auf, was mehr als komisch aussieht, und quasselt fröhlich vor sich her, während auch ich das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht bekomme. Das Adrenalin ist noch immer deutlich zu spüren und nach diesem Erfolg fließen die Glückshormone nur so durch meinen Körper. Lediglich Darian bleibt überraschend still.
Auch der Weg nach Hause geht schnell vorüber, sodass wir wenig später vor unserem Wohnblock stehen und uns von Darian verabschieden, der uns netterweise begleiten wollte.
„Schlaf gut", flötet Kayla fröhlich, bevor sie leicht hüpfend ins Treppenhaus verschwindet.
Ich will mich ebenfalls zum Gehen abwenden und mich für heute Nacht verabschieden, doch Darian scheint andere Pläne zu haben. Er greift nach meinem Handgelenk und zieht mich ruckartig zu sich, sodass ich mit dem Rücken gegen seinen Oberkörper pralle. Sein heißer, stockender Atem streift meinen Nacken, was auch meinen beschleunigt. Was genau hat er vor?
Ich spüre seine weichen Lippen, die ich schon auf meinen gespürt habe, an meinem Ohr, bevor er mit rauer, gedämpfter Stimme zu flüstern beginnt.
„Ich mag es nicht, dich mit anderen Kerlen zu sehen, Adela."
Verwirrt und abrupt halte ich inne, bevor ich mich mit zusammengezogen Augenbrauen zu Darian umdrehe. Seine dunklen Augen sind fest auf mein Gesicht geheftet, studieren es ganz genau und warten auf eine Reaktion, doch ich muss mich erst sammeln. Mit dieser Bemerkung bin ich mehr als überfordert, zumal ich gar nicht damit gerechnet habe.
Ich dachte, dass zwischen uns alles klar ist. Dass wir einfach nur Freunde sind und bleiben. Und dann kommt sowas. Als wäre nicht alles kompliziert genug.
Sofort schießen meine Gedanken zu Kayla, die ihr Herz an Darian verloren hat. Sie wartet sicher auf mich und am Ende malt sie sich die schlimmsten Bilder aus, was wir tun. Ihr Herz ist sowieso schon in Einzelteile gebrochen, wir sollten es nicht noch mehr zertrümmern. Jetzt kann man die Teile noch zusammenkleben. Jetzt sind sie noch nicht zu zersplittert.
„Darian...", beginne ich zaghaft.
Ich hasse es, dass er uns in diese Situation bringt. Es könnte doch alles so einfach sein. Warum habe ich keine Andeutungen bemerkt? Oder hat er vielleicht gar keine gemacht? In letzter Zeit war ich mit allem beschäftigt, aber sicherlich nicht damit, ob Darian Eifersucht verspüren könnte. Oder ob er das Ereignis aus Italien wiederholen würde. Denn für mich ist klar, dass es sich dabei um eine einmalige Sache gehandelt hat, die definitiv aus dem Ruder gelaufen ist.
„Ist schon gut. Du musst nichts sagen. Ich verstehe mich selbst nicht so richtig. Irgendwie dachte ich, dass ich damit umgehen kann. Aber Eifersucht ist ein wirklich beschissenes Gefühl."
Mittlerweile hat er sich um einige Zentimeter von mir entfernt, sodass sein Atem nicht mehr auf meiner Haut zu spüren ist, was auch zu einer erhöhten Konzentration meinerseits beiträgt. Ich selbst hasse mich dafür, dass ein kleiner Teil in mir seine Nähe will.
Seine Körperhaltung ist abwehrend und in gewisser Weise sieht er etwas gekränkt aus. Wahrscheinlich hatte er sich anderes erhofft. Genau aus diesem Grund habe ich die Hoffnung aufgegeben oder versuche es zumindest. Meistens nehmen die Dinge ein weniger gutes Ende. So zeigen es zumindest meine Erfahrungen bis zum heutigen Tage. Meistens kommt man nur mit einigen Verletzungen aus dem Kampfring. Selbst, wenn man siegt
„Warum jetzt? Ich dachte, wir hätten das mit dieser Nacht und überhaupt geklärt", lege ich ihm meine Gedanken offen.
„Ich weiß es doch selbst nicht. Aber als ich dich heute mit diesem Typ gesehen habe...", seufzt er verzweifelt. „Es hat mir einfach nicht gefallen. Du bedeutest mir viel. Und ich muss oft an dich denken." Darian sieht in diesem Augenblick, wie er mit hochgezogenen Schultern in der Dunkelheit steht, so unglaublich verletzlich aus. Fast schon wie ein Kind.
„Ich habe wirklich momentan keinen Kopf für sowas", gebe ich flüsternd zu.
„Ist in Ordnung, ich verstehe das. Lass uns einfach so tun als hätte dieses Gespräch nie stattgefunden, ja?"
Widerwillig stimme ich zu, doch wir wissen beide, dass es nicht möglich ist. Ich frage mich, was verdammt in letzter Zeit los ist, dass sich jedes Mal irgendetwas zwischen mich und eine Person schieben muss, die mir wichtig ist. Als gäbe es nicht schon genug Probleme, die bewältigt werden müssen.
Kayla war die letzten Tage so gut gelaunt. Es ging endlich wieder bergauf. Aber das wird mit relativ großer Sicherheit gleich wieder verschwunden sein, denn falls sie Fragen haben sollte, werde ich diese ehrlich beantworten. Das Pflaster sollte schnell abgerissen werden, dann schmerzt es nur kurz.
„Gute Nacht."
Vorsichtig schließe ich die Lücke zwischen uns und schlinge meine Arme um seinen warmen, breiten Körper. Ich spüre, wie Darian zaghaft die Umarmung erwidert, fast schon unschuldig und schüchtern. Würde uns jemand so sehen, könnte diese Person niemals vermuten, was wir schon im Bett getrieben haben.
Nach wenigen Sekunden löse ich mich von ihm und lächle ihn ein letztes Mal an, bevor ich mich umdrehe und schließlich in unserem Wohnkomplex verschwinde, ohne noch einmal zurückzuschauen. Im Treppenhaus nehme ich immer mehrere Stufen zusammen, sodass ich in Kürze bei unserer Wohnung ankomme, deren Tür offen steht.
Das Gespräch liegt mir schwer im Magen. Manchmal wünschte ich, dass man Geschehnisse und Gefühle auslöschen könnte. Ich weiß, dass mir Darian diesen kleinen Korb nicht übel nimmt und dass es nichts an unserer grundsätzlichen Freundschaft ändern wird, aber mir wäre es trotzdem lieber, wenn es erst gar nicht dazu gekommen wäre. Und es wäre mir auch lieb, wenn ich die vermutlich kommende Unterhaltung nicht führen müsste.
Im Flur streife ich meine schwarzen High Heels und die Jacke ab, bevor ich nach Kayla schaue, die ich in der Küche entdecke. Sie trägt bereits ihre Schlafsachen, ist abgeschminkt und kocht sich einen Tee. So wie es aussieht auch einen für mich, denn auf der Arbeitsplatte stehen zwei Tassen. Als sie mich bemerkt, lehnt meine beste Freundin sich mit verschränkten Armen gegen die Küchenzeile.
„Darian wollte noch mit mir reden."
„Worüber?" Im Gegensatz meiner Erwartungen klingt sie nicht verletzt, sondern einfach nur ehrlich interessiert.
„Er hat komisches Zeug geschwafelt", antworte ich vage. Doch an der Art und Weise, wie sie ihre Augenbrauen nach oben zieht, kann ich erkennen, dass es absolut nicht ausreichend ist.
„Er ist eifersüchtig. Wegen des Mannes eben." Unsicher hebe ich meinen Blick, um zu Kayla zu schauen, doch in ihrem Gesicht lässt sich keinerlei Regung erkennen, was mich zugegeben irritiert. „Aber ich will nichts von ihm, wirklich nicht. Wir sind nur Freunde. So wie du und ich."
Auch wenn ich nicht weiß, ob alle Freunde sich den nackten Körper des anderen herbeisehnen.
Nun kann ich den Schmerz in ihren Augen ganz deutlich erkennen, doch sie versucht ihn vor mir zu verstecken. Aber für einen kurzen Moment hat die Fassade gebröckelt.
In aller Ruhe füllt sie das kochende Wasser in die Tassen, wovon sie eine vor mich stellt, und lässt sich schließlich auf den Stuhl gegenüber von mir fallen. Kayla spielt eine Weile mit dem Teebeutel, bis sie laut seufzt und ihre Augen entschlossen auf mich richtet.
„Ich will nichts mehr von Darian", beginnt sie zögerlich und bringt mich damit völlig aus dem Konzept. „Wollte ich ehrlich gesagt nie so wirklich. Und selbst wenn, würde ich mir trotzdem wünschen, dass er deine Gefühle erwidert, falls du welche für ihn hättest. Ich will nur das Beste für dich, so wie du für mich. Das weiß ich. Aber du brauchst mich nicht immer bemuttern. Wir sind beide alt genug, um auch allein klarzukommen."
„Aber- Warum hast du mir dann gesagt, dass du in ihn verliebt bist? Ich habe mir riesige Vorwürfe gemacht. Ich konnte gefühlt an nichts Anderes mehr denken."
Ich verstehe die Welt nicht mehr. Erst kommt Darian mit so einer Bemerkung und jetzt offenbart mir Kayla plötzlich, dass diese ganze Darian-Sache eine Lüge war?
„Tut mir leid, wirklich. Das war absolut falsch. Manchmal denke ich zu wenig nach, bevor ich spreche. Manchmal viel zu viel." Sie seufzt traurig. „Ich- Ich bin noch nicht so richtig bereit, darüber zu sprechen, aber ich bin auf einem guten Weg dahin. Ich brauche nur Zeit. Und dann wirst du alles erfahren. Versprochen."
Auf der einen Seite bin ich einfach nur erleichtert, dass Kayla überhaupt nicht in Darian verliebt ist und es auch nie war. All meine Sorgen waren unbegründet und mein schlechtes Gewissen umsonst. Auf der anderen Seite macht sich eine gewisse Wut und Enttäuschung in mir breit sowie auch Verwirrung. Wieso kann Kayla nicht einfach mit mir darüber reden? Ist es so schlimm? Vielleicht hat es auch mit mir zutun und sie kann es mir deswegen nicht sagen. Jedoch will ich hoffen, dass das nicht der Fall ist. Dieser Abend und diese Nacht ist das reinste Gefühlschaos. Sowohl mit Kayla als auch mit Darian habe ich eine Rechnung offen. Und mit unbezahlten Rechnungen kenne ich mich nur allzu gut aus.
„Sei das nächste Mal einfach ehrlich. Du hättest mir doch direkt sagen können, dass du Zeit brauchst. Alles ist besser als eine Lüge. Auch eine beschissene Wahrheit."
Kayla nickt verlegen und nippt vorsichtig an ihrem Tee, den ich beinahe vergessen hätte. Die heiße Flüssigkeit rinnt meinen Rachen hinunter und erfüllt meinen Körper mit einer angenehmen Wärme. Wir sitzen eine ganze Weile schweigend am Tisch, während sich der Nebel in meinem Kopf langsam lichtet und komischerweise durch Zufriedenheit ersetzt wird. Für diese wenigen Minuten vergessen ich all meine Sorgen.
Ich liebe diese Momente. Ich lebe für diese Momente.
Es gibt kaum etwas Schöneres als nachts mit Kayla am Küchentisch zu sitzen und in aller Ruhe eine Tasse Tee zu trinken. Wenn es draußen dunkel ist, aber unsere Gemüter erhellt, und es scheint als würden uns alle Türen offen stehen. Wenn ich die Sterne durch das offene Fenster erblicke und mich der Gedanke beschleicht, dass man alles schaffen kann. Dass das hier nicht alles ist und noch so viel mehr auf uns wartet.
Ich habe die Hoffnung nicht aufgeben. Und eigentlich will ich sie auch gar nicht aufgeben. Es ist die Hoffnung, die mich am Leben hält. Die treibende Kraft, die Besseres verspricht. Wenn ich Kayla so mit ihren strubbeligen Haaren und den großen unschuldigen Augen betrachte, bin ich mir fast sicher, dass es irgendwann nur noch besser werden kann.
In kleinen Momenten wie diesen kann ich all das Negative vergessen. Ich kann mich frei und glücklich fühlen, auch ohne Geld. Auch ohne Ansehen. Auch ohne einen tollen Job oder viele Freunde.
Vielleicht haben all die schlechten Ereignisse und unsere jetzige Lage auch gute Folgen. Vielleicht hat Lorena mich nicht vollkommen zerstört, sondern mir sogar den größten Gefallen überhaupt getan. Mir gezeigt, was wichtig ist.
Aber wenn die Nacht vorbei ist und der Tag beginnt, gehen die Träume vorüber. Ich wache auf und bin plötzlich von der lauten und stickigen Enge meines Lebens und dieser Stadt umgeben. Es ist als würde ich auf einem weiten Meer segeln. Nachts gibt es nur die Sterne, die Unendlichkeit und mich. Tagsüber suche ich verzweifelt nach Land und kann keinen positiven Gedanken mehr fassen, da ich nichts als Salzwasser sehe, wobei ich doch so dringend ankommen muss.
Das Leben ist kompliziert. Aber alles hat ein Ende.
Nur die Wurst hat zwei.
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