Kapitel 21

Geschafft wringe ich ein letztes Mal für diesen Tag den nassen Lappen aus, der mit dreckigem Putzwasser vollgesogen ist. Ich leere den Eimer und rolle den Putzwagen schließlich in die dafür vorgesehene Kammer. Ich war mit Kopfschmerzen zur Schicht erschienen und verlasse die Firma nun auch mit diesen.

Die letzte Nacht sitzt mir mal wieder immer noch schwer in den Knochen. Ich ging relativ zügig ins Bett, wobei mir bewusst war, dass ich kein Auge schließen werde. Vielleicht ist das eine meiner Strafen, dass nicht mal mehr nachts Ruhe in mein Inneres kehrt. Dass mich meine Gedanken und Schuldgefühle rund um die Uhr quälen und ich nie eine Auszeit gegönnt bekomme. Vielleicht wird es nie anders werden.

Während ich wach im Bett lag und an die Decke gestarrt habe, drangen Kayla und Darians Stimmen noch längere Zeit zu mir, bis ich schließlich das Öffnen und Schließen der Wohnungstür zu hören bekam und Darian somit endlich verschwunden war. Ich frage mich, ob er überhaupt ansatzweise das Ausmaß des Ganzen begriffen hat. Doch seiner Entscheidung nach zu urteilen, lautet die Antwort wohl nein.

Gleichzeitig frage ich mich, worüber meine besten Freunde wohl noch so lange geredet haben. Ob Kayla ihre Gefühle Darian gegenüber offenbart hat? Da wir beide heute relativ früh zu unseren Schichten aufbrechen mussten, hatte ich noch nicht die Gelegenheit, mit ihr darüber zu sprechen. Es wäre aber natürlich auch möglich, dass sie darüber gesprochen haben, was ich für ein Stück Scheiße bin und dass ich alles mit in die Verdammnis reiße. Ich sollte Darian unbedingt noch einmal klar machen, was ihm blüht, falls wir erwischt werden sollten. Er hat viel zu verlieren. Seine Wohnung, seinen Beruf, seinen Job. Einfach alles.

Ich hingegen habe nicht viel zu verlieren. Zwar will ich unter keinen Umständen ein zweites Mal ins Gefängnis, aber in meinem Leben steht weder ein wichtiger Job oder Familie, noch ein guter Ruf auf dem Spiel. Meine Wenigkeit ist bereits im unteren Bereich der Gesellschaft angekommen, Darian hingegen kann tief fallen. Und ich weiß aus eigener Erfahrung, dass der Aufprall alles andere als angenehm ist.

Da sich zu dieser Uhrzeit die meisten Menschen auf dem Weg nach Hause befinden, sind die Straßen und Gehwege brechend voll. Keiner beachtet den anderen, jeder hängt seinem eigenen Trott hinterher. Ein Mann in teurem Anzug mit Aktentasche rempelt mich im Vorbeigehen heftig an und straft mich daraufhin noch mit einem wütenden Blick, wobei es nicht ich war, die auf ihr Handy gestarrt hatte.

Ich frage mich, ob er eine Frau und Kinder hat. Ob er wirklich so spießig ist, wie er aussieht, oder ob er in seiner Jugend Gras geraucht und Schilder gestohlen hat. Ob auch in ihm verlorene Träume schlummern. Wir wissen nichts über unsere Mitmenschen. Es könnte gut sein, dass gerade ein heimlicher Mörder unter uns ist. Mit mir ist auf jeden Fall bereits ein Verbrecher anwesend. Genau diese Unwissenheit ist jedoch mein Schutz. Man sieht zwar, dass ich nicht gerade reich bin, aber niemand sieht mir meine Lasten an. Niemand kann mir ansehen, was ich bereits getan habe. Was ich tun musste. Und das ist mein Glück. Sonst könnte ich mich vor wütenden Rufen und abschätzigen Blicken nicht mehr retten. Wir alle haben unsere Leichen im Keller, aber es ist viel einfacher mit dem Finger auf die der anderen zu zeigen als auf sich selbst.

In Gedanken versunken biege ich in die kleine Seitengasse ein, die mich zu unserem Wohnblock führt. Der kahle Betonbau ist schon von weitem zu erkennen und ein so dreckiger Fleck in dieser äußerlich glamourösen Stadt. Manchmal fühle ich mich wie der hässliche Tomatenfleck auf der weißen Bluse. Ich habe keine Funktion, aber ich störe. Dem Staat bringe ich nicht viel Geld, eher im Gegenteil und zum Leben in der Gesellschaft kann ich auch nichts Positives beitragen. Ich existiere und baue nebenher Scheiße, weil es das Einzige ist, das ich kann. Und das Einzige, was uns am Leben hält.

Vor allem nach gestern Nacht sollten wir sofort damit aufhören, jedoch wären wir dann verloren. Es ist ein Kreislauf, aus dem ich nicht ausbrechen kann. Es stimmt. Einmal Verbrecher, immer Verbrecher. Aber meistens liegt es nicht einmal daran, dass diese Menschen von Grund auf böse sind und nicht anders können, sondern daran, dass wir einen Stempel von der Gesellschaft aufgedrückt bekommen, den wir nicht mehr loswerden. Wenn auf deiner Stirn dick und fett 'böse' geschrieben steht, glaubt dir natürlich keiner, dass du gut bist. Dabei wissen die meisten überhaupt nicht wirklich, was gut und was böse ist. Es gibt keine Definition. Aber im Falle der Stigmatisierung sind sich dann plötzlich alle einig. Und die Schwachen kommen immer zuletzt.

Müde schlurfe ich die Treppen hinauf und treffe in der Wohnung angekommen sofort auf Kayla, die ihm Flur steht und ihre Jacke von den Schultern streift. Unter ihren Augen sind tiefe Ringe zu erkennen, doch trotzdem sieht sie in gewisser Weise zufrieden aus.

„Hey." Sie schenkt mir eines ihrer bezaubernden Lächeln, was mich jedoch skeptisch die Augenbrauen zusammenziehen lässt. So gut war sie schon ewig nicht mehr gelaunt und gerade nach gestern Nacht hätte ich nicht vermutet, dass sie es genau heute ist. Nicht zu vergessen, dass zwischendurch immer wieder deutliche Anspannungen zwischen uns zu spüren sind.

„Hi."

Sie lässt eine schwarze Sporttasche von ihren Schultern fallen, die ich noch nie zuvor bei ihr gesehen habe und die meine Augen sofort groß werden lässt. Es kann nicht die Tasche sein. Sie liegt bei der Polizei in irgendeiner Kammer. Trotzdem verschnellert sich mein Herzschlag und ein Paar unsichtbarer Hände schließt sich um meinen Hals.

„Wo hast du die Sporttasche her?", frage ich panisch, woraufhin sich Kayla etwas beschämt abwendet. Meinen innerlichen Nervenkollaps scheint sie dabei nicht zu bemerken.

„Ich- Das ist mir so unglaublich peinlich, aber sie lag ohne Besitzer in der Näher der Kleidercontainer und da habe ich sie einfach mitgenommen. Weißt du, ich-"

Die Stimme meiner besten Freundin tritt mit jedem Wort, das sie spricht, mehr und mehr in den Hintergrund, während sich alte Erinnerungen an die Oberfläche kämpfen. Erinnerungen, die ich vor langer Zeit in eine Schublade gesperrt habe und die nichts außerhalb dieser zu suchen haben.

Die Teller klappern laut, als ich sie in den Schrank stelle und ich kann deutlich Vaters genervtes Knurren aus dem Wohnzimmer hören. Er liest seine Zeitung und will nicht gestört werden. Schlecht nur, dass es ihn schon meine pure Existenz nervt, während Lorena ein ganzes Konzert veranstalten könnte, ohne dass er auch nur mit der Wimper zucken würde.

Niedergeschlagen und wütend räume ich die Spülmaschine aus. Für alle anderen dürfte es so aussehen als würde ich es freiwillig machen, um ihnen eine Last abzunehmen, wobei ich es ehrlich gesagt nur für mich mache. Ich mache es, um dem Ärger aus dem Weg zu gehen und meinem Vater keine weiteren Angriffspunkte zu geben. Um nicht schon wieder gesagt zu bekommen, wie unendlich faul und unnütz ich doch sei.

Ich stelle das letzte Glas in den Schrank, woraufhin ich auf Zehenspitzen die Treppe hoch in mein Zimmer schleiche. Bloß keine Aufmerksamkeit erregen.

Oben angekommen schmeiße ich mich auf mein Bett und starre die Decke an, wobei ich an Mama denken muss. An ihr helles Lachen, an ihre Güte und daran, dass sie und Elian meine liebsten Menschen auf dieser Welt sind. Wobei Mama nicht mehr auf der Erde zu finden ist.

Ich fühle mich schlecht, da ich den Rest meiner Familie nicht auf dieselbe Art und Weise liebe. Weil ich vor allem Papa nicht mal so liebe wie man seine Eltern lieben sollte. Aber ich kann nichts dagegen tun.

Tränen steigen in meine Augen, die ich jedoch schnell wegwische, als Lorena in mein Zimmer geplatzt kommt. Natürlich ohne vorher anzuklopfen. Ein breites Grinsen schmückt ihr Gesicht, das ihre tollen Augen noch mehr zum Strahlen bringt und ein kleiner Funke Eifersucht macht sich in mir breit.

Lorena ist jedermanns Liebling. Lorena ist hübsch. Lorena ist schlau. Lorena kann einfach alles.

Und ich bin nichts von alldem. Ich bin ein siebzehnjähriges erbärmliches Mädchen, das verzweifelt nach Liebe und Anerkennung sucht, sie jedoch nicht bekommt.

„Heute ist dein Glückstag, Würmchen."

Ich hasse es, wenn sie mich so nennt. Jedes Mal muss ich dabei an ihre Erniedrigungen und Demütigungen denken. Und doch würde ich alles dafür tun, um von ihr anerkannt zu werden. Um mehr Zeit mit ihr, meiner großen Schwester, zu verbringen.

Sie hält mir eine große schwarze Sporttasche entgegen, die genauso aussieht wie die, welche sie sich letztens erst neu gekauft hat. Ich schaue verwirrt auf die baumelnde Tasche, da ich nicht weiß, was ich damit anfangen soll.

„Pack deine Sportsachen, du darfst mit zum Tanzen. Beeil dich, in zehn Minuten ist Abfahrt", flötet sie, lässt die Tasche auf den Boden fallen und stolziert aus dem Zimmer. Meine Kinnlade muss bis auf den Boden geklappt sein, doch als ihre Worte endlich ganz in meinem Hirn ankommen, kann ich nichts gegen das freudige Quietschen tun, das meinen Mund verlässt.

Ich will schon ewig tanzen gehen, aber Papa hat es mir verboten. Er meinte, er würde keinen Cent ausgeben, außer Lorena nimmt mich mit, denn sie geht bereits tanzen. Diese Logik habe ich nie verstanden, aber jetzt ist es auch egal. Lorena nimmt mich endlich mit! Und wir werden etwas als Geschwister gemeinsam machen, vielleicht sogar als Freunde.

Wer hätte gedacht, dass es eine schwarze Sporttasche ist, die Lorenas und mein Verhältnis grundlegend ändert?

Damals dachte ich, dass diese Veränderungen positiver Art wären. Noch am selben Tag wurde ich eines Besseren belehrt. Dieser anfangs so normale Tag wurde nämlich zu dem Tag, der alles den Bach runterlaufen ließ. Heute wünschte ich, dass ich diese Tasche in Lorenas Gesicht geschmissen und mich in meinem Zimmer verbarrikadiert hätte.

„Dela?" Kayla streckt ihren Kopf aus der Küche und schaut mich abwartend an, wodurch ich aus meiner Trance erwache.

Bevor ich zu ihr gehe, greife ich die Tasche und schmeiße sie quer durch die Wohnung, was mir für einen kurzen Moment ein Gefühl der Genugtuung verschafft, aber gleichzeitig mit einem riesigen inneren Schmerz verbunden ist. Immer wieder werden die Wunden neu aufgerissen und mir bleibt nichts anderes übrig als sie zu lecken. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich überhaupt nicht die Chance habe zu heilen.

Verzweifelt, wütend und traurig lasse ich mich auf einem der Stühle gegenüber von Kayla nieder, die eine dampfende Tasse vor meine Nase gestellt hat. Es ist der Stuhl, auf dem Darian gestern Nacht saß, was meine Gedanken zurück zu meinen Fragen schweifen lässt.

„Hast du es Darian gesagt?", frage ich direkt heraus.

„Was?" Ihre großen, haselnussfarbenen Augen blicken mir verwirrt entgegen. In diesem Moment hat Kayla große Ähnlichkeiten mit Bambi. Sie sieht wie ein kleines unschuldiges Reh aus. „Was sollte ich ihm denn sagen?"

„Dass du Gefühle für ihn hast."

Ich kann nichts gegen den leicht bitteren Ton in meiner Stimme tun. Meine Augen gleiten abwartend über ihr Gesicht, auf der Suche nach einer verratenden Regung. Wenn man Kayla heute auf der Straße sehen würde, würde man niemals vermuten, dass diese junge Frau einmal drogenabhängig war.

„Ach so. Nein, noch nicht", kommt es emotionslos von ihr.

„Wirst du es ihm sagen?", hake ich nach.

Eigentlich hat es mich nicht wirklich etwas anzugehen, da es ihre ganz alleinige Entscheidung ist, aber ich möchte wenigstens die Antwort auf ein paar meiner Fragen finden. Und dies ist eine Frage, die mich momentan sehr beschäftigt.

„Vielleicht. Vielleicht traue ich mich irgendwann", überlegt sie. „Die Wahrheit ist manchmal nicht ganz so schön, aber irgendwie kommt sie doch immer ans Licht. Ich denke, dann möchte ich es doch selbst sein, die sie offenbart. Aber ich bin noch nicht bereit."

Ihre kleinen Hände klammern sich um die warme Tasse, während sie Löcher in den Tisch starrt.

„Vielleicht müssen mir erst noch ein paar riesengroße Eier wachsen."

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