Kapitel 20

Ich bleibe wie angewurzelt stehen, dabei starre ich geschockt in seine Augen und er in meine. Auch er scheint bewegungsunfähig zu sein, löst sich jedoch nach wenigen Sekunden als erstes aus der Starre und bewegt sich geradewegs auf mich zu, was mein Kommando ist zu verschwinden.

Blitzartig greife ich nach Kaylas Hand und ziehe sie durch die Menge in Richtung des Ausgangs. Flüchten ist wohl die mit Abstand beste Lösung. Vielleicht denkt er dann, dass er sich vertan hat. Dass wir nicht die sind, die er glaubt zu kennen. Aber er weiß es. Er hat in meine blauen Augen geschaut und ich konnte es in seinen erkennen. Und das alles wegen einem Paar verschissener Kontaktlinsen.

Mein Atem geht abgehackt, beinahe bekomme ich gar keine Luft. Zwischendurch schaue ich hektisch nach hinten, doch muss mit jedem Blick feststellen, dass er uns immer näher kommt. Eine Person nach der anderen versperrt meinen Weg in die Freiheit, den einzigen Ausweg und am liebsten würde ich sie alle anschreien. Ihnen sagen, dass sie ihren beschissenen Arsch zur Seite schieben sollen.

Ich hätte mich besser umschauen müssen. Die ganze Zeit über habe ich schon seine skeptischen Blicke gespürt. Er hat gesehen wie ich hemmungslos mit einem Fremden auf der Tanzfläche, inmitten all der Menschen, rumgemacht habe. Und wahrscheinlich hat er auch gesehen, dass ich diese Person dann bestohlen habe. Er ist nicht dumm. Außerdem ist eins und eins nicht schwer zusammenzuzählen. Was soll er jetzt wohl von uns denken?

Der Ausgang ist direkt vor uns. Nur noch wenige Meter, dann können wir ungehindert rennen. Ich denke schon daran, meine High Heels wegzukicken, um schneller laufen zu können, als sich plötzlich eine große Hand um mein Handgelenk schließt.

„Cindy?"

Doppelt verfickte Scheiße.

Ich drehe meinen Kopf von ihm weg und versuche mich währenddessen aus seinem Griff zu befreien, aber ich sitze in der Falle. Wir sind gefangen. Wie ein gehetztes Tier auf der Flucht, das angeschossen wurde und krampfhaft versucht zu entkommen.

„Adela. Ich weiß, dass du es bist. Schau mich an."

Kayla, die wenige Meter vor mir steht, blickt mich panisch an und scheint fieberhaft darüber nachzudenken, was sie nun tun soll. Doch es ist sinnlos. Darian hat mich lange gesehen. Es gibt kein Entkommen. Jetzt ist nur noch Schadensbegrenzung angesagt.

Zögerlich wende ich mein Gesicht zu ihm hin und nehme eine standhaftere Pose ein, woraufhin er den Griff um mein Handgelenk lockert. Seine dunklen Augenbrauen sind zusammengezogen, wodurch eine tiefe Falte seine sonst straffe Stirn trennt. Es ist ihm deutlich anzusehen, dass er verwirrt, skeptisch und vollkommen ratlos ist. Vielleicht auch ein wenig wütend und verletzt.

„Was zum Teufel macht ihr hier?"

Sein Blick zuckt zu Kayla, die nun dicht neben mir steht und nervös zwischen Darian und mir hin und her schaut. Schweißperlen laufen an der Seite meiner Schläfen hinunter. Darian spricht viel zu laut und zieht damit Aufmerksamkeit auf sich, die wir absolut nicht gebrauchen können. Wir müssten schon lange aus dem Club raus sein, wenn Alex uns entdeckt, haben wir ein riesengroßes Problem. Ein noch größeres als wir sowieso schon haben.

Ich lege meine Hand beschwichtigend auf seinen Arm und will ihn sanft aus dem stickigen Raum ziehen, doch davon scheint Darian nichts wissen zu wollen, da er stur stehen bleibt. Immer noch gehetzt und hektisch schaue ich zu den Menschen um uns herum, von denen uns schon einige beobachten. Wenn ich Darian nicht sofort hieraus bekomme, wird die Bombe so richtig explodieren. Und ich hatte nicht vor, heute Abend in die Luft zu gehen.

„Komm bitte mit. Wir erklären dir alles, aber bitte komm raus."

Mein verzweifelter Tonfall scheint Darian zu überzeugen, denn er setzt sich tatsächlich in Bewegung. Ich atme fürs Erste erleichtert aus, bevor ich wenige Sekunden später hinter Darian und Kayla in die kalte Nachtluft hinaustrete. Unter normalen Umständen würde ich frieren, doch das Adrenalin und meine Angst halten mich warm. Wer hätte gedacht, dass Verzweiflung und Angst doch ganz nützlich sein können?

„Dann schießt mal los, ich kann mir das nämlich um Himmels Willen nicht erklären. Was zum Teufel ist mit euch los?! Da denke ich, dass ich euch kenne und dann-" Ich unterbreche den wild gestikulierenden und aufgebrachten Darian mitten im Satz. „Nicht hier."

Auf meine Aussage hin lacht er nur frustriert auf und wirft seine Arme über den Kopf, woraufhin Kayla besänftigend auf ihn einredet und ihre zierliche Hand versöhnlich auf seiner Schulter platziert. Das Blut rauscht derartig laut in meinen Ohren, dass ich kein einziges ihrer Worte verstehe. Lediglich die Bewegungen ihrer Lippen sind für mich verlangsamt zu erkennen. Ich komme mir wie in einem schlechten Stummfilm vor.

Ein Stummfilm, bei dem der Schreiber es wirklich nicht gut mit mir gemeint hat. Wobei das auch falsch ist. Ich habe die Kontaktlinsen vergessen. Ich habe überhaupt erst die Entscheidung getroffen, diese Verbrechen zu begehen. Die Schuld liegt ganz allein bei mir. Auch wenn es angenehmer ist, sie bei anderen zu suchen. Aber wer anderen schon immer nichts als Lügen auftischt, kann wenigstens ehrlich zu sich selbst sein.

„Komm."

Kayla verschlingt ihre Hand mit meiner und zieht mich hinter sich her, sodass ich mich in Bewegung setzen muss. Vielleicht hätte ich sonst Wurzeln geschlagen. Meine Beine und Füße fühlen sich taub an, genauso wie mein Kopf. Nun sind meine Gedanken auch ohne Alkohol vernebelt und durcheinander.

Darian hat ganz offensichtlich gesehen, dass wir in eher weniger Legales verstrickt sind. Er hat unsere Verkleidungen und die Lügen, gleichzeitig mit diesen aber auch die Wahrheit gesehen. Und ich glaube nicht, dass sie ihm gefallen. Manchmal ist die Wahrheit noch viel beschissener als alles andere. Darian hat einen Teil von uns zu Gesicht bekommen, der tief verborgen bleiben sollte. Für ihn sind wir unschuldig und unbefleckt. Ganz normale Menschen. Dieses Bild ist nun zerstört.

Wird er die Polizei kontaktieren? Ich weiß, dass er immer richtig handeln will und das, was wir tun, ist definitiv falsch. Ein Anruf bei den Hütern des Gesetzes wäre moralisch gesehen das Richtige. Aber wir sind doch Freunde. Würde er uns dann wirklich verraten? Würde er mich zurück in den Knast verfrachten lassen?

All die Fragen prasseln wie tennisballgroße Hagelkörner auf mich ein und hinterlassen ein Loch nach dem anderen. Egal wie die Antworten lauten, von diesem Moment an sind wir von Darian und seinen Entscheidungen abhängig. Er ist nun Fortuna und darf einmal kräftig an unserem Schicksalsrad drehen. Unsere Zukunft liegt in seinen Händen.

In diesem Augenblick werden mir die möglichen Folgen richtig bewusst. Ich hatte sie zwar immer im Hinterkopf, aber sie erschienen zu unwahrscheinlich. Ich dachte, dass ich alles unter Kontrolle hätte. Dass schon alles gut gehen würde. Nur musste ich es mal wieder erst spüren. Musste ins Gesicht geschlagen werden, um aus dem Traum aufzuwachen.

Unsere Wohnung tritt in mein Sichtfeld und mir wird klar, dass Darian die Zustände sehen wird, die unser Leben bestimmen. Dass neue Puzzleteile zu seinem Bild von uns hinzugefügt werden, die ich doch so gut versteckt hatte. Puzzleteile, die das Ganze zwar ergänzen und vollständig machen, die aber auch die hässlichen Seiten zum Vorschein bringen.

„Wir gehen nicht hoch. Wir reden hier."

Ich bleibe abrupt stehen, weswegen ich verwirrt angeschaut werde, doch auf Kaylas Gesicht tritt sofort ein verstehender Ausdruck.

„Es ist in Ordnung, Dela. Darian sollte sehen, was los ist. Er hat die Wahrheit verdient."

Natürlich hat Darian sie verdient, nur weiß ich nicht, ob ich seine möglich negative Reaktion verkraften kann. Ob ich die abwertenden und angeekelten Blicke aushalte und dann auch noch von einem Menschen, der mir wichtig ist. Der die alte, gute Adela kennt. Und genau dieses letzte Stück meines unbefleckten, vergangenen Ich's war in meinem besten Freund zu finden. Doch nun wird auch dieses zerstört und nichts bleibt mehr übrig. Tränen beginnen meine Sicht zu verschleiern, doch ich blinzle sie weg und folge den Beiden mit schwachen Schritten, die mich meiner eigenen Beerdigung immer näher bringen. Ich hätte schwarz anziehen sollen.

Unsere Schritte hallen im Treppenhaus wider und klingen unnatürlich laut. Viel zu laut für die herrschende Stille. Wie in Trance schließe ich die Wohnungstür auf und lasse den anderen den Vortritt. Ich will nicht eintreten, will mich nicht mit der Situation und den Geschehnissen auseinandersetzen. Ich will mir nicht vor Augen halten lassen, was aus mir geworden ist.

Eine Weile bleibe ich stehen und starre auf die leicht vergilbten, kaputten Fliesen, während ich mir wünsche im Erdboden zu versinken und in eine geheime Welt abzutauchen, in der alles schön ist. In der ich die Person sein kann, die ich gerne wäre. Eine Welt, in der ich eine gute Freundin für Kayla bin, eine gute Schwester für Elian. Ein dezenter Mensch. Jedoch geschieht nichts, weswegen ich in Richtung der Stimmen laufe, die aus der Küche zu vernehmen sind.

„Es ist schwer für uns. Vor allem für sie. Dela möchte das Beste für mich und versucht alles dafür. Das hier ist nicht das, was wir uns früher vorgestellt haben. Weißt du, wir haben einige Probleme, die sich nicht so leicht lösen lassen. Und ihr ist das alles sehr unangenehm. Sie möchte einfach nur, dass es uns, vor allem mir, gut geht", höre ich Kayla gedämpft sagen.

Wortlos trete ich in die Küche und setze mich auf den freien Stuhl, den Blick stets auf den Boden oder die Tischplatte gesenkt. Ich sollte mich nicht schämen. Ich sollte zu dem stehen, was ich bin und was wir haben. Ich sollte froh sein, dass wir überhaupt eine Wohnung haben. Aber all das haben wir Kayla zu verdanken. In diesem Szenario bin ich lediglich der lästige Parasit. Und ich schäme mich dafür, nicht der Wirt sein zu können.

Es bleibt still. Vor allem Darian wartet scheinbar darauf, dass ich das Wort ergreife. Dass ich Licht ins Dunkel bringe, obwohl ich doch selbst in einem engen, schwarzen Raum eingesperrt bin.

„Wir konnten die Miete nicht zahlen und haben schnell Geld gebraucht. Es sollte eine einmalige Sache bleiben, aber aufgrund unserer Vergangenheit finde vor allem ich keinen besseren Job." Erneut wollen sich die Tränen an die Oberfläche kämpfen, doch ich werde mir nicht die Blöße geben zu weinen. „Sie wollen die Miete erhöhen. Wir brauchen Geld. Deswegen haben wir heute Abend wieder... Gestohlen. Ich bin nicht stolz, das bin ich wirklich nicht. Auf gar nichts. Ich bin nur verzweifelt. Bitte melde das nicht der Polizei, Darian. Ich kann nicht nochmal ins Gefängnis, das halte ich nicht aus", flehe ich.

Das pure Entsetzen spiegelt sich in seinem Ausdruck wider. „Dachtest du wirklich, dass ich euch verpfeife?! Wie lange sind wir jetzt schon befreundet, Adela? Wie lange? Das hier verletzt und schockiert mich an der ganzen Situation wirklich am meisten. Denkst du so von mir?"

Nun ist Darian das verwundete Tier. Ich habe ihn mit meinen Worten angeschossen und verwundet.

„Ich habe den schlimmsten Verrat überhaupt erfahren. Wem soll ich trauen, wenn nicht einmal meiner eigenen Familie? Seitdem rechne ich mit allem. Vielleicht konnte ich früher blind vertrauen, aber heute nicht mehr. Da ist nur noch Misstrauen und Wut und all diese tiefen Narben. Es tut mir leid. Wirklich."

„Aber dann sag mir doch, was los ist. Was damals passiert ist. Ich könnte euch helfen."

„Heute bitte nicht mehr. Ich werde es dir noch erzählen, aber jetzt fehlt mir die Kraft", erwidere ich verzweifelt.

„Als ich gesagt habe, dass ich dich niemals verurteilen würde, meinte ich das ernst. Denk da bitte dran."

Kayla umschließt meine Hand mit ihrer und drückt einmal fest zu, um mir zu zeigen, dass sie bei mir ist. Dass sie hinter mir steht und mir den Rücken deckt.

„Ich- Ist euch eigentlich bewusst, was ihr euch für einer Gefahr und einem Risiko aussetzt? Nicht nur, dass es jemand sehen und die Polizei rufen könnte. Was ist denn, wenn es eines eurer Opfer bemerkt und euch den Schädel einschlägt? Was ist mit euch selbst? Ihr macht euch kaputt und ich weiß nicht, ob ich da einfach zusehen kann."

Es ist schon wieder still. Ich traue mich endlich zu Darian zu sehen. Ich schaue in seine mit Mitleid gefüllten Augen und könnte bei diesem Anblick kotzen. Ich sehe, wie sehr er versucht uns zu verstehen. Wäre bei mir alles 'normal' gelaufen, würde ich solche Taten ebenfalls verabscheuen.

„Ich komme mit euch", sagt er plötzlich fest. „Ihr solltet es nicht tun, aber wenn ihr euch nicht davon abbringen lasst... Ich will wenigstens auf euch aufpassen können und nicht tatenlos zusehen."

Meine sowie Kaylas Kinnlade klappen augenblicklich bis zum Boden. Ich hatte mit allem gerechnet. Dass er die Polizei verständigt, dass er uns die Hölle heiß macht, dass er nichts mehr mit uns zu tun haben will. Dass wir ihn anekeln und er uns hasst. Aber definitiv nicht damit. Es ist keine Lösung, die mir gefällt, jedoch lässt Darians Tonfall keinen Widerspruch zu. Er ist fest entschlossen.

„Ihr braucht gar nicht erst nachzudenken, entweder das oder ich verpfeife euch vielleicht doch noch."

Er erpresst uns. Und wir können rein gar nichts tun, denn er hat uns in der Hand. Mit dieser Entscheidung dreht Darian sein eigenes Schicksalsrad.

Und es bleibt nur zu hoffen, dass er nicht mit uns ganz unten landet.

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