Kapitel 18

Das Rauschen der Wellen umhüllt mich sanft, während ich im Sand sitze und ein letztes Mal den atemberaubenden Sonnenaufgang hier in Italien an diesem wundersamen Ort beobachte. Es ist fast als wollte mich das Meer mit einer Melodie, einem Anblick nur für mich verabschieden. Als würde es all das Chaos der letzten Tage aufnehmen und in etwas Schönes verwandeln wollen. Dieser Ausflug war unglaublich atemberaubend und gleichzeitig unglaublich schmerzhaft. Verwirrend. Es ist doch nicht normal, dass ich in dem einen Moment mit meinem besten Freund schlafe, bei dem ich mich sicher und begehrt fühle und im nächsten meine beste Freundin küssen möchte, die gleichzeitig Gefühle für Darian hat. Mein Vater hatte recht. Ich bin widerwärtig.

Heute Morgen bin ich extra früh aufgestanden, um niemanden über den Weg zu laufen. So konnte ich immerhin auch den letzten Sonnenaufgang beobachten und die Stille genießen, wo es in meinem Kopf doch immer laut ist. Das Gespräch von gestern Nacht sitzt mir immer noch schwer in den Knochen. Andauernd muss ich an ihre Worte und den Schmerz denken, den Kayla mit ihrem gebrochenen Herzen verspüren muss. Und andauernd muss ich daran denken, dass ich einen erheblichen Teil dazu beigetragen habe. Ich bin fest entschlossen, es wiedergutzumachen. Ich werde alles geben, damit Kayla und Darian zusammenkommen. Damit sie beide glücklich werden.

Die Fragen sind nach diesem Geständnis ebenfalls nicht verschwunden. Sie haben sich wie eine Bakterienkolonie vermehrt und verpesten all meine Gedanken. In meinem Kopf ist für nichts Anderes mehr Platz, nicht einmal für die Trauer und Wehmut aufgrund unserer Abreise in einer Stunde. Warum hat sie es mir nicht schon früher gesagt? Hatte sie wirklich so viel Angst? War sie so verunsichert? Warum ist sie an meinem Geburtstag mit dieser Frau gegangen, wo sie doch Darian liebt? Wollte sie vergessen und den Schmerz betäuben? Und die wohl wichtigste Frage: Wie geht es jetzt weiter?

Dass es momentan in dieser Hinsicht mehr als schwierig ist, dürfte offensichtlich sein. Unsere Beziehung hat sicherlich einen ordentlichen Dämpfer bekommen und ich habe absolut keine Ahnung, wie ich mich Darian gegenüber verhalten soll. Baue ich den Kontakt ein wenig ab? Ignoriere ich ihn erst mal ganz, bis sich die Sache beruhigt und geklärt hat? Oder soll ich so tun als wäre nichts vorgefallen?

Selten war ich so ratlos.

Gleichzeitig frage ich mich, was Kaylas Plan ist. Wird sie ihm ihre Liebe gestehen? Wie wird sie sich mir gegenüber verhalten? Unendlich viele Fragen, aber keine einzige Antwort. In Momenten wie diesem wünsche ich mir ganz besonders, dass meine Mutter noch leben würde. Sie hätte die perfekte Antwort auf alles. Sie würde mich in den Arm nehmen, sanft meine Stirn küssen und sagen, dass alles nur halb so wild ist wie es aussieht. Dass alles gut wird und dass ich mir nicht immer so den Kopf zerbrechen soll.

Oder eine große Schwester, die einem immer mit Rat und Tat zur Seite steht. Die weiß, wie es sich anfühlt, da sie so etwas Ähnliches ebenfalls durchmachten musste. Stattdessen habe ich eine Schwester, die mich erniedrigt, manipuliert und hintergeht. Aber selbst das hat seine Vorteile. Menschen wie Lorena lehren, dass man besser aufpassen sollte, wem man vertraut. Dass die Menschen, die dir das Messer in den Rücken stechen, oft die sind, welche man liebt und wertschätzt.

Seufzend wische ich mit einem Handtuch den Sand von meiner mit Wassertropfen überzogenen Haut und werfe einen letzten Blick auf diese kleine Traumwelt, bevor ich zum Haus gehe. All das hier war viel zu schön, um wahr zu sein. Wirklich viel zu schön.

„Hast du schon gepackt?"

Ich schaue zu Darian, der gerade in ein belegtes Brot beißt und mich skeptisch mustert. Sobald ich ihn sehe, muss ich wieder an Kayla denken. An ihre Gefühle. An Darians und meine Nacht und den Verrat, den ich damit begangen habe.

„Ja." Kurze Antworten. Das dürfte passen.

Meine Lippen verziehen sich automatisch zu einem gespielten Lächeln und bevor Darian noch mehr Verdacht schöpfen kann, laufe ich zu meinem Zimmer, um die letzten Dinge in meinen größtenteils gepackten Koffer zu stecken. Im Vorbeigehen erhasche ich einen kurzen Blick auf Kayla, die im Bad ist und die mehr als nachdenklich aussieht. Was würde ich dafür geben, um einen Einblick in ihre Gedanken zu bekommen. Um nur kurz das zu spüren, was sie spürt.

Widerwillig ziehe ich den Reißverschluss des Koffers zu, nachdem nun alles verstaut ist, und ziehe ihn ins Wohnzimmer, wo bereits Darian mit seinem Koffer steht, bereit zur Abfahrt. Kurz nach mir kommt auch Kayla eingetrudelt, die versucht Augenkontakt mit mir zu vermeiden und die nebenbei bemerkt ganz schreckliche Augenringe hat. Vermutlich hat sie genauso wenig wie ich geschlafen.

„Dann würde ich sagen heißt es Abschied nehmen", gibt Darian wehleidig von sich und scannt die Wohnung ein letztes Mal ab, was wir ihm gleichtun.

Es war eine unwirkliche Zeit, auch wenn sie leider nicht ganz nach meinem Geschmack geendet hat.

Wir verstauen alles im Auto, ich lausche einmal mehr dem Rauschen des Meeres und kurz darauf befinden wir uns schon wieder auf der Straße. Auf dem Weg nach Deutschland, wo die Probleme nur so warten. Mit jedem Meter, den wir mehr zurücklegen, werden sie lauter, kriechen meinen Rücken hinauf und machen es sich in meinem Nacken bequem, wo sie sich hartnäckig festsetzen. Es ist erstaunlich wie gut ich verdrängen kann, wenn ich nur will. All die Tage habe ich kein einziges Mal an diese Rechnung gedacht. Oder an meine Bewerbungen. Die steigenden Preise. Und die Tatsache, dass wir unsere Wohnung verlieren könnten.

Positiv daran ist, dass ich dadurch weniger an Kayla und Darian denken muss und mich von der offensichtlich angespannten Stimmung, die im Auto herrscht, ablenken kann. Meine beste Freundin schaut stur aus dem Fenster, während sich Darian stumm auf den Straßenverkehr konzentriert. Scheinbar spürt er die Anspannung ebenfalls und hält lieber seinen Mund, bevor die Situation noch in irgendeiner Weise eskalieren kann.

Zuhause muss ich mich wieder auf die Jobsuche fokussieren. Mich mit einer Absage nach der anderen abspeisen lassen und trotzdem nicht aufgeben, weil aufgeben keine Option ist. Es nie war und auch nie sein wird. Ich will niemandem die Genugtuung geben, mich vom Abgrund fallen zu sehen, wobei sie es doch waren, die mich dorthin getrieben haben.

Ich werde putzen, mir Sorgen machen, an Elian denken und weiterhin Verbrechen begehen, um uns irgendwie über Wasser zu halten. Ironisch, dass ich mich doch unter Wasser so wohl fühle. Vielleicht habe ich es einfach mit der Zeit akzeptiert. Was Anderes ist mir aber auch nie übrig geblieben.

Die restliche Fahrt vergeht wie im Flug. Ich schlafe, denke nach, wir halten zum Essen an einer Raststätte an, ich schlafe wieder und denke noch mehr nach. Bei Kayla sieht es genauso aus und Darian kann sich lediglich aufs Fahren konzentrieren. Wobei mich ebenfalls sehr interessieren würde, woran er denkt. Zwischendurch hatte er einige Versuche gestartet ein Gespräch aufzubauen, es jedoch aufgegeben als keiner von uns darauf eingegangen ist.

Es tut mir wirklich leid, aber jedes Wort, das in dieser Konstellation gesprochen wird, macht die Situation nur noch unangenehmer. Auch wenn es Worte sind, welche die Lösung für all das sind. Nur müssen es die richtigen sein.

„Jetzt sind wir gleich schon da." Darian hält kurz inne, fährt dann jedoch mit einem klitzekleinen Lächeln auf den Lippen fort. „Es war unglaublich schön mit euch. Ich hatte riesigen Spaß und hoffe natürlich, dass ihr den ebenfalls hattet. Auch wenn Delas lautes Schnarchen mich nachts wach gehalten hat."

„Ich werde diesen Kampf nicht mehr kämpfen. Du solltest dich nur mal selbst hören. Wenn du redest ist es schlimmer, als wenn ich angeblich schnarche."

Darians schallendes Gelächter erfüllt das Auto und vertreibt die beschissene Stimmung in den Kofferraum. Durch den Seitenspiegel kann ich erkennen, dass auch Kayla ein wenig schmunzelt.

„Ich fand es auch sehr schön. Vielen Dank, dass du uns mitgenommen hast, Darian."

Kayla lächelt ihm verlegen von hinten zu, wendet dann jedoch wieder schnell den Blick ab.

Nachdem ich mich ebenfalls bedankt habe, wird es erneut still. Es sind nur noch wenige Kilometer bis zu unserer Wohnung. Bis dieser Traum endgültig ein Ende nimmt und jeden Tag mehr zu einer Erinnerung verblasst. Einer ereignisreichen Erinnerung.

Die Umgebung, die an uns vorbeizieht, kommt mir wieder bekannt vor und mit ihr kehrt auch die Normalität und der Alltagstrott allmählich zurück. Hier ist irgendwie alles immer gleich. Die gleichen grauen Häuser, die gleichen Menschen, der gleiche Ablauf. Jeden einzelnen Tag.

Darians Auto kommt nun nach mehreren Stunden zum Stehen und mein Blick schweift sofort zu dem dunklen, betongrauen Mehrfamilienhaus, das nur leicht von der Straßenlaterne beleuchtet wird, die jedoch immer wieder flackert. Willkommen zurück in der Bruchbude. Nach dem Aussteigen strecke ich mich kräftig und gehe dann zum Kofferraum, um meine Sachen zu holen. Darian hievt Kaylas Koffer heraus und reicht ihn ihr, bevor er mir meinen gibt. Ihre Hände streifen sich leicht.

„Wir sehen uns dann. Schlaft gut."

Er drückt jeden von uns fest, bevor er kräftig gähnt und langsamen Schrittes zur Fahrertür läuft.

„Du auch."

Er steigt ein und fährt davon, wobei er sich wahrscheinlich mehr auf sein Bett als auf alles andere freut. Ich starre noch einen Moment auf die Ausfahrt, bis ich mich zu Kayla drehe, die bereits auf mich wartet. Es ist das erste Mal, dass wir wieder allein sind. Ich weiß immer noch absolut nicht, wie ich mich verhalten soll. In ihrer Hand hält sie einen Stapel Briefe, scheinbar hat sie bereits unser Postfach ausgeleert. Stillschweigend schleppen wir die Koffer durchs Treppenhaus, der Aufzug ist immer noch kaputt, und versuchen nicht allzu laut zu sein, was sich als eher schwierig herausstellt.

Vor unserer Wohnung angekommen, ziehe ich erschöpft den Schlüssel aus meiner Tasche und öffne unter einem geschafften Seufzen die Tür, woraufhin wir beide eintreten. Das Gepäck lassen wir vorerst mitten im Flur stehen. Kayla knipst überall das Licht an und lässt sich daraufhin zu mir auf einen der Stühle am Küchentisch fallen, die Briefe knallt sie auf den Tisch.

„Irgendwie komisch wieder hier zu sein", sage ich vage, woraufhin sie nickt. Es ist komisch zwischen uns.

„Es war großartig in Italien, aber ich freue mich wieder hier zu sein. Zuhause."

Nun bin ich es, die zustimmend nickt. Hier haben wir nicht viel und es ist nichts Besonderes, aber es ist unser Heim. Es ist unser gemeinsames Zuhause.

Da ich plötzlich hellwach bin und nichts mehr von der Müdigkeit zu spüren ist, nehme ich die Briefe und schaue sie durch. Es ist nichts sonderlich Wichtiges dabei, doch bei einem bestimmten Brief halte ich abrupt inne.

Meine Augen fliegen immer und immer wieder über die schwarz gedruckten Buchstaben. Das darf nicht wahr sein. Das können sie nicht machen. Alles in mir zieht sich wütend zusammen, kocht, während ich diese Scheiße am liebsten in der Luft zerfetzen würde. Ich balle meine Hände zu Fäusten und haue aufgebracht auf den Tisch, was Kayla erschrocken zusammenzucken lässt.

„Was ist denn los?"

Eine leichte Spur Panik schwingt in ihrer Stimme mit, gleichzeitig weicht ihr alle Farbe aus dem Gesicht. Sie bereitet sich auf das Schlimmste vor. Zähneknirschend reiche ich ihr dieses Drecksblatt und auch ihre Augen werden mit jedem Wort, das sie liest, immer größer.

„Diese verschissenen Wichsbirnen! Einen Scheißdreck werden wir tun, die können mich mal!" Mittlerweile läuft sie aufgebracht hin und her, rauft sich dabei gleichzeitig die Haare. „Ihre beschissenen Modernisierungsmaßnahmen können die sich sonst wohin stecken! Erst müssen wir einen Teil davon übernehmen und jetzt sollen wir auch noch mehr Miete zahlen? Können wir die nicht Anklagen oder so?!"

„Womit willst du den Anwalt bezahlen? Mit Monopolygeld? Wir können uns ja nicht mal das leisten. Außerdem glaube ich, dass niemand eine ehemalige Insassin und einen Ex-Crackhead vertreten will", gebe ich bitter zurück und starre wütend auf den Brief, in der Hoffnung, dass er sich samt Mieterhöhung auflöst. Kayla lacht verbittert auf.

Wer es nicht zahlen kann, wird gekündigt. So einfach und abgekatert läuft das Spiel.

„Wir gehen am Wochenende wieder in den Club. Ich fürchte, das wird vorerst zur Routine. Oder hast du eine andere Idee?"

Als keine Antwort mehr kommt, verlasse ich die Küche und lasse eine verzweifelte und aufgelöste Kayla zurück, die mich gerade wahrscheinlich mehr als alles andere gebrauchen könnte. Aber in Momenten wie diesen ist der Hass und die Wut in mir zu groß. Ich hasse mich selbst. Ich hasse mich dafür, dass ich keinen besseren Job bekomme. Ich hasse mich dafür, dass wir jeden einzelnen Cent zusammenkratzen müssen. Ich hasse mich dafür, dass ich Kayla immer wieder mit in illegale Scheiße reite.

Wir stehen mit einem Bein auf der Straße und mit dem anderen im Knast. Jetzt kann uns nur noch der Weg in den Club retten. Oder in die Verdammnis stürzen.

Kayla und ich müssen nun noch mehr zusammenhalten als je zuvor. Egal wie beschissen die Situation mit Darian ist, wenn wir überleben wollen, müssen wir das vergessen.

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