Epilog
2 Jahre später
Aufgeregt lass ich meinen Blick durch die leere Wohnung schweifen. Die Wände sind alle in Weiß gehalten, nicht von Schimmel befallen und der Putz blättert nicht ab. Die Fenster sind groß, lassen viel Licht rein und schenken einen Ausblick auf die Felder, auf denen momentan Getreide wächst und andere, auf denen Kühe stehen. Obwohl es hier so ländlich aussieht, erreicht man die Innenstadt trotzdem in knapp zwanzig Minuten, was uns sehr wichtig war, da wir alle immer noch dort arbeiten. Jedoch konnte ich die anderen davon überzeugen, dass es sehr schön wäre, ein wenig mehr Grün vor der Haustür zu haben.
In allen Zimmern, außer dem Bad, in welchem dunkelgraue Fliesen verlegt sind, besteht der Boden aus wunderschönen Massivholzdielen aus Eiche. Die Räume sind groß und hell und einfach perfekt. Die ganze Wohnung ist perfekt. Ich kann mir schon genau vorstellen, wie die Zimmer aussehen werden, wenn wir sie dann eingerichtet haben. Heute hatten wir schon mal einige Kartons mitgenommen, jedoch noch nichts von alldem ausgepackt. Dafür werden wir später reichlich Zeit haben, doch zuerst mussten wir den Moment genießen.
Ich schaue zu Kayla und Darian, die mindestens genauso verzaubert und glücklich wirken und kann nicht anders, als sie zu mir zu ziehen und jeweils einen Arm um ihre Taille zu legen. Als wir eben den Schlüssel entgegengenommen hatten, mussten Kayla und ich fast weinen. Mit viel Mühe hatte ich die Tränen zurückhalten können, aber nun fließen doch ein paar meine Wange hinunter. Wann bin ich bloß so emotional geworden? Darian drückt erst mir und dann unserer Freundin einen Kuss auf den Scheitel und schüttelt immer noch ungläubig den Kopf.
„Endlich haben wir unser gemeinsames Zuhause."
Ich nicke zustimmend mit dem Kopf, noch immer unfähig irgendetwas von mir zu geben. Das hier ist tatsächlich real. Ich kneife kurz in meinen Arm, um mich zu versichern, doch ich spüre den Schmerz und wache nicht aus einem wunderbaren Traum auf.
Die letzten zwei Jahre waren kein Zuckerschlecken. Lorena hatte zwar ihre Aussage getätigt und der Eintrag in meiner polizeilichen Akte wurde entfernt, doch die Suche nach einem Ausbildungsplatz gestaltete sich dann doch sehr schwierig. Am Anfang wusste ich nicht einmal richtig, was ich machen wollte. In all den Jahren zuvor hatte ich mir nie den Gedanken an einen Beruf erlaubt, den ich tatsächlich gerne ausüben würde. Allein der Gedanke wäre zu schmerzhaft gewesen. Als ich dann plötzlich vor der Frage stand, was ich mit meinem Leben anstellen möchte, wenn ich die Wahl habe, war ich erst überfordert. Letztendlich hatte ich mich dann für Marketing entschieden, doch zu Anfang kam eine Absage nach der anderen, was mich mehr als frustrierte. Wenn meine Partner mich nicht ständig aufgemuntert und motiviert hätten, wenn ich mal wieder am Boden war, wäre ich wahrscheinlich doch Reinigungskraft geblieben.
Zwar war ich jetzt keine Verbrecherin mehr, doch ein dreijähriger Aufenthalt im Gefängnis, den ich nun mal nie wieder rückgängig werden machen kann, hat einige Arbeitsgeber dann wohl doch abgeschreckt. Kian informierte mich dann darüber, dass sie in der Firma seines Vaters noch Leute im Marketing suchen würden, und verhalf mir zu einem Vorstellungsgespräch, was mir den Ausbildungsplatz brachte. Mittlerweile bin ich im zweiten Ausbildungsjahr und weiß, dass es die richtige Entscheidung war. Es macht mir riesigen Spaß.
Darian konnte in seiner Firma weiter aufsteigen und Kayla hat einen Job in einem sehr beliebten Café angenommen, der gut bezahlt wird und er ihr zudem Freude bereitet. Nebenher informiert sie ehrenamtlich in Schulen über Drogenkonsum. Die Zeit der drei Jobs ist endlich vorüber. Es ist immer noch mehr als komisch, dass am Ende des Monats noch genug Geld da ist und wir sogar sparen und in den Urlaub fahren können. Oder uns diese wunderschöne, großflächige Wohnung in bester Lage leisten können. Trotzdem werde ich niemals vergessen, was ich durchgemacht habe und wie es war, hungrig ins Bett zu gehen, um Geld zu sparen.
Der Ton der Türklingel reißt mich aus meinen Gedanken. Kayla läuft zu dieser und öffnet sie, woraufhin die Stimme einer meiner liebsten Menschen ertönt. Meine Freundin kommt mit meinem kleinen Bruder im Schlepptau in unser zukünftiges Wohnzimmer.
„Hey, Leute." Sofort schließe ich ihn in eine feste Umarmung und drücke ihm einen Kuss auf die Wange. „Du tust schon wieder so als hätten wir uns eine Ewigkeit nicht gesehen." Wir haben uns erst gestern gesehen, aber ich freue mich trotzdem jedes Mal so sehr ihn zu sehen, wie an dem ersten Tag in der Psychiatrie bei Lorena, die mittlerweile bei unserem Vater lebt und sich immer noch in Behandlung befindet. Zu keinem der beiden habe ich besonders viel Kontakt, doch es geht mir besser so. Ich konnte ihnen verzeihen und den Hass und die Wut loslassen, ich verspüre jedoch kein Verlangen nach engerem Kontakt.
Der Geruch von köstlicher Pizza tritt in meine Nase und ich schaue überrascht auf die Pizzakartons, die Elian zuvor auf den Boden abgestellt hatte.
„Dich kann man gebrauchen", kommt es sofort von Darian, der die Kartons verliebter als seine Freundinnen anschaut. Eigentlich ist es Kayla, die den Orgasmus von Pizza bekommt. Vielleicht haben wir zu viel Zeit miteinander verbracht und es färbt ab.
„Wir haben nur noch keinen Tisch und kein Besteck", erwidert Kayla nachdenklich.
„Als ob du Pizza jemals mit Besteck gegessen hättest." Ich verdrehe gespielt die Augen, was Kayla nur mit einem unschuldigen Grinsen und einem schnellen Kuss kommentiert. „Wir können uns doch einfach auf den Boden setzen, das wollte ich sowieso schon immer mal machen."
Wir machen es uns auf dem Boden gemütlich und verteilen die Kartons. Elian kennt uns alle genau, sodass nun jeder seine Lieblingspizza vor sich hat. Auf meiner sind Tomate und Mozzarella vertreten, auf Kaylas ist gefühlt alles, weil sie sich nie entscheiden kann, Darian isst meistens Peperoni und Elian eine vegetarische Variante. In der neuen Wohnung schmeckt das erste Stück gleich noch besser. Nach Freiheit und Selbstbestimmung. Gefühle, die mir noch nicht so lange bekannt sind. Ich genieße es. Egal wie ich mir die Zukunft vorgestellt habe, kaum etwas hätte die Realität übertreffen können.
„Hast du schon alles gepackt?", frage ich Elian und kann dabei nicht verhindern, dass meine Stimme ein wenig wehleidig klingt.
„Eben fertig geworden. Ich freue mich schon total. Aber ich werde euch natürlich sehr vermissen."
Elian reist morgen nach Irland, um sein Kunststudium zu beginnen. Er hat das Stipendium an seiner Traumuniversität, für welches er so hart gearbeitet hat, bekommen. Wir haben uns alle mindestens genau so sehr wie er selbst gefreut. Gleichzeitig fällt es mir schwer ihn ziehen zu lassen. Er muss aber die Welt erkunden und seinen eigenen Weg gehen, wo auch immer ihn dieser hinführen mag. Wenn er es möchte, werde ich ihn begleiten und unterstützen. Natürlich die meiste Zeit aus der Entfernung, aber ich werde da sein. So wie ich es vor vielen Jahren versprochen habe.
Auch Darian, Kayla und ich haben Auslandspläne. Die Sehnsucht nach dem Strandhaus in Italien ist so groß, dass wir darüber nachdenken eines Tages auszuwandern. Genaueres steht jedoch noch in den Sternen.
„Wir dich auch. Aber wahrscheinlich stehen wir sowieso mindestens einmal im Monat vor deinem Wohnheimzimmer, weil es deine Schwester nicht ohne dich aushält", erwidert Kayla neckend und absolut übertrieben.
„So schlimm bin ich überhaupt nicht!"
Es ist ein schlechter Versuch der Verteidigung, denn tief im Inneren weiß ich doch selbst, dass ich manchmal schon ein wenig zur überfürsorglichen Mutter mutiere. Aber es hat auch seinen Grund, immerhin habe ich so viel Zeit mit Elian verpasst, dass ich jetzt eben so wenig wie möglich verpassen möchte. Die anderen versuchen sich nur das Lachen zu verkneifen, während ich gespielt beleidigt die Arme vor meinem Körper verschränke. Die können mich mal, hätten sie das doch erleben sollen, dann wüssten sie wenigstens, wie ich mich fühle.
„Manchmal seid ihr echt scheiße."
„Aber dafür liebst du uns."
Leider muss ich ihnen zustimmen. Dafür liebe ich sie. Und noch für so viele andere Dinge, für die ich Jahre brauchen würde, um sie alle aufzuzählen. Aber die würde ich gerne dafür nutzen, wenn dadurch deutlich wird, wie tief diese Liebe reicht. Wenn Mama uns so sehen könnte, Pizza essend auf dem Boden einer leeren Wohnung und unendlich glücklich, wäre sie bestimmt stolz. Ich bin es zumindest. Stolz, dass ich mein eigenes kleines Happy End gefunden habe.
THE END
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