Vom Leben und Sterben II

Sorah stürmte auf das Dach. Der Treffpunkt mit Kematian. Die kühle Nachtluft fing sie ein und heiße Tränen strömten ihr über die Wangen.

Ihre Beine gaben nach und sie stürzte auf das Dach. Mit den Händen fing sie sich ab. Die Galle hatte sie bis jetzt hinuntergeschluckt, aber nun konnte sie das Würgen nicht länger zurückhalten und erbrach.

Lautes Stimmengewirr kam aus dem Inneren des Schlosses. Aufgebrachtes Rufen, hohe Schreie. Jammern, Klagen und Weinen.

Sie wollte es nicht hören, wollte die Worte nicht verstehen. Sie ließ sich zurückfallen und presste die Hände auf die Ohren. Aber so gab sie ihren Gedanken nur mehr Macht.

Tolas, der ihr von der See und von Sternen erzählt hatte. Tolas, der ihr gesagt hatte, dass er des Fliehens müde war.

Hitze und Kälte zugleich. Gefühle, in einem Herzen, das sich von diesen lossagen sollte.

Der Bogen in ihrer Hand. Blut und Schreie.

Galle stieg erneut in ihrer Kehle auf, der ätzende Geschmack des Erbrochenen auf ihrer Zunge.

Sie stürzte auf ihre Arme, übergab sich ein weiteres Mal.

Schritte gesellten sich zu ihr auf das Dach. Langsam und bedächtig gesetzt, gleich einer Raubkatze, die sich ihrer Beute näherte.

»Niemand hat je behauptet, zu töten, wäre einfach.« Kematians Stimme war ruhig. Der gewohnte Befehlston blieb aus, die Kälte, die ansonsten mit jedem Wort mitschwang, war verschwunden.

Sie kroch rücklings von ihm weg, wischte sich über die Wangen. Sie hatte nie vor ihm weinen wollen. Für ihn war jede Art der Gefühlsäußerung ein Zeichen der Schwäche.

Ein leises Seufzen schwebte von seinen Lippen. Er trat zu ihr und legte ihr einen Umhang über die Schultern.

»Und falls es das besser macht«, sagte er und kniete sich zu ihr. »Irgendwann wirst du dich daran gewöhnen.«

Sie wollte sich weiter von ihm entfernen, aber Angst legte sich wie eine kalte Hand in ihren Nacken und lähmte sie. Ihre Atmung ging nur stockend.

»Ich ... ich will das nicht mehr.« Ihre Stimme war nur ein Hauchen. Salzig schmeckten ihre Tränen auf ihrer Zunge.

Er trug seine Maske, die jeden Gesichtszug versteckte. Nur seine grauen Augen waren nicht verborgen. Gewöhnlich verzichtete sie darauf, seinen Blick direkt zu erwidern, aber nun war es der einzige Weg, wie sie seine Emotionen lesen konnte.

Und sie sah nichts. Keine Freude, keine Wut, keine Kälte. Da war einfach nichts.

Sie wandte den Blick ab. Sie wollte weg. Weg von ihm, von Terbet, von den Raben, von dem gesamten Leben, das er ihr gegeben hatte.

»Niemand will es«, sagte er. Er hob eine Hand und legte sie auf Sorahs Haupt. »Aber niemand hat eine Wahl. Wer sich einmal den Raben anschließt, kann sie nie wieder verlassen.«

Sein Blick schweifte an ihr vorbei und zu der Tür, aus der sie auf das Dach getreten war. »Er war einst einer von uns«, sprach er.

»Tolas ...« Der Name kaum mehr als ein erstickender Laut.

Kematian nickte. »Wie es der Zufall wollte, sah er dem Fürstensohn sehr ähnlich. Lange bevor er uns verlassen hatte, war er oft in Terbet und hat den ehemaligen Tolas ausgehorcht. Er hat sich seine Interessen angeeignet, wusste seinen Tagesablauf. Er glich seine Art zu gehen an, seine Art zu sprechen.«

Sorah schluckte. Sie zwang sich, zu atmen, auch wenn ihre Kehle brannte.

»Und dann verließ er uns. Erst floh er einige Jahre durch die Länder, suchte Auswege, wo sich keine auftaten. Letztlich tötete er den ehemaligen Fürstensohn und nahm seinen Platz ein.«

Sorah machte eine seitliche Kopfbewegung, schüttelte damit Kematians Hand auf ihren Locken ab. Er versuchte kein zweites Mal, sie zu berühren.

»Ich brauchte eine Weile, um ihn zu finden, denn er tarnte sich gut. Aber am Ende entkommt niemand.«

»Warum?«, fragte sie und sah wieder auf. Wie konnte er so ruhig davon sprechen, dass niemand die Raben verlassen konnte, wenn er doch die Flüchtigen jagte? Wie konnte er es so klingen lassen, als wäre er nur ein Gefangener in den Fängen seines Schicksals?

»Wir können nicht riskieren, dass die Geheimnisse der Raben an die Außenwelt gelangen.«

Lügner.

»Aber viel wichtiger: Die meisten Raben gehen in einem gewöhnlichen Leben unter. Wer zu oft tötet, giert danach. Nach dem Gefühl von Macht, nach dem Anblick der Augen, wenn sie ermatten. Oder wer nicht danach giert, der hat trotzdem gelernt, dass Mord der einzige Ausweg aus Schwierigkeiten ist. Wenn er in die Ecke getrieben wird, dann schlägt er um sich.«

Abscheu zuckte ihr durch das Gesicht. »Heuchler«, zischte sie. »Ihr versucht es doch nicht einmal. Ihr gebt ihnen keine Chance.«

Er schwieg für einen Moment. Ein dunkler Schleier wirbelte durch seine Augen, verschwand aber beim nächsten Wimpernschlag und zurück blieb dieses unerträgliche Nichts.

»Wir versuchten es in der Vergangenheit«, sagte er, »und es resultierte meistens darin, dass hunderte Menschen starben, ehe wir den Aufsässigen zu fassen bekamen. Erst später fingen wir an, sie aktiv zu jagen.«

Sorah schluckte. Sie wollte es nicht glauben. Sie wollte nicht glauben, dass es keinen anderen Weg gab, wollte nicht glauben, dass sie diesem Leben niemals wieder entkam.

»Deshalb, Mädchen, sag dich von deinen Gefühlen los und lass dein Herz erkalten«, sagte Kematian. »Nur so wirst du sie überleben.«

Die Stimmen im Hintergrund wurden lauter. Die Adeligen hatten erkannt, woher der Pfeil kam und kontrollierten nun die obereren Ränge.

»Und jetzt steh auf und kommt mit.« Kematian wandte sich ab. Er hatte sie nicht gepackt. Er schleifte sie nicht hinter sich her. Er zwang sie nicht.

Sorah blinzelte und sah ihm nach. Er ließ ihr die Wahl.

Zu bleiben, gefunden zu werden, als Mörderin zu hängen.

Allein zu fliehen, sich von den Raben loszusagen. Sie würde ein Leben führen, in dem sie ständig fortlaufen müsste. Denn Kematian würde sie jagen und er würde sie finden, daran zweifelte sie keine Sekunde. Ihr Leben wäre kurz, doch sie wäre frei.

Oder die letzte Möglichkeit: Ihm zu folgen, ein Attentäter zu werden. Sie würde stärker werden, sie würde sich Reichtum anhäufen, wie die meisten der Raben es taten, wenn sie erst einmal ihre Ausbildung abgeschlossen hatten. Aber sie müsste ihm weitere Monate hinterherlaufen, weitere Monate jedem seiner Befehle gehorchen. Früher oder später würde Eis und Kälte ihr Herz gefangen halten oder sie würde dem Wahnsinn verfallen.

Sorah rappelte sich auf. Ihre Knie zitterten, aber sie trugen sie schnell an Kematians Seite. Letztlich war es nicht der Wunsch nach Macht oder Reichtum, der sie in seine Arme trieb. Nein, es war die nackte Angst vor ihm.

Wenn sie sich lossagte, wenn sie vor ihm floh ... Hätte er sie gefunden, dann würde sie nicht die Gnade eines schnellen Todes bekommen.

Er hatte Pläne mit Tolas gehabt, er hatte ihn nicht sofort töten wollen. Nur durch Sorahs Hand hatte er Barmherzigkeit erhalten, aber sie wollte sich nicht ausmalen, was geschehen wäre, wäre er in Kematians Hände gefallen.

Und noch weniger wollte sie es am eigenen Leib spüren.

Kematian nickte ihr zu, als sie zu ihm aufholte. »Gute Arbeit heute«, sagte er und setzte sich in Bewegung.

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