Vom Leben und Sterben I
Sie verließen den Saal durch eine Seitentür, die in einen Korridor führte. Weniger Menschen bewegten sich in dem Gang. Nicht gar keine, aber es war zumindest ein kleiner Fortschritt.
»Du kennst dich hier gut aus«, stellte Sorah fest.
Ciacas zuckte mit den Schultern. »Ab und an war ich schon mal hier. Weißt du, reiche Leute bemerken nicht, wenn man ihnen Kleinigkeiten entwendet. Mit diesen Kleinigkeiten aber kann ein normaler Mensch wochenlang überleben.«
Der Korridor führte zu einem Saal, der spärlich beleuchtet und vor allem menschenleer war. Die Stimmen und die Musik rauschten nur im Hintergrund.
Irgendwo hätten doch Wachen auftauchen müssen, denn dieser Saal wirkte nicht, als wäre er für die Gäste vorgesehen.
»Dein Partner hat ganze Arbeit geleistet.« Obwohl Ciacas flüsterte, hallten seine Worte laut von den Wänden wider.
Das hatte Sorah auch vermutet, nur sich nicht getraut, es überhaupt zu denken. Kematian konnte doch nicht jede Wache, jeden Diener und jede Seele, die sich in seinen Weg verirrt hatte, umbringen.
Gut, konnte er schon. Je länger sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher war es, dass er es getan hatte.
Er wollte zurück in das Rabennest und umso schneller sie den Auftrag ausführte, desto früher würden sie aufbrechen.
Ciacas leitete sie eine Treppe hoch und in einen Raum hinein. Keine Kerze erhellte das Zimmer und weiße Laken lagen auf den Möbeln. Spätestens jetzt war Sorah sicher, dass sie hier nicht sein sollten.
Der Dieb ließ ihren Arm los und deutete auf eine Tür auf der anderen Seite des Raumes. »Dort hinter wirst du einen Korridor finden«, sagte er, »und an dessen Ende eine Treppe, die dich auf den obersten Rang führt.«
Sorah nickte. Sie griff schon nach den Bändern, die ihren Rock lösen würden, damit sie endlich wieder vernünftig gehen konnte. Ciacas aber hielt sie auf.
»Damit solltest du noch warten«, sagte er. »Stell dir nur vor, einer der Diener würde dich nur in Unterwäsche sehen. Mit dem Rock kannst du wenigstens so tun, als hättest du dich verlaufen. In Unterwäsche müsstest du dir eine andere Ausrede einfallen lassen.«
Sorah verzog das Gesicht. Sie hasste es, wenn er recht hatte. Dann bemerkte sie noch etwas anderes. »Du wirst mich nicht begleiten?«
Ciacas schenkte ihr ein müdes Lächeln. »Nein«, sagte er. »Ich möchte fort sein, bevor hier das Chaos ausbricht, und so viel Strecke wie möglich zwischen deinen Partner und mich bringen. Ich hänge ein wenig an meinem Leben.«
»Das verstehe ich«, sagte Sorah und erwiderte sein Lächeln. »Dann wünsche ich Euch eine weite Reise und dass Euer Weg sich nicht noch einmal mit den Raben kreuzt.«
Ciacas seufzte wehleidig und griff sich an die Brust. »Und schon ist sie wieder kalt und distanziert«, sagte er und nickte ihr zu. Sein Lächeln, das gewöhnlich nur Selbstgefälligkeit widerspiegelte, gewann einen Hauch von Ehrlichkeit. »Lebe wohl.«
Mit diesen Worten trennten sie sich.
Ciacas wandte sich ab und verließ den Raum auf dem Wege, wie sie hineingetreten waren, Sorah durch die Tür, auf die der Dieb gedeutet hatte.
Der Korridor dahinter kleidete sich nicht in Gold und Edelsteinen und ähnelte eher dem Dienstbotengang, durch den Sorah am Vortag mit Kematian hineingelangt war. Nur das silberne Licht der Zwillingsmonde fiel durch die Fenster und erhellte den Gang.
Diesmal zeigten sich beide Monde. An diesem Tag, an dem Tag des Attentats, standen sie hoch am Himmel und ließen ihre Augen über die Welt schweifen.
Damit wusste Sorah sicher, dass all die Wahrsager logen. Wie konnte der Mond, der sich doch eigentlich vor jeder Grausamkeit versteckte, die heutigen Ereignisse betrachten?
Immer noch sah sie keine Menschenseele und die einzigen Geräusche, die auf Leben hinwiesen, war die Musik und das Stimmengewirr aus dem Ballsaal.
Sorah schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Die Diener und Wachen hielten sich sicherlich nur in einem anderen Teil der Residenz auf und waren keinesfalls Kematian zum Opfer gefallen.
Sie ging los – rennen konnte sie in dem Kleid nicht. Die Treppe fand sie schnell. Ein Gebilde, das sich in die Höhe schraubte. Die Stufen schmal, das Geländer nur grob bearbeitet und geschliffen.
Sie hob den Rock an. So kam sie schneller vorwärts und erreichte den obersten Rang.
Die Treppe hatte sie direkt unter das Dach geführt. Finster und ungeschmückt erstreckte sich die Empore vor ihr.
Musik und Stimmen drangen wieder lauter an ihr Ohr. Dort unten ahnte niemand, was am heutigen Abend geschehen sollte. Dort unten feierten sie und erfreuten sich des Balles.
An die Brüstung gelehnt stand ein Bogen, davor lag ein Pfeil mit der Nachricht, die sie für Ciacas überbringen sollte.
›Wir holen uns zurück, was uns gehört.‹
Kematian hatte beides dort platziert, von dem Raben selbst aber fehlte jeder Spur. Von irgendeinem Schatten aus sah er gewiss zu und ging sicher, dass sie den Auftrag ausführte. Wenn sie zögerte, dann übernahm er ihre Pflicht.
Tolas würde an diesem Abend sterben. Entweder durch ihre oder durch seine Hand.
›Denke nur daran, dass es mein Wunsch ist‹, hörte sie Tolas' Stimme in ihren Gedanken. ›Dann wird es dir leichter fallen.‹
Ihre Kehle schnürte sich zu. Ein Brennen fraß sich durch ihre Brust wie ein rotglühender Dolch.
Nichts fühlen, sagte sie sich. Du darfst nichts fühlen.
Sie löste die Bänder ihres Rockes und ließ ihn zu Boden gleiten. Wenn sie hier gefunden würde, dann bliebe ihr ohnehin nur noch die Möglichkeit, zu fliehen.
Sie trat an das Geländer heran und ließ sich auf die Knie sinken, um in den Saal zu spähen. Die Menschen nur ein Gewirr aus Farben.
Sie blinzelte, wischte sich über die Augen. Nässe an ihren Fingerspitzen.
Nun konnte sie klarer sehen. Und fast auf Anhieb fand sie Tolas. Sein Lockenschopf war unverkennbar, auch wenn die Strähnen an diesem Tag nicht in alle Richtungen abstanden. Seine Kleidung war nicht länger gewöhnlich, sondern ebenso edel wie die der anderen Adeligen.
Er hatte sich nicht an ihren Rat gehalten, nicht die Stadt verlassen, nicht das Weite gesucht.
Er stand nur kurz auf dem Podest und wechselte einige Worte mit seiner Mutter. Nur wenige Sekunden später, mischte er sich unter die Menge, bis er jemanden fand, den er offenbar kannte und verwickelte ihn in ein Gespräch.
Sorah richtete sich auf. Sie nahm den Bogen in die Hand und legte einen Pfeil an. Nur ein Schuss, nur eine Chance.
Sie versuchte, tief einzuatmen. Ihre Kehle wollte keine Luft aufnehmen. Ihre Hände zitterten, sie fror, aber gleichzeitig bildeten sich Schweißperlen auf ihrer Stirn.
Es war Tolas, auf den sie den Pfeil richten sollte.
Welche Wahl blieb ihr? Wenn sie es nicht tat, würde Kematian es tun. Und Tolas hatte sie gebeten, wenn er schon starb, dann sollte sie es durch ihre Hand geschehen. Nicht durch ihren Mentor.
Sie schloss für einen Moment die Augen und holte tief Luft, bis das Zittern aus ihrem Körper verschwand.
Du darfst nichts fühlen.
Es war ein einfacher Auftrag, ein einfacher Tod, ein einfacher weiterer Moment in ihrem Leben, in dem sie keine Wahl hatte.
Hör gefälligst auf zu fühlen.
Sie richtete den Pfeil auf Tolas' Rücken. Ein perfekter Schuss trotz des überfüllten Ballsaals. Ein tiefer beruhigender Atemzug und sie spannte den Bogen, bereit es alles zu beenden.
Tolas wandte sich von seinem Gesprächspartner ab. Sorah erschrak kurz, wollte sich zurückziehen und warten, bis er sich wieder irgendjemandem widmete. Denn während er sich bewegte, konnte sie nicht schießen. Die Gefahr war zu groß, dass sie verfehlte.
Sie erstarrte, den Bogen weiterhin gespannt. Ein Ziehen durchfuhr ihren Oberarm. Ihre Hände schwitzten.
Tolas sah auf. Die wenigsten Menschen bemerkten überhaupt irgendetwas, das über ihren Köpfen stattfand. Nur Raben und Diebe richteten ihren Blick von Zeit zu Zeit nach oben.
Er blickte ihr direkt in die Augen, als hätte er gewusst, dass sie genau in diesem Moment dort stehen würde.
Ein erschöpftes Lächeln legte sich auf seine Lippen. Ein Lächeln wie das eines Mannes, der sein ganzes Leben lang geflohen war und sich nun im Angesicht seines nahen Endes dem Schicksal ergab.
Dann zwinkerte er.
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