Sieg oder Niederlage I
Auf der Reise erklärte Kematian Sorah fast nichts. Sie hatte nichts anderes erwartet. Das Einzige, was er sagte, war »Terbet«, die Stadt, in die sie reisten, und »Sohn des Fürsten«, ihr Ziel. Es hätte auch zu sehr an ein Wunder gegrenzt, wenn er ihr mehr Informationen gegeben hätte.
Die Tage der Reise vergingen in Schweigen, bis sie vor den hohen Toren Terbets standen. Eine Stadt an der Küste, die sich ihren ursprünglichen Reichtum durch Walfang verschafft hatte. Später hatte sie ihr Vermögen gemehrt, indem sie arme Seelen in die Tavernen gelockt und dort mithilfe von Glücksspiel um ihr Hab und Gut gebracht hatte.
Wo es unermessliche Höhen gab, erstreckten sich auch tiefe Abgründe, und wo sich Gold und Silber häufte, dort verschlug es Elstern hin. Mit anderen Worten: Diebe hausten in der Stadt.
Und nebenbei hatte sich im Untergrund ein Kampfring gebildet. Erst hatte man Hunde antreten lassen, später kämpften Menschen gegeneinander. Sei es, dass dies das Werk der Diebe war, oder dass die Menschen es als Flucht aus der Armut nutzten, die Obrigkeit duldete die Kämpfe. Wer gewann, häufte sich Reichtum an und wer verlor, der starb. Beides Wege, Leid und Obdachlosigkeit in der Stadt im Zaum zu halten.
Die meisten Menschen, die auf den Straßen unterwegs waren, kleideten sich in edle Stoffe und trugen Gold und Edelsteine bei sich.
Und inmitten der Menge standen die beiden Raben. Während Kematians Miene verfinstert blieb, starrte Sorah die Leute mit vor Erstaunen aufgerissenen Augen an. Sicher, sie hatte zuvor schon Reiche und Adelige gesehen, aber nie so viele auf einem Fleck.
Kematian gab ihr einen Klaps auf den Hinterkopf und holte sie zurück in die Realität. »Weiter«, sagte er und ging voran.
Sorah brauchte einen Augenblick, dann folgte sie ihm, ehe sie ihn in der Menschenmenge aus den Augen verlieren konnte.
Sie holte schnell zu ihm auf. »Wohin gehen wir?«, fragte sie, obwohl sie nicht wirklich eine Reaktion von ihm erwartete.
Zu ihrer Überraschung aber antwortete er: »In den Untergrund.«
Für einen Moment blieb Sorah still, da sie versuchte, sich mit seinen Worten zufriedenzugeben. Doch die Versuche missglückten und sie hakte nach: »Und was wollen wir da?«
Darauf antwortete Kematian nicht mehr und sie strapazierte ihr Glück nicht weiter. Spätestens, wenn sie im Untergrund angekommen waren, würde sie es erfahren.
Der Eingang, der in das Kellergewölbe unter der Stadt führte ... nun, nichts schrie mehr nach ›Achtung, hier gehen gesetzeswidrige Dinge vor sich‹ als ein heruntergekommenes Hüttchen inmitten der hochgebauten Häuser, die mal mit Säulen umrahmt waren, sich mal mit goldenen Fenster- und Türrahmen schmückten oder deren Garten sich so weit erstreckte, dass Sorahs Zimmerchen fünfmal hineinpassen würde.
Vor dem Häuschen stand ein finster dreinblickender Mann. Sorah aber, da sie schon so lange mit Kematian gereist war, hatte sich an grimmigere Grantigkeit gewöhnt und für sie wirkte der Türsteher fast sogar freundlich.
Er versperrte den beiden Raben den Weg. Obwohl Kematian ihn um einige Zentimeter überragte und sich normalerweise von niemandem etwas befehlen ließ, hielt er ein.
Der Türsteher musterte ihn von Kopf bis Fuß, warf aber keinen einzigen Blick auf Sorah. »Ihr seid hier nicht erwünscht«, sagte er.
Kematian verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich oder meinesgleichen?« Obwohl er die Maske mit Schnabel, die jeder Rabe besaß, nicht offen trug, sondern unter seinem Umhang verborgen hatte, konnten diejenigen mit geschultem Auge erkennen, dass sie einen Attentäter vor sich hatten.
Einigen Leuten sah man es einfach an, dass sie gern mordeten, und dann lag es nur nahe, sich auch dafür bezahlen zu lassen.
»Ihr«, antwortete der Türhüter auf die ursprüngliche Frage und erst jetzt schweifte sein Blick zu Sorah. »Sie kann eintreten und wetten.«
Sie schob die Brauen zusammen. Wo genau hatte Kematian sie hingeschleppt?
»Ihr denkt, dass ich in den Kämpfen antreten möchte«, sagte der Rabe.
»Was würdet Ihr denn auch sonst hier wollen?«, fragte der Türhüter.
Die Furche zwischen Sorahs Augenbrauen vertiefte sich. Nun wusste sie zwar, wo sie waren, nur besserte dies die Situation nicht unbedingt. Sie standen vor dem Eingang einer der Kampfarenen.
»Da irrt Ihr«, fuhr Kematian fort und deutete auf Sorah. »Sie kämpft.«
Ihre Augen weiteten sich und ihr Blick schnellte zu ihrem Mentor. So war das nicht abgesprochen. Um genau zu sein, hatten sie gar nichts abgesprochen, aber dies am wenigsten.
Der Türhüter beäugte Sorah ein zweites Mal und sprach zu Kematian: »Wenn Ihr sie umbringen wollt, dann gibt es einfachere Wege. Ein paar Meter vor den Stadtmauern ist ein ganz hübsches Flüsschen, in dem Ihr sie ertränken könntet.«
Sie unterhielten sich gerade wirklich darüber, wie sie Sorah am besten ausschalteten. Während sie daneben stand. Nicht die seltsamste Situation, in die Kematian sie je gebracht hatte, aber auch nicht die angenehmste.
»Sie wird nicht sterben«, sagte Kematian.
Schön, dass er das glaubt, dachte Sorah. Sie war nicht besonders erpicht darauf, mit jemandem in den Ring zu steigen.
Der Türsteher musterte die beiden Raben noch ein letztes Mal, dann trat er beiseite. »Folgt dem Gang«, sagte er, »und meldet Euch bei Rahal.«
Kematian nickte ihm zu. Er griff Sorah am Kragen, ehe sie Reißaus nehmen konnte, und schleifte sie hinter sich in die Hütte.
Der Korridor war wie auch das Haus halb zerfallen. Die Dielen knarzten unter ihren Schritten, weiße Netze hingen in den Ecken und Spinnen beobachteten sie aus abertausenden Augen. Hier und dort piepste eine Ratte auf und hastete ihnen aus dem Weg.
Eine Treppe schraubte sich nach unten und lautes Gebrüll und Grölen stieg aus der Tiefe auf.
Sorah fing sich langsam wieder und aus dem Stolpern wurde ein Gehen, sodass Kematian ihren Kragen losließ.
Am Fuße der Treppe erstreckte sich ein weiterer Korridor. Doch er war nicht lang genug, dass sich Sorah ihrer Aufgabe bewusst werden konnte oder auch nur in der Lage war, nachzuhaken, was Kematian sich dabei dachte. War er ihrer etwa überdrüssig geworden und wollte sie nun auf diese Art loswerden, da es Raben untersagt war, sich gegenseitig umzubringen?
»Kematian«, flüsterte sie gerade noch, ehe sie am Ende des Ganges ankamen.
Nun erkannte sie den Ursprung des Grölens. Der Raum war gefüllt mit lauten, schwitzenden Menschen, die sich so nah wie möglich an den Käfig in der Mitte drängten, um das Spektakel, das sich dort abspielte, in allen Details aufzunehmen.
Allesamt waren es Männer und allesamt so groß, dass Sorah nicht über deren Schultern sehen konnte und daher nur anhand der Geräusche ahnte, was sich in dem Käfig abspielte. Dumpfe Schläge und Knacken. Dann ein teils erfreuter, teils erboster Aufschrei der Zuschauer.
Und gegen einen solchen Mann sollte sie antreten. Kematian wollte sie wirklich umbringen.
Nicht, dass sie noch nie getötet hatte. Für gewöhnlich aber versteckte sie sich mit Pfeil und Bogen außerhalb des Geschehens oder kam durch eine List so nah an ihren Gegner heran, dass er das Messer zwischen seinen Rippen gar nicht kommen sah. Doch nie stürzte sie sich mitten ins Getümmel.
Ein etwas älterer und sehr rundlicher Mann kam ihnen entgegen. Er stockte, als er die beiden Raben bemerkte und runzelte die Stirn.
»Rahal nehme ich an?«, fragte Kematian.
Der Mann nickte und setzte schon zum Sprechen an, da fiel Kematian ihm ins Wort. »Der Türhüter meinte, wir sollen uns bei Euch melden.«
Rahals Stirnrunzeln vertiefte sich. »Ihr wurdet eingelassen?«, fragte er. Er schüttelte den Kopf und meinte leiser: »Er wird sich schon etwas dabei gedacht haben.«
Dann sagte er wieder lauter: »Ich brauche Euren Namen und eine Startsumme von mindestens einhundert Goldmünzen. Wenn Ihr gewinnt, dann bekommt Ihr einen Teil der Summe, die auf Euren Gegner gesetzt wurde, oder mindestens das Doppelte Eurer Startsumme. Wenn ihr verliert ... dann sterbt Ihr. Das sollte die Frage nach einem Trostpreis klären. Einverstanden mit den Bedingungen?«
Kematian nickte. Er holte einen Beutel mit Gold hervor und reichte ihn Rahal.
Der Mann öffnete ihn, zählte nach und stockte. Er schluckte und wandte sich wieder an den Raben. »Ihr könnt dort entlang gehen«, sagte er und deutete auf einen Korridor auf der linken Seite. »Dort könnt Ihr Eure Waffen und Eure Rüstung ablegen und ...«
»Ich lege meine Waffen nicht ab«, unterbrach Kematian ihn.
Rahals Adamsapfel hüpfte auf und ab. Er hob beruhigend die Hände und wich einen Schritt zurück. »Mein Herr, um einen fairen Kampf zu ermöglichen, darf niemand etwas mit sich in den Ring nehmen. Einzig gewöhnlicher Stoff ist erlaubt und dann auch nur, um das Notwendigste zu bedecken.«
»Ich kämpfe nicht«, sagte Kematian. Er hatte lange genug darauf verzichtet, den armen Mann einzuweihen. Er deutete auf Sorah. »Sie kämpft.«
Rahal musterte sie. »Das ist ein Scherz ... richtig?«
»Nein«, sagte Kematian.
»Und sie macht das freiwillig?«
Nein!, rief Sorah innerlich, aber ehe ihr stummer Hilfeschrei ihren Mund verließ, antwortete Kematian an ihrer Stelle: »Das tut sie.«
Rahal behielt die Augen auf ihr und fragte sie lautlos, ob der Rabe die Wahrheit sprach.
Sie sah kurz zu ihrem Mentor, aber er erwiderte den Blickkontakt nicht. Nicht dass es die Sache besser gemacht hätte. Auf den ›Du bist unfähig‹-Blick konnte sie gerade gut verzichten.
Sie holte tief Luft und nickte dann. »Ich mache das freiwillig«, sagte sie. Zu lügen, war ihr noch nie schwergefallen. Sie hatte einmal einen Jungen gekannt, der immer in Tränen ausgebrochen war, wenn er lügen musste. Eine Woche, nachdem sie ihn kennengelernt hatte, hatte sie ihn tot in einer Gasse gefunden.
Rahal stieß ein Seufzen aus. »Dann sei es so«, sagte er und wandte sich wieder an Kematian. »Ist ihre Rüstung aus Leder?«
Der Rabe nickte.
»Die Waffen muss sie ablegen, aber sie kann zumindest die Rüstung anbehalten. Den Zuschauern gefällt es nicht, wenn der Kampf nicht wenigstens einige Minuten andauert. Und ein kleines Mädchen, das unter den Füßen eines Giganten zerquetscht wird, ist auch nicht gut für das Geschäft.«
Dann wandte Rahal sich direkt an Sorah. »Wie ist dein Name, Mädchen?«
»Sorah«, flüsterte sie. Sie scheiterte daran, ihrer Stimme einen Hauch von Festigkeit oder Selbstsicherheit zu verleihen.
»Gut, Sorah, mach dich bereit«, sagte Rahal. »Leg die Waffen ab und komm dann zurück. Ich werde dich ausrufen und du gehst in den Ring. Dann nehme ich Wetten entgegen und auf mein Signal geht es los. Verstanden?«
Sorah nickte. Sie versuchte sich nicht noch einmal am Sprechen.
»Dann sehen wir uns gleich wieder.«
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