Ein Tag ohne Sonne II

»Und Ihr, meine Liebe«, sagte Alette zu Sorah und deutete auf den Raumteiler. »Dort könnt Ihr Euch entkleiden.«

Sorah hatte schon gedacht, dass sie sich wirklich vor den beiden Männern hätte ausziehen müssen.

Sie war im Begriff, Alettes Weisung zu folgen, da meinte die Dame: »Und nehmt das hier mit.« Sie reichte ihr eine weite weiße Hose mit Bündchen an den Knien.

Sorah beäugte das Kleidungsstück skeptisch.

»Das ist Unterwäsche«, sagte Alette. »Dann müsst Ihr Euch nicht gänzlich vor mir entblößen.«

Sorah hob die Brauen, erwiderte aber nichts und nahm die Hose an. Wie um alles in der Welt sollte das Unterwäsche sein?

Sie hinterfragte nicht und trat hinter den Raumteiler. Ihr Umhang fiel zuerst zu Boden, ihr Waffengürtel folgte. Sie stieg aus ihren Stiefeln und knöpfte dann ihre Bluse auf, die sich zu dem Stapel ihrer Habseligkeiten gesellte.

Zuletzt legte sie ihre Hose ab und schlüpfte in die sogenannte ›Unterwäsche‹.

»Seid Ihr so weit?«, fragte Alette.

»Bin ich«, antwortete Sorah.

Die Dame trat zu ihr hinter den Raumteiler. In ihren Händen hielt sie ein pastellrosa Kleid mit einem weiten Rock, Rüschen an den Ärmeln und einem mit Rosenstickereien verzierten Korsett.

»Hier, ich helfe Euch«, sagte sie. »Steigt von oben hinein. Die Corsage ist noch nicht geschnürt und Ihr solltet hindurchpassen.«

Sorah runzelte die Stirn, aber erwiderte nichts. Kleider waren ihr suspekt. Zu viel Stoff, zu viel Schmuck, zu viel alles.

Alette half ihr, es anzukleiden. Erst jetzt fielen Sorah all die glitzernden Edelsteine auf, die auf dem Tuch verteilt waren.

Sie schlüpfte ohne Mühe hinein. Der Stoff floss sanft auf ihrer Haut hinab. Federleicht, als würde er kaum etwas wiegen.

Sorahs Stirnrunzeln vertiefte sich. Sie mochte es nicht. Es war zu weit ausgeschnitten, der Stoff an ihren Armen hingegen zu eng und es war zu auffällig. Sie fühlte sich so ... sichtbar.

»Nicht so böse schauen, Liebes«, sagte Alette. »Lasst es mich erst einmal zuschnüren und dann sehen wir weiter.«

Sorah murrte leise, aber welche Wahl hatte sie schon? In ihrer Rabenrüstung auf den Ball gehen?

Sie brummte weiter, während Alette ihr das Korsett band und auch, als sie an dem Stoff herumzupfte.

Sie betrachtete Sorah und ein zufriedenes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. »Perfekt«, sagte sie. »Dann lasst uns mal schauen, ob es Eurem Bruder auch gefällt.«

Als sie hinter dem Raumteiler hervortraten, warteten Kematian und Ciacas bereits. Der Dieb hatte mittlerweile den Gehrock ausgezogen und – das musste Sorah ihm hoch anerkennen – auf einen Bügel gehängt und keinesfalls, wie sie es von ihm erwartet hatte, zusammengeknüllt und über die Lehne des Sofas geworfen.

Nun kam zum Vorschein, was er unter dem Gehrock trug. Ein weißes Hemd und eine schwarze Weste.

An seinem Hals zeigte sich ein Schnitt, dort wo Kematian am Vortag das Messer gegen seine Haut gedrückt hatte. In einem stummen Gedanken fragte sich Sorah, weshalb er es nicht verbunden hatte, schüttelte dann den Kopf und erinnerte sich, dass sie keine Logik bei einem Dieb suchen musste.

Ciacas hatte es sich wieder auf der Couch bequem gemacht. Diesmal erntete er nur einen bösen Blick von Alette, aber sie warf nichts nach ihm.

Kematian stand mit verschränkten Armen neben dem Sofa.

»Da gibt es eine Sache, die ich mich frage.« Ciacas hatte gerade eine Unterhaltung mit dem Raben anfangen wollen, als Sorah hinter dem Raumteiler hervortrat und verstummte wieder.

Er betrachtete sie kurz und Sorah gab sich alle Mühe, ihm ihren finstersten Blick zu geben – in der Zeit bei Kematian hatte sie in der Hinsicht so einiges gelernt.

Ciacas' Lächeln wurde breiter. »Habt Ihr zufällig ein Kleid, das einen tieferen Ausschnitt hat?«, fragte er.

Alette blickte ihn nun auch finster an. Ehe sie aber etwas entgegnen konnte, hob Ciacas schon beschwichtigend die Hände. »Nicht nur meine persönliche Präferenz.«

Dass er überhaupt Worte wie ›Präferenz‹ kannte ...

Alette sah zu Kematian – wer würde schon Ciacas' Einschätzung vertrauen? – und dieser nickte ebenfalls.

Was zur Hölle?

Sorah runzelte die Stirn und Alette stieß einen leisen Laut des Unmuts aus. »Dabei sieht sie so süß aus«, murrte sie.

Sie schickte Sorah zurück hinter den Raumteiler und suchte ein neues Kleid.

Aber auch bei dem nächsten – ein pastellblaues Tüllgebilde, dessen Dekolleté und Korsett mit Saphiren versehen war – blieb das Urteil dasselbe. Ebenso wie bei einem smaragdgrünen und auch einem kupferfarbenen Kleid.

Nachdem Sorah gefühlt schon den halben Laden anprobiert und Ciacas immer nach »Mehr Haut« geschrien hatte, stieß Alette ein Schnauben aus und sagte: »Viel mehr geht nicht. Ansonsten wird sie aussehen wie ...«

Sie brach zwar ab, aber Ciacas führte ihren Satz zu Ende. »Wie eine Hure. Genau das ist der Plan.«

Sorah entglitten sämtliche Gesichtszüge. »Was?!«

Ciacas' Lächeln wurde breiter. »Ihr habt mich schon richtig gehört, meine Liebe. Wie eine ...«

Sorah wedelte mit den Händen. »Das müsst Ihr nicht noch einmal sagen.« Ihr Blick schweifte zu Kematian. Von einem Dieb erwartete sie nichts anderes, aber ihr Mentor musste doch etwas dagegen sagen.

Er aber sagte nichts dagegen, er sprach sich nur dafür aus. »Sorah kennt sich mit dem Verhalten am Hof nicht aus. Sie weiß nichts über Etikette, wie man tanzt oder wie ein Ball abläuft. Das heißt: Sie muss die Adeligen davon ablenken und dies ist der einfachste Weg.«

Sorah schwieg. Das war nicht die erste Wahl eines Planes gewesen, aber nun, da sie eingeweiht wurde und kurz darüber nachdachte, konnte sie nicht sagen, dass es eine schlechte Idee war. Vielleicht auch nicht die beste, aber es könnte funktionieren.

Die einzige Frage war: Hatte Ciacas oder hatte Kematian diesen Plan erdacht?

Ein Blick auf den Dieb und dessen Grinsen, das mit jeder Sekunde breiter wurde, verriet: Es war sein Werk. Kematian hatte es vermutlich nur abgenickt.

Schön, dass die beiden Pläne erdacht und Sorah nicht eingeweiht hatten.

»Das hättet Ihr gleich sagen sollen«, meinte Alette und bat Sorah mit einem Fingerzeig, zurück hinter den Raumteiler zu gehen. »Dann hätte ich sofort gewusst, wonach ich hätte suchen müssen. Was Ihr versucht zu erreichen, gelingt nicht, indem sie irgendwann gar keine Kleidung mehr am Leib trägt.«

Sie wandte sich ab, sodass nur Sorah ihr Augenrollen sehen konnte, weder aber Kematian noch Ciacas. »Männer«, murmelte Alette.

Sie wusste wirklich genau, was für den Plan passte, denn nur wenige Minuten später stand Sorah wieder in der Mitte des Raumes und diesmal gekleidet in ein tannengrünes Kleid.

Am liebsten hätte sie sich in ihrem Umhang eingewickelt.

So sehr Alette ihr auch versichert hatte, dass alles an Ort und Stelle bleiben würde, sie glaubte es nicht. Eine falsche Bewegung würde ohne Zweifel mehr von ihr entblößen, als sie zeigen wollte.

Wo bei den anderen Kleidern das Korsett ihr zumindest ein wenig Sicherheit geboten hatte, da stieß es ihr bei diesem eiskalt ein Messer in den Rücken. Es sorgte nur dafür, dass es schien, als besäße Sorah mehr Oberweite als sie eigentlich hatte.

An der Taille zeichneten Smaragde Wirbel, die sich ausdünnten, je weiter sie gen Rock gelangten. In einem stummen Gedanken fragte sich Sorah, wie viele der Edelsteine am Ende des Abends noch auf dem Kleid sitzen würden. Sie würde schließlich mit einem Dieb unterwegs sein und bezweifelte, dass dieser seine Hände bei sich behalten könnte.

Wenigstens aber der Rock reichte bis zum Boden – sie fand Trost darin, wenn auch nicht viel. Alette hatte gemeint, dann würde es nicht auffallen, wenn sie ihre eigenen Stiefel trug und nicht irgendwelche teuren Schuhe, in denen sie kaum laufen konnte.

Zusätzlich könnte sie den Rock vom restlichen Kleid lösen, indem sie an einigen Bändern zog. Das würde es ihr erleichtern, zu fliehen, nachdem sie den Auftrag ausgeführt hatte.

Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, als sie daran dachte, was bevorstand, aber sie schob jede Sorge hinter eine hohe Mauer. So musste sie ihren Kummer nicht mehr sehen, wenn sie auch weiterhin das leise Jammern in ihren Gedanken durch den kalten Stein hindurch hörte.

Ciacas betrachtete sie einen Moment zu lange für ihr Befinden. Vor allem verrieten die Stellen, an denen sein Blick verweilte, und sein Lächeln, worüber er bei der Musterung nachdachte.

»Urgs«, machte Sorah.

Ciacas lachte leise. »Glaubt mir, meine Liebe, wenn ich meine Gedanken ausblenden könnte, dann täte ich nichts lieber als das. Ich möchte das genau so wenig wie Ihr, aber ich bin nur ein –«

Sorah stieß einen angewiderten Laut aus. Ihr Blick schweifte zu Kematian, der sie ebenfalls musterte. Bei ihm war es aber wirklich nur eine nüchtern prüfende Betrachtung und nicht ... was auch immer das war, was Ciacas tat.

»Passt«, meinte Kematian.

»Wunderbar«, sagte der Dieb. »Ich dachte schon, Ihr würdet –« Er brach ab, als der Rabe ihn finster anblickte. Offenbar hörte niemand gern Ciacas reden.

Sorah brummte nur leise: »Ich hasse alles.«

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