Die Götterbilder wanken III

Sorah erkannte die Gassen, durch die Kematian sie führte und das Haus, bei dem sie ankamen.

Das Diebesversteck. Woher auch immer der Rabe wusste, dass es sich hier befand.

Was ihn zuvor zurückgehalten hatte, mit ihr zu kommen, es kümmerte ihn offenbar nicht länger. Denn ohne zu verweilen, trat Kematian an die Tür und stieß sie auf.

Ein erschrockener Aufschrei kam aus dem Inneren, noch ehe die Raben das Haus betreten hatten. Einige der Diebe wichen in die Dunkelheit zurück, andere entflohen gänzlich in andere Räume.

»Kommt nicht näher«, rief der Dieb, mit dem Sorah am Morgen gesprochen hatte – Ciacas. »Ich weiß, was ...« Weiter kam er nicht.

Kematian durchquerte den Raum in einer Geschwindigkeit, dass Sorah ihn kaum mit bloßem Auge verfolgen konnte, und packte den Dieb am Kragen.

Für einen kurzen Moment keimte Erleichterung in ihr auf, dass sie nicht die Einzige war, die diese grobe Behandlung Kematians erfuhr. Dann jedoch fiel ihr ein, dass sie auf der Seite der Raben stand, die Diebe hingegen die Feinde waren. Sollte Kematian nicht freundlicher zu ihr sein als zu den Elstern?

Ciacas hob die Hände. »Ruhig, ruhig, ich tu doch gar nichts«, sagte er. »Warum müssen Raben nur so grobschlächtig sein. Ein bisschen ...«

»Seid still«, wies Kematian ihn zurecht. »Wir brauchen Eure Hilfe.«

»Das konnte ich mir gerade noch selbst zusammenreimen. Auch wenn Eure Art, um Hilfe zu bitten, zu wünschen übrig lässt.«

Kematians Blick verfinsterte sich und Ciacas sprach schnell weiter: »Ihr wollt die Einladung zum Ball, nehme ich an? Da habt ihr Glück. Heute Nacht haben wir einen Grafen im Gasthaus aufgesucht und um seinen Besitz erleichtert. Dabei haben wir eine Einladung gefunden. Für ihn war sie ausgestellt, aber darin stand auch, dass seine Schwester ihn begleitet. Ihr möchtet sie haben, nicht wahr?«

Kematian antwortete nicht und seine Miene blieb weiterhin düster. Der Adamsapfel des Diebes hüpfte auf und ab. Die Umstehenden griffen nicht an, um ihren Anführer zu retten, und schoben sich nur heimlich tiefer in die Dunkelheit.

»Aber ... aber ...«, stammelte Ciacas. »Meine Hilfe hat ihren Preis.«

Entweder er war lebensmüde oder es gab irgendeine Art von Tradition, dass die Diebe stets nur gegen einen Preis ihre Hilfe darboten.

In einer geschickten Bewegung zog Kematian ein Messer und legte es Ciacas an die Kehle. »Ich biete Euer Leben«, sagte der Rabe kühl.

»Werdet Ihr mich nicht ohnehin töten, nun, da ich weiß, dass ihr hier wart?«, fragte Ciacas.

Die Klinge schnitt ein. Blut benetzte den kalten Stahl.

Der Dieb jaulte auf. »Gnade, Gnade!«, rief er. »Ich stimme zu! Abgemacht!«

Kematian steckte das Messer zurück, hielt Ciacas aber weiterhin am Kragen gepackt. »Gebt mir die Einladungen.«

»Natürlich, natürlich«, sagte Ciacas. »Ihr müsstet mich nur«, er sah auf die Hand an seinem Kragen, »loslassen. Ich habe sie oben.«

»Schickt jemanden.«

Ciacas schluckte und wandte sich dann einem der Diebe in den Schatten zu. »Liebes, würdest du bitte die Einladungen holen?«

Eine Frau löste sich aus der Dunkelheit, eilte durch den Raum und stieg die Treppe hoch.

»Das Schreiben sei für einen Grafen, sagtet Ihr?«, fragte Kematian.

Ciacas zog den Kopf ein. »Ja.«

»Dann werdet Ihr sie begleiten.«

Die Augen des Diebes weiteten sich. »Moment, ich?«, fragte er. »Was soll ich denn da? Begleitet sie doch selbst.«

»Nein«, sagte Kematian, begründete es aber nicht. Die einzige Erklärung, die Sorah einfiel, war, dass er nicht einmal einen Teil seiner Waffen ablegen würde, selbst wenn es sich um einen Auftrag handelte.

Der Rabe legte erneut eine Hand an sein Messer, aber ehe er es ziehen konnte, sprach Ciacas eilig: »Gut, gut, gut, ich füge mich. Habt Gnade. Ich bin doch nur ein einfacher Mann. Mein einziger Wunsch ist es, zu leben. Ich habe Frau und Kinder und ...«

Er runzelte die Stirn und jammerte dann weiter: »Ihr habt mich durchschaut: Ich habe weder Frau noch Kind – zumindest keines, von dem ich weiß. Aber lasst mich leben. Ich flehe Euch an. Ich würde sogar auf Knien vor Euch kriechen und mich unendlich dankbar zeigen, wenn Ihr mich verschont.«

Er brach ab, warf einen Blick auf Kematian und gab dann die unterwürfige Haltung auf. Er straffte die Schultern, behielt nur noch die Hände leicht erhoben.

»Ihr lasst Euch davon nicht beeindrucken, oder?«, fragte er.

Kematian schüttelte nur den Kopf.

»Ah, ja ... unangenehm«, sagte Ciacas. »Ihr hattet schon zu viel Kontakt mit Dieben, ich verstehe. Hätte ich mir gleich denken können, dass ...«

»Seid still«, sagte der Rabe.

»Meine Güte, seid Ihr unausstehlich«, gab Ciacas zurück. »Und nicht nur ein bisschen unausstehlich, nein, Ihr seid der unausstehlichste Rabe, den ich je getroffen habe. Ihr könnt mir doch nicht das Wort verbieten.«

Die Stufen der Treppe knarzten und die Diebin kehrte zurück. Kematian streckte schon seine Hand aus, aber sie überreichte die Einladung an Sorah und zog sich dann in die Schatten zurück.

Sorah trat nun an ihren Mentor heran und legte das Schriftstück in die ausgestreckte Hand.

»Du hättest ihn ruhig ein wenig länger hängen lassen können«, sagte Ciacas zu ihr. »Vielleicht sogar warten können, bis er darum bittet. Wenn du ihm immer sofort gibst, was er verlangt, wie soll er dann je deinen Wert erkennen? Und wie wirst du jemals deinen eigenen Wert erkennen?«

Kematian setzte schon dazu an, ihn wieder anzuweisen, still zu sein, aber Ciacas sprach weiter, ehe ein Wort den Mund des Raben verlassen konnte. »Ah, ich erinnere mich, Euer kleiner Kult will gar nicht, dass Ihr ein wenig Selbstwertgefühl bekommt ... oder auch nur für Euch selbst denken könnt.«

Sein Blick traf Kematians. »Ihr seid doch das beste Beispiel dafür.«

»Sorah«, sagte der Rabe.

Sie zuckte bei dem Wort zusammen. Er sprach sie selten mit ihrem Namen an.

»Geh«, sagte er. »Und sei morgen pünktlich.«

Ciacas lachte leise. »Ihr wollt nicht, dass sie mich noch länger reden hört? Dass ich sündhafte Gedanken in ihren Kopf pflanze? Dass sie erkennen könnte, dass sie sich den Falschen angeschlossen hat?«

»Geh«, wiederholte Kematian an Sorah gerichtet. Doch sie ... sie wollte nicht gehen. Wenn sie nicht hören sollte, was Ciacas sprach, wenn seine Worte Wahres trugen, dann wollte sie ihnen lauschen. Aber ein anderer Gedanke blitzte auf.

Tolas.

Kematian hatte ihr den Rest des Tages frei gegeben. Sie könnte versuchen, Tolas aufzusuchen und zu warnen.

Mit diesem Gedanken wandte sie sich ab und verließ das Diebesversteck. Ehe die Tür hinter ihr zuschlug, hörte sie Ciacas sagen: »Und da folgt sie.«

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