Die Ehre der Elstern I

Monatelang war Sorah jeden Tag früh aufgestanden und auch an diesem Morgen erwachte sie beim ersten Licht der Sonne.

Als sie aus dem Zimmer im Gasthaus trat, wartete Kematian schon auf sie. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und stand an die Wand gelehnt. Seine Miene gewohnt kühl, aber nicht mürrischer als gewöhnlich. Sorah nahm es als gutes Zeichen.

Durch die Art, wie er stand, fiel sein Umhang leicht zurück und enthüllte einen Teil der unzähligen Waffen, die er stets darunter versteckte.

Das Schwert, das er meistens zog, wenn sie in einen Kampf gerieten. Ein Dolch war direkt daneben befestigt und Sorah hatte sich immer gefragt, ob er wohl jemals die falsche Waffe von beiden gezückt hatte. Sicher nicht, aber die Vorstellung hatte ihr schon so manchen düsteren Tag erhellt.

Ein Dolch hing auch auf der anderen Seite, gemeinsam mit einem Beutel, den Sorah bisher ein einziges Mal bekommen hatte und danach nie wieder, weil sie beinahe gestorben war. Gift war darin enthalten.

In Beinholstern steckten Messer und Sorah war sicher, dass er noch mehr Waffen verbarg. Sie plante aber nicht, auf Tuchfühlung zu gehen, um herauszufinden, was sie alles unter dem Umhang entdecken würde.

Er stieß sich von der Wand ab und machte eine Handbewegung, um ihr anzuzeigen, dass sie ihm folgen sollte.

Er hatte es zwar nicht angesprochen, aber trotzdem beschlich Sorah das leise Gefühl, dass Kematian erkannt hatte, wie müde sie war. Dass er die Ringe unter ihren Augen und ihre Versuche, ein Gähnen zurückzuhalten, bemerkt hatte.

Sie verließen das Gasthaus und traten auf die Straßen Terbets. Kaum ein Mensch begegnete ihnen und daher kamen sie schnell voran.

Wohin sie gingen, wusste Sorah nicht, aber sie war auch zu beschäftigt damit, sich den letzten Rest des Schlafes aus den Augen zu reiben, und fragte Kematian nicht. Die Wahrscheinlichkeit war ohnehin hoch, dass er ihr nicht antworten würde.

Er blieb stehen.

Sorah machte einen Satz zur Seite, weil sie nicht rechtzeitig abbremsen konnte und wenn sie in ihn hineinlief, dann könnte sie sich auch gleich selbst zum Schafott führen.

Kematians Blick schweifte über die leere Straße und blieb an einer Gasse hängen.

Oh, nein, dachte Sorah. Sie wusste, was geschah, wenn er das machte.

Im nächsten Moment rannte er los. Sie folgte ihm und hatte eine leise Ahnung, was er gesehen hatte.

Nur leider war das Folgen gar nicht so leicht. Sorah hatte gerade den ersten Schritt gemacht, da sah sie nur noch den Zipfel seines Umhanges an der Ecke einer Gasse verschwinden.

Sie unterdrückte ein Fluchen und konzentrierte sich darauf, weiterzurennen. Sie durfte ihn nicht verlieren. Er würde sie verantwortlich machen, wenn sie ihn nicht im Blick behielt.

Lange musste sie aber nicht fürchten, dass sie ihn nicht mehr einholen würde. Kaum in der Gasse angekommen fand sie ihn wieder und er war stehen geblieben.

Am Kragen hatte er eine Gestalt in Schwarz gepackt und drückte sie gegen die Wand. Eine junge Frau, die nun die Hände gehoben hatte, um den Raben zu beruhigen.

»Ich werde ihm nichts sagen«, flüsterte sie. »Ich sag ihm nichts.«

Sorah holte die letzten Meter auf und blieb neben ihm stehen.

Die junge Frau war eine Diebin. Kematian reagierte nur so, wenn er einen Dieb in der Nähe bemerkte. Gewöhnlich hatte er sie stets umgebracht, ehe Sorah ihn wiedergefunden hatte.

Doch auch einen Wimpernschlag später lebte die Diebin noch. »Ich sag ihm nichts«, wiederholte sie. »Lasst mich nur gehen.«

»Ich unterbreite Euch ein Angebot«, sagte Kematian.

Die Diebin nickte hastig. »Alles, was Ihr wollt.«

»Gut«, sagte der Rabe, hielt sie aber weiterhin fest. »Wer führt Euch in der Stadt an?«

Sie schluckte. »C-Ciacas.«

Er deutete auf Sorah. »Bringt sie zu ihm und sorgt dafür, dass er ihr einige Fragen beantwortet.«

Wieder nickte die Diebin.

»Und kein Wort zu jemandem, dass Ihr mich gesehen habt.« Er ließ sie los.

»Natürlich, natürlich«, sagte sie, die Hände immer noch erhoben.

Kematian wandte sich an Sorah. Er holte eine Maske mit Rabenschnabel hervor und reichte sie ihr. Nun begann die Arbeit.

Jeder Rabe besaß eine solche Maske, aber sie selbst durfte ihre nicht bei sich tragen. Kematian entschied, wann sie arbeitete und wann nicht, und daher auch, wann sie ihre Maske tragen durfte und wann nicht.

»Ciacas ist ein kluger Mann, obwohl es meistens nicht so wirkt«, erklärte er. »Und er kann von Zeit zu Zeit sehr anstrengend sein, wird aber die Hände bei sich behalten, wenn du ihn nicht zu nah an dich heranlässt.«

Sorah schluckte. Ihr gefiel ganz und gar nicht, in welche Richtung seine Worte gingen. Woher kannte er überhaupt den Dieb?

»Frag ihn nach einem Weg in die Residenz des Fürsten«, sagte er. »Die Diebe kennen sich hier besser aus als wir.«

»Ihr begleitet mich nicht?«, fragte sie, ihre Stimme brüchig. Die Diebe waren die Feinde. Er konnte sie doch nicht in die Höhle des Löwen schicken. Nicht schon wieder.

Kematian schüttelte den Kopf. »Wenn du fertig bist, dann triff mich bei der Residenz.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und verschwand aus der Gasse.

Sorah sah ihm noch einen Augenblick nach, in der Hoffnung, dass er wieder auftauchen würde und es sich nur um einen Scherz handelte. Aber er scherzte nicht – nie, um genau zu sein.

Sie zog sich die Maske auf und folgte der Diebin.

»Nette Begleitung hast du da«, bemühte sich die junge Frau an einer lockeren Unterhaltung, aber Sorah antwortete ihr nicht und daher ließ sie ihre Versuche schnell wieder fallen.

Das Diebesversteck war von Außen kaum als solches zu erkennen. Das Haus glich den anderen Gebäuden in der Straße. Zwar waren die Fensterrahmen nicht mit Gold geschmückt, aber Säulen hielten ein Vordach und umrahmten die Wand.

Das Gras im Garten war getrimmt. Hier und da entsprossen Sträucher der Erde, einige blühten in Rot, andere in Weiß und wieder andere in Violett oder Gelb.

Der einzige Unterschied: Im Inneren hingen dunkle Vorhänge vor den Fenstern und versperrten jeden Blick.

Die Diebin öffnete die Tür und ließ Sorah ein. Schummeriges Licht erhellte den Raum und dicke Rauchschwaden hingen in der Luft. Mehrere Diebe saßen im Zimmer, einige mit Pfeifen in der Hand, und unterhielten sich darüber, welche Beute sie in der Nacht beschafft hatten.

Sorah hatte nichts anderes erwartet. Diebe verschanzten sich in irgendwelchen Häusern und betrachteten es meist als ihre einzige Aufgabe, den Raben auf die Nerven zu gehen.

»Oh, Scheiße.« Einer der Diebe zog sich seine Kapuze über den Kopf und sprang auf die Füße. »Ein Rabe?«

Im schummrigen Licht und im Schatten der Kapuze konnte Sorah sein Aussehen nur erahnen. Einzig die zusammengepressten Lippen und das schlecht rasierte Kinn sah sie. Innerlich ohrfeigte sie sich, dass sie ihn nicht vorher gemustert hatte.

»Ich will keinen Ärger«, ergriff sie das Wort, ehe die Situation ausarten konnte. »Ich möchte lediglich Informationen.«

»Das sagen sie alle«, gab der Dieb zurück, »und am Ende schneiden sie einem die Kehle durch. Ist mir oft genug passiert.«

Sorah bezweifelte, dass ihm schon mal ein Rabe die Kehle durchgeschnitten hatte. Aus ... offensichtlichen Gründen.

»Ihr nennt Euch Ciacas, richtig?«, fragte Sorah.

Sie konnte sein Augenrollen zwar nicht sehen, aber förmlich hören. »Warum hast du sie hergebracht«, fragte er die Diebin.

Diese zuckte mit den Schultern. »Du weißt doch, dass ich der Bitte einer hübschen Frau nicht widerstehen kann.«

Oder der Bitte eines grummeligen Raben, schon klar, dachte Sorah. Aber besser sie log ihre Diebeskameraden an, als dass sie Kematian verriet. Weshalb auch immer er unbedingt unentdeckt bleiben wollte.

Der Dieb stieß ein Schnauben aus. »Wie dem auch sei«, sagte er und wandte sich an Sorah. »Ja, mich nennt man Ciacas. Was wollt Ihr wissen?«

Das war einfacher, als sie erwartet hatte. Sie war davon ausgegangen, dass ...

»Was?«, fragte Ciacas und unterbrach damit ihre Gedanken. »Habt Ihr gedacht, wir würden uns sofort auf Euch stürzen und versuchen, Euch umzubringen?«

Ihre Miene verfinsterte sich hinter der Maske. Genau das hatte sie erwartet.

Irgendetwas in ihren Augen verriet dem Dieb ihren Unmut darüber, dass er sie so leicht lesen konnte. Er lachte leise auf.

»Wir sind Diebe und keine Mörder«, sagte er. »Was glaubt Ihr, weshalb Eure kleine Organisation noch existiert? Wir sind Euch zahlenmäßig weit überlegen und auch um vieles intelligenter als Euresgleichen.«

Sie hatte jetzt schon keine Lust mehr, sich mit ihm zu unterhalten.

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