Verrat unter Verrätern I
Wenige Minuten später standen Ejahl und Kematian schon auf den Straßen Cyrills und suchten nach Hinweisen zu Vs Verbleib.
»Hättest du ihr nicht auch folgen und sie zurückbringen können?« fragte Ejahl. Nicht, dass er es wirklich von dem Raben erwartet hätte. Sofern dieser nicht der Meinung wäre, dass sich V in unmittelbarer Gefahr befände, hätte er sich die Mühe nicht gemacht.
»Ich habe es versucht«, sagte Kematian.
»Oh?«
»Aber sie hat mich entdeckt und ist fortgelaufen.«
»Und du hast sie nicht einholen können?«
Kematian schüttelte den Kopf. »Sie ist schnell.«
»Sie ist achtzehn.« Ejahl beugte sich zu ihm. »Wie könnte so ein junges Mädchen dem großen bösen Wolf entkommen?«
Kematians Miene verfinsterte sich. »Sie ist schnell«, wiederholte er.
Ejahl musterte ihn. Es lag nicht in der Natur des Raben, zu lügen, aber seine Worte für wahr zu halten, klang zu weit hergeholt.
»Ich sage die Wahrheit«, sprach Kematian. »Sie entkam mir bereits einmal, als ich sie das erste Mal traf. Vor dem Herrenhaus, in dem Lloyd gelebt hatte, hatte ich sie aufgeschnappt, ließ sie aber in einem Moment der Unaufmerksamkeit gehen, da dein Geruch an ihr haftete. Danach folgte ich ihr und versuchte, sie einzuholen, aber sie entkam mir.«
»Faszinierend«, sagte Ejahl und ergänzte nach einigen Augenblicken des Schweigens: »Dass du so viel auf einmal gesagt hast. Das waren sogar ganze Sätze.«
Kematian brummte nur als Antwort und Ejahl lachte leise, ehe er erneut das Wort ergriff: »Magst du mir deine Hand geben?«
Der Rabe runzelte die Stirn. »Nein.«
»Ach, kommt schon. Händchenhalten ist doch nun wirklich das Anständigste unter all dem, was wir bereits gemacht haben. Wovor fürchtest du dich? Vor mir?«
Kematian blieb für einige Sekunden stumm, dann seufzte er und hielt ihm seine Hand entgegen.
Es funktioniert? Es funktioniert!, dachte Ejahl. Er hatte kaum erwartet, dass der Rabe auf ihn eingehen würde. Ohne noch länger zu zögern, griff er nach der Hand – Kematian sollte schließlich keine Zeit haben, es sich anders zu überlegen – und verschränkte die Finger in seine.
Er gab sich alle Mühe, nicht auf und ab zu hüpfen, und stattdessen normal weiterzugehen. Denn eigentlich hatte er gemeint, was er gesagt hatte: Was sollte bei Händchenhalten schon dabei sein?
»Du bist zu glücklich darüber«, kommentierte Kematian.
»Ich? Glücklich? Gar nicht.«
»Mhm«, brummte Kematian. »Das sehe ich.«
Trotz seiner grummeligen Art erkannte Ejahl eine Veränderung an ihm. Ein Glitzern in den grauen Augen, das vielleicht aber nur eine Spiegelung der Abendsonne war.
»Ich hätte dir Ava nicht anvertraut, wenn ich gedacht hätte, dass du ein schlechter Vater wärst«, sagte Kematian.
Ejahl sah zu ihm, aber dieser schwieg und behielt den Blick weiterhin starr nach vorn gerichtet. Es wäre alles einfacher, wenn er öfter sagen würde, was er dachte.
»Es ist nicht so, als hättest du viele andere Möglichkeiten gehabt.« Ejahl hob Kematians Hand zu seinen Lippen und drückte einen sanften Kuss auf den Knöchel des Ringfingers.
Der Rabe stieß ein leises Knurren aus und Ejahl lachte. »Ich weiß, ich weiß«, sagte er. »Ich bin froh, dass du versuchst, mich aufzumuntern. Aber weißt du, was mich noch mehr aufmuntern würde?«
»Ava zu finden«, sagte Kematian.
»Auch, aber das meinte ich nicht.«
»V zu finden.«
Manchmal fragte sich Ejahl, ob der Rabe wirklich so stumpfsinnig war oder nur so tat. »Auch«, sagte er, »aber eigentlich dachte ich dass du .. oder eher, dass wir –«
»Nein« unterbrach Kematian ihn.
Ejahl seufzte leise. »Wie du meinst.« Er sollte sein Glück nicht zu sehr strapazieren. »Sie verdächtigen dich jetzt schon, nicht wahr? Die Raben?« Ihm war nicht entgangen, dass Kematians Blick oft zu den Dächern schweifte.
Dieser nickte als Antwort.
»Und sie warten nur darauf, dass du einen Fehltritt machst?« Einen Fehltritt, wie händchenhaltend mit dem Meisterdieb in Cyrill gesehen zu werden.
Wieder nickte er.
»Schon seit Ava nicht mehr bei dir ist, versuchen sie etwas anderes zu finden, mit dem sie dich kontrollieren können?«
Diesmal nickte er nicht, aber sein Blick verdunkelte sich, da er erkannte, dass Ejahl ihn wie ein offenes Buch lesen konnte.
»Gut, dass ich nicht so leicht zu fangen bin.«
Es heiterte Kematian nicht auf. Im Gegenteil sogar. Er ließ Ejahls Hand los, als hätte er sich an ihr verbrannt.
Kurz zog sich Ejahls Herz schmerzhaft zusammen, dann aber stellten sich seine Nackenhaare auf und er erkannte, weshalb Kematian ihn losgelassen hatte.
Sie wurden beobachtet.
Vor ihnen landete eine Gestalt in Schwarz, hinter ihnen drei weitere. Sie hatten gezielt nach ihnen gesucht, aber Ejahl maßte sich nicht an, zu wissen, wie viel sie gesehen hatten.
»Sieh an, sieh an«, sagte diejenige, vor ihnen. Einige braune Strähnen lugten unter der Kapuze hervor, aber ihr Gesicht selbst lag im Dunkeln. »Wen haben wir denn da?«
»Ejahl«, stellte er sich vor und schenkte ihr sein wieseligstes Lächeln. Es war überflüssig, noch irgendetwas abzustreiten. »Ich bin mir sicher, Ihr habt schon von mir gehört.«
Die Kapuze drehte sich ein Stück zu ihm. »Nein.« Sie richtete sich wieder auf Kematian. »Wer ist das?«
Ejahl ignorierte den Stich in seinem Herzen. Eigentlich hatte er erwartet, dass er bei den Raben in aller Munde war.
»Das hat er gerade gesagt«, erwiderte Kematian.
»Ihr wisst, was ich meine.« Nur selten wagte es jemand, in einem solchen Ton mit ihm zu sprechen. Die meisten Raben wichen ihm lieber aus, aber es gab einige wenige, die erkannt hatten, dass er ihnen nicht schaden durfte, denn unter den Attentätern herrschten gewisse Regeln, an die sich jeder – selbst er – zu halten hatten.
»Es ist wirklich eine Tragödie, dass ihr mich nicht kennt«, sagte Ejahl.
Die Frau schnalzte abschätzig mit der Zunge und schenkte ihm nicht einmal einen Blick.
»Dann könntet Ihr Eure Fragen nämlich ganz allein beantworten.« Er wandte sich an Kematian. »Habt Ihr bei den Raben nie über mich gesprochen?«
»Nicht mit Namen«, antwortete Kematian. »Zumindest nicht in ihrer Generation.«
»Wer ist das?«, wiederholte die Frau, diesmal deutlich ungehaltener. Niemand wurde gern ignoriert.
»Wisst Ihr, meine Liebe«, sagte Ejahl. »Ich wäre einst beinahe selbst ein Rabe geworden, aber es gab zu viele Regeln und die Arbeit war mir zu leicht. Wo ist schon die Herausforderung, wenn –«
Ein Surren an seinem rechten Ohr ließ ihn verstummen. Er machte einen Satz zur Seite. In einer geübten Bewegung zog er seinen Dolch, drehte sich hinter den Angreifer und hielt ihm die Schneide an die Kehle.
Die verbliebenen beiden Raben zogen ihre Schwerter und der Anführerin steckte derweil eines von Kematians Messern im Hals. Er hatte nicht so lange gezögert wie der Meisterdieb.
Ejahl fluchte kurz in sich hinein und ließ seine Klinge über die Kehle des Raben fahren, den er hielt. Blut benetzte den kalten Stahl und mit einem Gurgeln ging der Angreifer zu Boden.
Der dritte Rabe stürzte auf Kematian los, aber dieser wich dem Schwerthieb mühelos aus und schlug ihm gegen die Hand. Ein Knacken ertönte, dann ein Aufschrei und metallisches Klirren, als die Waffe auf den Boden traf.
Kematian umfasste dessen Kopf und ließ ihn gegen die Wand donnern.
Einmal. Der Angreifer schrie auf. Er schlug in alle Richtungen um sich, konnte sich aber nicht befreien.
Zweimal. Das dumpfe Aufschlagen wandelte sich zu einem matschigen Schmatzen.
Dreimal. Ein Knacken. Der Körper erschlaffte.
Kematian ließ ihn los und wandte sich zu dem letzten Raben.
Das Schwert hatte sie noch erhoben, aber ihre Hand zitterte. Ein Küken, das zum ersten Mal das schützende Nest verlassen hatte.
Die Luft war geschwängert von metallischem Geruch, das Blut lag warm auf seinen Händen, empfing ihn wie die Umarmung eines Liebsten.
Wenn er auch die Verbliebene tötete, dann war sein Geheimnis sicher. Oder war es das? Ein anderer Geruch mischte sich in das Blut. Geruch nach der Wärme des Feuers und dem Tau im Gras.
Er machte einen Schritt auf das Küken zu.
Ejahl stellte sich zwischen ihn und sein Ziel, den Rücken zu Kematian gewandt, und er schenkte dem Küken ein Lächeln. »Du brauchst doch wirklich keine Angst zu haben. Ich bin mir sicher, wir finden eine Übereinkunft.«
Kematian brummte nur missmutig, um deutlich zu machen, wie wenig er an einem Kompromiss interessiert war.
Das Küken sah von Ejahl zu Kematian und zurück zu Ejahl. Das Lächeln des Diebes wurde breiter.
»Sieh es so, Kleine«, sagte er, »wir waren nicht diejenigen, die angegriffen haben. Das macht uns zu den Guten, oder etwa nicht?«
Blut tropfte von Kematians Fingerspitzen. Er machte sich nicht die Mühe, sich die Hände abzuwischen.
Das Küken schluckte und ließ das Schwert sinken.
»Gute Entscheidung«, sagte Ejahl. Er wandte seine Aufmerksamkeit an Kematian, blieb aber zu dem Küken gerichtet stehen. »Warum genau hast du sie umgebracht?« Es waren schließlich seine Kameraden gewesen. Und auch wenn er keinerlei Bindung zu ihnen hätte, so hätte er es doch einfach früher machen können. Warum hatte er bis jetzt gewartet?
»Sie haben das Mädchen«, sagte Kematian.
Ejahl sog scharf Luft ein. Natürlich war V in die Arme der Raben gelaufen. Natürlich war das Schlimmstmögliche passiert.
»Wo ist sie?«, fragte er das Küken.
»Wer?«, piepste es.
Ejahl seufzte leise. Ihm hätte bewusst sein sollen, dass ein Küken nichts wusste. »Im Nest?« Diese Frage richtete er wieder an Kematian.
»Vermutlich.«
»Wie sehr genau hängst du an deinem Schwarm?«
»Musst du das wirklich noch fragen?«
»Ich will nur sichergehen.« Ejahl zuckte mit den Schultern. »Ansonsten plusterst du nachher deine Federchen auf, weil du mit meiner Entscheidung unzufrieden bist.«
Kematian brummte nur leise.
Ejahl räusperte sich, um ein Lachen zu unterdrücken, ehe er sich wieder an das Küken wandte. »Du weißt also nichts?«
Sie nickte hastig.
»Dann geh. Und lass mich dir einen Rat geben: In dieser Stadt wird es bald sehr unschön werden, also reise lieber weit fort, bevor die Raben noch denken, dass du sie verraten hättest und an den Galgen gehörst. Ich nehme an, du weißt, was sie mit Verrätern machen.«
Sie nickte, diesmal nicht mehr so eifrig.
»Dann husch, husch, ehe sie dich finden.« Ejahl trat einen Schritt zur Seite und ließ sie vorbei. Eine weitere Aufforderung brauchte sie nicht und rannte los.
»Wir hätten sie nicht gehen lassen sollen«, sagte Kematian und wischte sich das Blut an den Händen am Umhang ab, während er dem Küken noch zusah, wie es um die nächste Ecke verschwand.
»Wenn du dich damit besser fühlst: Ich habe sie gehen lassen. Nicht du.«
Kematian brummte nur etwas Unverständliches, das Ejahl als sein übliches ›Sei froh, dass ich dir nicht den Kopf abreiße‹ interpretierte und so hinnahm.
»Aber zurück zum Eigentlichen«, sagte Ejahl. »Warum hast du sie umgebracht? Hier gibt es zwar ab und an mal tote Raben, weil einer meiner Diebe sich gewehrt hat, aber du hinterlässt doch sehr ... deutliche Spuren.« Sein Blick schweifte zu dem Raben, dessen Kopf kaum mehr als solcher zu erkennen war. »Sie werden wissen, dass du es warst.«
»Sie haben zuerst angegriffen und sie haben das Mädchen.«
»Das ist nicht alles.«
Kematian stieß ein Schnauben aus. »Wir sollten uns auf den Weg machen.« Er setzte sich in Bewegung und beendete damit die Unterhaltung.
Seine Ablehnung verriet Ejahl alles, was er wissen musste. Sie hatten nur wenige Minuten zuvor darüber gesprochen, dass die Raben nur auf einen Fehltritt Kematians warteten. Und dies war soeben geschehen.
Ejahl holte zu dem Raben auf. »Damit erübrigt sich die Frage, wie sehr du noch an ihnen hängst.«
»Hm«, machte Kematian nur. Nach einer Weile fragte er: »Du hast einen Plan?«
»›Plan‹ ist ein großes Wort. Ich habe ein paar Ideen.«
Kematian warf ihm einen Blick von der Seite zu.
»Zuerst einmal sollten wir versuchen, freundlich anzuklopfen und eine zivilisierte Unterhaltung zu führen.«
Der Rabe blieb abrupt stehen und wandte sich zu ihm, aber Ejahl ließ sich von der Reaktion nicht beirren und zuckte mit den Schultern.
»Es hat doch noch nie jemanden umgebracht, freundlich zu sein«, meinte er, auch wenn er wusste, wie wenig Wahrheit seine Worte enthielten.
Der Rabe brummte nur als Antwort.
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