Mit Blut benetzt ist die kalte Seele I

»Keine Bewegung«, knurrte eine Stimme. Dunkle Stiefel tauchten auf, als die zierliche Gestalt weiter die Stufen hinunterstieg. Keiner ihrer Schritte machte einen Laut, nur das Knarzen der Treppe verriet sie.

Den Stiefeln folgte ein dunkler Umhang, ein Gürtel, an dem ein Langschwert und ein Messer befestigt waren, und der Bogen aus dunklem Holz, der weiterhin gespannt war. Und letztlich das Gesicht einer jungen Frau, das von roten Locken umrahmt war.

»Sorah«, hauchte V. Ein eiskalter Blick aus den grünen Augen durchbohrte sie und instinktiv wich sie einen Schritt zurück.

»Du kennst sie?«, flüsterte Ava.

»Nicht wirklich«, antwortete V. »Eher ... aus Versehen.«

Sorah schnalzte verärgert mit der Zunge und ließ den Bogen sinken. »Ich weiß nicht, was ihr hier wollt, aber ihr solltet verschwinden.«

Zwischen Avas Augenbrauen entstand eine Furche. »Dasselbe könnte ich über dich sagen«, meinte sie. »Das hier ist mein Zuhause.«

Sorahs Hand an ihrem Bogen zitterte, so fest schlossen sich ihre Finger um das Holz. Trotzdem klangen ihre Worte gefasst und nur von einem leisen Hauch des Zorns unterstrichen. »Ich glaube dir nicht. Es ist Zeit für euch, zu gehen.«

V schluckte. Auch, wenn Sorah sie einst gerettet hatte, war die junge Frau trotzdem ein Rabe und dazu fähig, ohne Zögern zu töten. »Ava, wir sollten ...«

»Ava?«, echote Sorah und neigte den Kopf. »Du bist Kematians Tochter.«

»Das sagte ich doch«, meinte Ava. »Dies ist mein Zuhause.«

Kurz beäugte die Attentäterin beide Mädchen, dann schüttelte sie den Kopf. »Das ändert nichts. Allein mit eurem Auftauchen habt ihr ihn und euch und mich unnötig in Gefahr gebracht. Ihr habt vermutlich nicht einmal darauf geachtet, dass ihr nicht verfolgt werdet. Also geht jetzt, bevor es zu spät ist.«

»Aber ...« V schob sich einen Schritt vor. »Warum habt Ihr mich gerettet?«

»Ist das nicht unwichtig?«, fragte Sorah. »Nenne es von mir aus die Güte meines Herzens, doch ich kann meinen Fehler jederzeit rückgängig machen, wenn du darauf bestehst, mir noch länger auf die Nerven zu gehen.«

V hob die Hände und nickte.

Ava warf der Attentäterin noch einen letzten finsteren Blick zu, dann ließ sie sich aber überreden. Erst draußen ergriff sie wieder das Wort. »Ich hoffe, du weißt, dass mich interessiert, woher du sie kennst.«

»Ich weiß«, meinte V und nickte. »Ich erzähle es dir, wenn wir wieder in Sicherheit sind.«

Die Sonne verzog sich hinter dichten, finsteren Wolken und kühler Wind zog auf. Vs Nackenhaare stellten sich auf und ein Schauer rann ihr über den Rücken.

Schnellen Schrittes verließen sie die Oberstadt und betraten das heruntergekommene Viertel, in dem das Diebesversteck errichtet war. Die Zuflucht jedoch erreichten sie nicht.

Eine Hand griff nach Vs Arm. Instinktiv wollte sie sich losreißen, aber ihr Blick fiel auf große rehbraune Augen.

»Jeanne«, flüsterte sie. Die Beklemmung, die ihr Herz gepackt hatte, verschwand, und ihre Brust füllte sich mit Wärme.

»Keine Zeit für lange Begrüßungen«, meinte die Diebin. »Nicht direkt zum Versteck zurück. Mir folgen.«

V kam ihrer Anweisung ohne Zögern nach. Eine Gänsehaut legte sich in ihren Nacken, die nicht nur dem kühlen Wetter entsprang. »Die Raben?«, flüsterte sie Jeanne entgegen.

Die Diebin nickte. »Sie sind euch beiden gefolgt und wir sollten sie besser nicht zu unserem Versteck führen.«

Eine leise Stimme meldete sich in Vs Kopf und meinte, dass sie hätten vorsichtiger sein müssen. Hätte Jeanne sie nicht aufgehalten, dann hätten sie die Raben auf dem direkten Wege zu den Dieben geführt.

»Kannst du mir zeigen, wo sie sind?« V hatte ihren Beschluss noch nicht gänzlich gefasst, da sprach sie die Worte schon aus. So hielt sie sich davon ab, einen Rückzieher zu machen.

Jeanne stockte. »Könnte ich. Was hast du vor?«

»Ich bin schnell«, sagte V. Es überraschte sie selbst, wie fest ihre Stimme klang. »Ich könnte sie irgendwo anders hinführen und dann abhängen, sodass Ava und du euch in Sicherheit bringen könnt.«

»Der Plan gefällt mir nicht«, sagte Jeanne.

»Mir auch nicht«, kam von Ava.

»Es ist das Einfachste«, meinte V. »Und sie werden mich schon nicht fangen. Den Wachen neulich wäre ich auch ganz locker entkommen.« Wäre sie nicht in eine Sackgasse gerannt.

»Das waren aber keine Raben.« Jeanne knirschte mit den Zähnen.

»Ich schaffe das.«

Einige Sekunden vergingen in Stille, ehe Jeanne meinte: »In Ordnung. Vielleicht hast du recht.« Sie deutete eine Gasse hinab. »Zwei Straßen weiter sind sie. Auf den Dächern.«

»Auf den Dächern? Einfach so?«, hakte V nach. »Da könnte sie doch jeder sehen.«

»Nur Mörder und Diebe schauen ab und an mal nach oben. Die gewöhnlichen Menschen bemerken nur, was sich direkt vor ihnen befindet.«

Das musste V als Erklärung reichen. »Alles klar«, meinte sie. »Wir sehen uns später.«

»Pass auf dich auf«, sagte Jeanne noch und winkte ihr nach, als sie hinter einer Häuserecke verschwand.

V atmete tief durch. Keinen Rückzieher machen, sagte sie sich. Sie war schnell, war doch mehrfach schon Kematian entkommen. Solange sie nicht überrascht wurde, würde alles gut gehen.

Ihr Blick war auf den Rand der Dächer gerichtet und dann – zwei Straßen weiter, wie Jeanne gesagt hatte – fand sie, wen sie suchte. Zwei Männer und eine Frau, alle in Schwarz gekleidet, aber nur einer trug die Rabenmaske.

V formte mit ihren Händen einen Trichter vor ihrem Mund. »HEY, IHR ...« Wie könnte sie die Aufmerksamkeit der Attentäter am besten auf sich ziehen? »IHR SPATZEN!«

Die Raben hielten im Lauf inne. Drei Augenpaare richteten sich auf V.

Ihr Herz setzte einen Schlag aus. So weit hatte sie nicht über ihr Vorhaben nachgedacht. »Ich habe keine Angst vor Euch!« Das Blut in ihren Ohren rauschte und ihre Knie bebten.

»Also kommt doch und holt mich, wenn Ihr könnt!«

Die Raben setzten sich in Bewegung.

V wartete nicht, bis sie zu ihr auf den Boden gelangten. Sie wirbelte herum und rannte. Gassen flogen an ihr vorbei, Fenster und Mauerwerk nichts als Schlieren.

Verdammt. Sie hätte es wirklich besser durchdenken, hätte gar nicht auf die Idee kommen sollen. Wer dachte schon so etwas? Ach, es sind doch nur Raben. Wie schwer kann es sein, denen zu entkommen? Und selbst, wenn sie mich einholen, was ist das Schlimmste, das mir passieren kann? Sie würden mich doch nur umbringen.

V schüttelte die Gedanken aus ihrem Kopf und konzentrierte sich auf das Laufen. Sie passierte Gasse um Gasse, Haus um Haus. Die Schatten, die über ihr gelastet hatten, verschwanden, aber sie erlaubte sich noch nicht, durchzuatmen. Die Raben könnten weiterhin in der Nähe sein.

Sie bog in eine Seitenstraße ein. Die Luft wurde kälter und kühlte Vs mittlerweile erhitzte Haut.

Ein Schatten über ihr, dann landete er vor ihr. Unverkennbar ein Rabe. Die Maske verdeckte sein Gesicht, der Umhang war aus schwarzen Federn gefertigt.

»Wer will denn da flüchten?«, fragte er und neigte den Kopf.

V antwortete ihm nicht. Sie wandte sich ab und rannte los, warf keinen Blick zurück, denn diese Sekunde könnte über Entkommen oder Gefangenwerden entscheiden.

Sie nahm nicht den Weg, den sie gekommen war, sondern bog in eine andere Straße ab. Nach nur wenigen Metern erblickte sie eine junge Frau in schwarzer enganliegender Lederrüstung. Ihre braunen Haare fielen ihr in Wellen über die Schultern und spitze Ohren lugten hinter den Strähnen hervor. Fast gelangweilt drehte sie ein Messer in ihrer Hand, aber als ihr Blick auf V fiel, verzogen sich ihre Lippen zu einem teuflischen Lächeln.

Kalt kroch es V den Rücken hinab, denn die Elfin, die ihr gegenüberstand, war unter den Raben auf dem Dach gewesen.

Sie wirbelte herum, wollte schon lossprinten, doch erstarrte, ehe sie gegen den Mann, der hinter ihr aufgetaucht war, stoßen konnte.

Ein langer schwarzer Mantel lag über seinen Schultern und auf den ersten Blick wirkte er unbewaffnet. Trotzdem wich V zurück, besann sich aber, stehen zu bleiben, ehe sie zu nah an der Elfin war. Nächstes Mal sollte sie mehrfach darüber nachdenken, bevor sie sich zu so einer dummen Idee bereit erklärte ... falls es überhaupt ein nächstes Mal geben würde.

Ein leises Seufzen zog sich von den Lippen des Raben und er schüttelte leicht den Kopf. Erst dann wandte er sich ihr zu und schenkte ihr ein Lächeln.

Seine Erscheinung schien eher die eines vornehmen Mannes als eines Raben. Die Kleidung – zusätzlich zu dem Mantel trug er eine schwarze Hose, ein schwarzes Hemd und darüber eine dunkelgraue Weste – war frei von Staub und Falten. Sein Kinn war sauber rasiert und keine Narbe zeigte sich auf seiner Haut. Auf seiner Nase war ein leichter Höcker, der seinem Aussehen nur noch mehr Präsenz gab, und seine dunklen Haare waren ordentlich zusammengebunden.

V schätzte ihn auf etwa dreißig. Sie hätte ihn als ansehnlich beschreiben können, würde seine bloße Anwesenheit nicht kalte Angst in ihre Glieder schicken.

Bei ihrer Musterung blieb ihr Blick an seinen dunklen Augen hängen, die sie bannten, als wäre sie ein Hase beim Anblick eines Wolfes, und sie konnte sich nicht länger von ihm abwenden. Nicht einmal, als sie hörte, wie ein weiterer Rabe hinter ihr zu Boden sprang.

»Sag, mein Vögelchen, weshalb versuchtest du, uns zu entfliehen?«, fragte er. Seine Stimme durchdrang jeden Knochen in Vs Körper und sie erschauderte. »Für deine Angst gibt es doch wahrhaft keinen Grund.«

Ein anderer Rabe klinkte sich ein: »Ist das nicht egal?«, fragte er. »Sie gehört zu den Dieben. Warum –«

Derjenige vor V hob eine Hand und schnitt dem anderen damit das Wort ab. »Weil ich sage, was wir machen.« Obwohl er mit seinem Kameraden sprach, wandte er den Blick nicht von V ab.

Seine dunklen Augen flackerten für einen Moment auf. Goldene Funken stoben in einem Meer aus Silber. Hohe Wellen erhoben sich und verschlangen all die eisige Furcht, all die Angst, die Vs Herz wie eine kalte Hand packte.

Was zurückblieb, war die laue Brise an einem heißen Sommertag, das flackernde Feuer in einer warmen Stube, wenn draußen ein Schneesturm wütete.

»Wir können uns doch ganz zivilisiert unterhalten«, sagte er. »Ohne dass du weiter fliehen oder einen Kampf fürchten musst.« Er winkte sie zu sich heran.

Ihre Beine bewegten sich wie von selbst und sie ließ die Wärme in ihr Herz. Wie eine wohlige Berührung auf ihrer Wange, ein sanfter Kuss auf ihrer Stirn.

»Ich sehe dich, mein Kind. Verstecke dich nicht länger.«

Die Gestalt vor ihren Augen verschwamm und Nässe rollte über ihre erhitzten Wangen.

Nur einen Moment später riss sich die Wärme von ihr los und es war, als würde sie in kaltes Wasser gestoßen werden. Jede Geborgenheit und das Gefühl, dass sich jemand auf dieser Welt um sie kümmerte, verschwand.

Stattdessen schlug Kälte ihre Nägel in Vs Herz und flößte ihr Zweifel und Angst ein. Nun, umso mehr, da sie für nur wenige Augenblicke von ihnen befreit gewesen war.

Der Rabe taumelte zurück und griff sich an die Stirn. Blut rann zwischen seinen Fingern entlang. Er schüttelte die Benommenheit ab und sah auf das nahe Dach.

Ejahl warf einen Stein in seiner Hand auf und ab. »Nächstes Mal ziele ich besser.« An seiner Seite stand Kematian, eine Hand auf den Griff seines Schwertes gelegt, bereit es jederzeit zu zücken.

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