In Staub und Knochen II

Kematian ließ beide wieder auf den Boden. Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah auf sie nieder.

»Wir waren auf der Suche nach Euch«, sagte Eugene und entzündete ein Streichholz, das flackernde Schatten an die Wände warf.

»Ihr habt mich gefunden, also geht wieder«, sagte Kematian.

»Aber –«, ergriff Sorah das Wort, doch der stechende Blick des Raben brachte sie zum Schweigen.

»Ich dulde keine Widerworte«, sagte er. »Geht.«

»Ihr könnt es doch unmöglich allein mit den Raben auf Euch nehmen«, meinte Eugene, nachdem Sorah nichts mehr erwiderte, sich aber auch nicht vom Fleck bewegte. »Wir können Euch helfen.«

Kematian stieß ein leises, fast animalisches Knurren aus. »Auch von dir dulde ich keine Widerrede«, sagte er. »Und wenn ich euch beide eigenhändig hinausschleifen muss, dann werde ich es tun.«

Er wollte erneut nach Sorahs Kragen greifen, aber sie wich aus. »Ich bin nicht länger die Eure«, sagte sie. »Ihr könnt mir nichts befehlen.« Sie stockte und wunderte sich, aus welcher Ecke ihr Mut auf einmal gekrochen war, da erzitterte die Erde.

Sie konnte sich nicht auf den Füßen halten und krachte zu Boden, Eugene fiel neben ihr und nur Kematian gelang es, sich an der Wand abzustützen. In seinen Augen glomm etwas auf, das Sorah zunächst für Wut hielt, doch lang nicht so heiß glühte.

»Geht«, sagte er. »Bevor es zu spät ist.«

Schritte füllten den Korridor an. Nicht nur ein oder zwei Paar, sondern mindestens ein Dutzend. Lichtschein flackerte an den Wänden und Umrisse traten um die Ecke. Sie erstarrten, als sie auf die Anwesenden blickten.

Es war zu spät.

»Ihr seid doch alle wahnsinnig«, entfuhr es Niellen. Die anfängliche Überraschung verschwand, als er seine Miene wieder unter Kontrolle brachte. Begleitet war er von etwa einem Dutzend Raben. Aedal fehlte unter ihnen.

»Wir können uns gern weiter bekämpfen, sobald wir die Katakomben verlassen haben«, sagte er. »Aber wenn wir nicht bald gehen, bricht alles über unseren Köpfen zusammen.«

»Geht«, sagte Kematian erneut an Eugene und Sorah gewandt. Dann drehte er sich zu Niellen und zog sein Schwert. »Ich werde Euch nicht entkommen lassen.«

Ein Zupfen an ihrem Ärmel holte Sorah in die Realität zurück. »Wir sollten wirklich gehen«, sagte Eugene. »Ich bin mir sicher, Kematian wird überleben, aber wir nicht, wenn wir uns hier unten begraben lassen.«

Sie sah noch einmal zu Niellen. Sein Blick war auf Kematians Schwert gerichtet und verhärtete sich nun.

»Wie Ihr wünscht«, sagte er. Er drückte dem Raben neben sich die Fackel in die Hand und zückte seinen Degen. »Ich gab Euch genug Chancen, aber Ihr nahmt keine von ihnen wahr. Dann endet es hier.«

Bevor die Klingen aufeinandertrafen, wandte sich Sorah ab und rannte Eugene hinterher. Steine rieselten von der Decke, erst fingernagel-, später faustgroß.

Leise Schritte in der Dunkelheit. Scharfes Pfeifen, als die Luft durchtrennt wurde. Ein Geräusch, dass Sorah nur zu gut kannte.

Ihre Arme schlossen sich um Eugene und sie riss ihn mit sich zu Boden, kurz bevor die Metallspitze eines Pfeils an der Wand neben ihr abprallte und auf den Steinboden schepperte.

Das Licht erlosch.

Sorah hörte das leise Schaben, als der Angreifer einen weiteren Pfeil anlegte. Ein Knurren formte sich in ihrer Brust. Sie hatte Kematian nicht den Rücken zugewandt, damit sie nun von irgendeinem Unbekannten umgebracht wurde.

Mehr aus Instinkt als mit klarem Verstand sprang sie auf die Füße. Ihre Augen konnten ihr in diesem Kampf nicht helfen, ihre Ohren waren dafür umso geschärfter. Leises Rasseln des Gerölls, Kratzen, als der Angreifer die Position der Füße änderte, um sich erneut in Stellung zu bringen, den Bogen neu zu spannen.

Nur wenige Meter vor ihr.

Sie rannte los. Ihr Körper wusste, was er zu tun hatte, ohne dass sie ihm genaue Befehle geben musste.

Das leichte Knarzen des Holzes, als sich der Bogen spannte.

Sie stieß gegen etwas, rammte es so stark, dass es zu Boden ging.

Eugene hinter ihr entfachte ein Streichholz, das zeigte, wer sie angriff: eine Elfin mit wilden dunkelbraunen Haaren. Aedal.

Ein grimmiges Lächeln zeigte sich auf Sorahs Lippen. Sie hastete zu der am Boden liegenden Elfin, aber, ehe ihr Stiefel deren Kopf zermahlen konnte, wich diese aus. Katzenhaft kam Aedal wieder auf die Füße und zog ihren Dolch.

Sorah machte sich nicht die Mühe, ihre Waffe zu ziehen. Ihre Finger umschlossen Aedals Handgelenk, als diese zum Schlag ausholte. Mit schierer Kraft zwang sie die Elfin, in der Bewegung zu verharren, und rammte ihre Faust in Aedals Magengegend.

Die Elfin krümmte sich. Sorah riss ihr den Dolch aus der Hand, aber statt ihn selbst zu führen, ließ sie ihn auf den Boden klirren.

Ein weiteres Mal stieß sie ihre Faust in Aedals Magen. Unter der Wucht des Schlages knackte etwas. Sie hatte zwar schon mit Tritten Knochen gebrochen, doch noch nie mit ihrer Faust.

Ehe sie ein drittes Mal zuschlagen konnte, schubste die Elfin Sorah von sich und wich aus.

Sorah ließ sie nicht entkommen. Als Aedal einen Schritt zurücktreten wollte, klinkte Sorah ihren Fuß, in deren Kniekehle und riss sie so zu Boden.

Diesmal wartete Sorah nicht, bis die Elfin erneut auf die Füße kam. Sie kniete sich über Aedal, hielt sie an ihrer Schulter auf dem Boden und ballte die Hand zur Faust. Ein Kribbeln fuhr durch ihre Knöchel, ein kleiner Hüpfer ließ ihr Herz erzittern.

Aedal wusste, was Sorah beabsichtigte. Sie stieß ihr Knie in Sorahs Bauch, aber konnte den Schlag nicht verhindern.

Sorahs Faust krachte in Aedals Gesicht. Die Elfin versuchte, sich zu wehren und sie von sich zu schütteln, doch Sorah wich nicht.

Das Geräusch des dumpfen Auftreffens hallte in den Tunneln wider. Bald ertönte das Splittern von Knochen, der Klang, als ein Hieb nacktes Fleisch traf.

Sorah war nie glücklich darüber gewesen, wie ihre Ausbildung bei Kematian abgelaufen war. All die blauen Flecken, die sie erlitten hatte, all die Schläge, wenn sie ihm nicht rechtzeitig ausgewichen war. Doch in einem Moment wie diesem erkannte sie, dass es auch Vorteile hatte. Er hatte sie ausgebildet, zu überleben und zu töten, und beides hatte sie gemeistert.

Das Klingeln in ihren Ohren verklang und Eugenes Stimme ertönte an ihrem Ohr. »Sorah?« Sein Griff, der versuchte, sie von Aedal hinunterzuziehen, an ihren Schultern.

Der Schmerz in ihrer Seite, noch von Niellens Angriff, schoss durch die Taubheit in ihrem Körper und die Wärme des Blutes an ihren Händen umfing sie wie eine sanfte Umarmung. Ihre eigene Atmung klang schwer in ihren Ohren und sie blickte auf die Leiche vor sich.

Wie oft hatte sie zugeschlagen? Ihre Knöchel pochten dumpf. Ein Ziehen drang von ihrer Schulter in ihren Nacken.

Ihr kam es vor, als wäre kaum ein Augenblick vergangen, doch ... Sie blinzelte und versuchte, gänzlich zu sich zurückzufinden. Es schien eine Ewigkeit her zu sein.

Sie ließ sich von Eugene auf die Füße ziehen. »Wir müssen weiter«, sagte er und hastete los.

Sorah schüttelte die Benommenheit ab. Schmerz stach bei jedem Atemzug in ihre Seite. Sie ignorierte ihn und rannte Eugene nach.



»Ciacas!«, rief Ejahl durch die Stadt. Er hatte es aufgegeben, leise oder unauffällig zu sein. Der Dieb würde sich nicht von allein finden lassen und zufällig vor ihm auf der Straße auftauchen.

»Ciacas!« Ein Husten schüttelte an ihm und er spuckte Blut auf den Boden. Er war sicher, dass die Magier mittlerweile den Zirkel verlassen hatten. Rauch stieg über den reicheren Vierteln der Stadt auf und es würde nicht lang dauern, bis die Flammen auch die Unterstadt eingenommen hatten.

Die Erde zitterte erneut. Die Druckwelle erreichte Ejahl, bevor er das Schmettern hörte, als Stein zerbrach und Holz splitterte. Er machte einen Satz nach vorne und wirbelte herum. Staub schwebte durch die Luft und setzte sich in Ejahls Lungen.

Das Gebäude hinter ihm war zusammengebrochen.

Seine Schritte beschleunigten sich. »Ciacas!« Er wollte den Jungen nicht zurücklassen, aber wenn er sich nicht finden ließ, dann blieb ihm keine andere Wahl.

Der Boden unter seinen Füßen bewegte sich. Diesmal war es nicht nur ein Beben, diesmal riss die Erde auf und die Platte auf der Ejahl stand, kippte.

Der Meisterdieb hastete los. Er sprang auf einen Teil des Bodens, der fester aussah, aber die Steine unter seinen Füßen sackten ab. Er konnte nicht verweilen.

Neben ihm krachte ein Gebäude in sich zusammen. Die Erde öffnete einen gierigen Schlund und verschlang es ganz.

Wie auf hoher See türmten sich Wellen auf, nicht aus Wasser, sondern aus Stein und Schutt. Das nächste Haus fiel und die Wucht brachte ihn ins Taumeln, versuchte, ihn von den Füßen zu reißen.

Er hielt ihr stand und rannte weiter. Keinen Gedanken konnte er dem geben, was er hinter sich zurückließ. Er musste Sicherheit finden.

Nur wo sollte Sicherheit sein, wenn die Stadt in sich zusammenbrach?

Sein Fuß fand keinen Halt und er stolperte. Ein Knirschen über ihm. Er riss seinen Fuß aus dem Loch und rollte zur Seite. Nur einen Sekundenbruchteil später krachte ein Pfeiler zu Boden, dort, wo er noch kurz zuvor festgehangen hatte.

Er rappelte sich auf und rannte weiter. Den Steinen, die auf ihn zuschossen, wich er aus. Der Staub vermischte sich mit dem Rauch und kratzte in seinem Hals. Er hielt seinen Husten zurück, bis ihm die Augen tränten.

Erneut gab der Boden unter seinen Füßen nach. Die Platte kippte, splitterte und sank ab. Er wagte einen Sprung und krachte mit dem Oberkörper gegen den Stein, während die Erde sich unter ihm auftat. Sie streckte ihre Hände aus, griff nach ihm und riss ihn los.

Seine Finger fanden nicht genug Halt. Er schlug die Arme über dem Kopf zusammen und stürzte hinab. Mitten in die bodenlose Tiefe.

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