In der Ferne rufen Raben III

Was hat sie mich gerade gefragt? V suchte mit aller Macht die letzten Sekunden in ihren Gedanken, aber sie fand nichts außer dichten Nebel.

»Könntest du das nochmal wiederholen?«, fragte sie, ihre Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren seltsam verzerrt. Normalerweise hätte sie sich geschämt, wenn sie so unaufmerksam gewesen wäre, aber nicht an diesem Abend.

Jeanne lachte leise. »Ich hatte dich gefragt ...« Sie musste auch kurz überlegen. »... ob es das erste Mal ist, dass du in einer großen Stadt und unter so vielen Menschen bist.« Mittlerweile war sie an V herangerückt und einen Arm hatte sie über ihrer Schulter gelegt. In der anderen Hand hielt sie die Weinflasche, in der nur noch der Boden mit roter Flüssigkeit bedeckt war.

Das war es gewesen, jetzt erinnerte V sich. Sie nickte. »Es ist hier alles so seltsam.«

»Seltsam?«, hakte Jeanne nach.

V nickte. »Ich kenne hier niemanden, und niemand scheint irgendwen zu kennen oder sich um ihn zu kümmern. Alle hasten nur über die Straßen und werfen keinen Blick nach rechts oder links. Wenn sie mich ansehen, wirkt es, als würden sie mich gar nicht wahrnehmen.«

Jeanne lachte leise. »Ich schätze, wenn man es nicht gewöhnt ist, dann scheint es seltsam. Aber für uns als Diebe ist es nur von Vorteil, wenn niemand sich zu sehr umschaut oder sich um die anderen sorgt. Ansonsten könnten wir nie lange an einem Ort bleiben.«

Sie drückte Vs Schulter. »Und falls du das Gefühl hast, dass sich hier niemand um dich kümmert, das kann ich gern übernehmen.«

Vs Herz setzte kurz aus. Am liebsten hätte sie den Blick abgewandt, aber Jeannes Augen fesselten sie, bis die Diebin letztlich wegsah.

»V«, sagte sie und erwiderte ihren Blick wieder. Ein Unterton lag unter ihrer Stimme, ein leichtes Zittern. »Es ... es mag seltsam klingen, wir kennen uns ja kaum, aber darf ich dich nochmal küssen?« Sie saß ohnehin schon leicht zu ihr gebeugt, sodass V ihr Spiegelbild in den rehbraunen Augen sehen konnte.

Hitze stieg in ihre Wangen, noch glühender, nachdem sie bemerkte, dass sie nicht vehement ablehnen wollte.

Es musste an dem Wein liegen. Ansonsten hätte sie sich doch nie so schnell mit dem Gedanken angefreundet.

Einige Sekunden vergingen in Stille, bis Jeanne sich ein Stück zurücklehnte und meinte: »Tut mir leid, ich hätte nicht ...«

V beugte sich vor und ehe sie sich versah oder ganz begriff, was sie dort tat, lagen ihre Lippen schon auf Jeannes. Nur für einen Augenblick hielt sie den Kontakt und löste sich dann von ihr. Die Diebin schenkte ihr ein Lächeln, das sie erwiderte.

»Ich hatte schon immer eine Schwäche für schöne Frauen.« Jeanne legte eine Hand auf Vs Wange und strich ihr eine Strähne hinter das Ohr. »Und Locken«, flüsterte sie, ehe ihre Lippen ein weiteres Mal Vs trafen. Warm und weich, mit der leicht bittersüßen Note des Rotweins.

V, die nicht so ganz wusste, was sie mit ihren Händen machen sollte, sie aber auch nicht einfach so hängen lassen wollte, schlang ihre Arme um Jeannes Hals und zog sie näher an sich. Die Finger verschränkten sich in ihrem Nacken und spielten mit ihren weichen Haaren.

Warme Hände strichen über ihre Kleidung und darunter und lösten Hitze in ihrer Brust aus. Sie erwiderte den Kuss, erst vorsichtig, doch mit jeder verstreichenden Sekunde zerbrach die Zurückhaltung.

Nur ein leiser Gedanke bohrte sich durch den Nebel in ihrem Kopf: Das konnte sie doch nicht wirklich machen. So funktionierte es doch nicht.

Sie hatte Jeanne an diesem Tag erst kennengelernt und normalerweise sollten Wochen oder Monate vergehen, bis man einander so nah kam. Normalerweise führte man den anderen doch aus, schenkte ihm Blumen, lud ihn zum Abendessen ein.

Vielleicht war dies wirklich eine andere Welt und sie sollte alles vergessen, was sie über Romantik wusste.

Der Körper in ihren Armen verschwand. V öffnete irritiert die Augen und wurde im nächsten Moment schon am Kragen gepackt und auf die Füße gezogen.

»Ihr seid zu auffällig«, knurrte Kematian, der – aus welchen Gründen auch immer – auf dem Dach aufgetaucht war.

Vs Kragen hielt er in der einen Hand, Jeannes in der anderen. Die Diebin ließ er nun hinunter.

»Du kommst mit mir zurück«, sagte er, an V gewandt.

Jeanne schnaubte. »Ihr stört.«

»Ist mir aufgefallen«, entgegnete Kematian.

»Dann geht doch einfach wieder.«

Der Rabe vergeudete keine Zeit mehr mit Worten. Er packte sie bei der Kehle, nicht fest, nur stark genug, um sie zu halten.

»Lasst sie los!«, rief V und wehrte sich gegen den Griff.

Kematian gab ihr nur einen kurzen Blick und wandte sich dann an Jeanne. »Ich mag mich zurückhalten, das Mädchen zu töten, aber du genießt dieses Privileg nicht. Hüte deine Zunge.«

»Lasst sie los!«, rief V ein zweites Mal, diesmal lauter. Und wieder flackerte sein Blick kurz zu ihr. Täuschte es sie oder war seine Miene noch finsterer als normalerweise?

Jeanne stieß ein freudloses Lachen aus. »Ejahl hat Euch geschickt, nicht wahr? Er würde es nicht erlauben, dass Ihr mich umbringt. Ihr seid nicht mehr als ein Schoßhund.«

In einer geschickten Bewegung zog sie ein Messer, aber Kematian war schneller. Ein Ruck durchfuhr Vs Körper, als der Rabe nach vorne schnellte.

Den Schlag sah sie nicht, nur dass Jeanne zurücktaumelte und sich die Nase hielt. Das Messer traf mit einem metallischen Klirren auf den Boden. Kematian packte sie wieder an der Kehle. Ein Schnitt zog sich über seinen Unterarm, denn er hatte Jeanne zwar entwaffnet, doch zuvor hatte sie ihn getroffen.

Seine Hand schloss sich enger um ihren Hals.

»Nein!«, rief V. Sie trat nach ihm, traf ihn, aber er stand felsenfest. »Lasst das! Bitte, hört auf!«

Kematian sah kurz zu ihr. Für nur einen Wimpernschlag glaubte sie, einen Hauch von Menschlichkeit in seinen kalten Augen zu erkennen. Aber vielleicht war es auch nur eine Lichtreflexion der letzten Strahlen der Abendsonne.

Jeanne schlug ihre Nägel in Kematians Unterarm, hinterließ rote Striemen. Doch mit jeder verstreichenden Sekunde ließ ihr Kampf nach, bis der Rabe letztlich abschätzig mit der Zunge schnalzte und sie in einer weiten Bewegung von dem Dach schleuderte.

»NEIN!«, schrie V und erst jetzt ließ Kematian sie los.

Sie stürzte zur Dachkante. Unten lag Jeannes Gestalt. Regungslos. Eine rote Lache bildete sich unter ihrem Körper.

Wie hatte das geschehen können?

Vor wenigen Sekunden war doch noch alles so schön gewesen?

Die letzten Strahlen der Sonne sanken hinter den Horizont und die Nacht schloss die Welt in ihre finstere Umarmung. Kälte zog in die Stadt ein, Eis fraß sich in Vs Herz.

»Warum ...?« Ihre Stimme brach. Tränen brannten in ihren Augen und ihr Blick verschwamm. Sie war machtlos gewesen. Sie hatte nur tatenlos zuschauen können.

Kematian griff ihren Kragen und schleifte sie von dem Abgrund fort.

»Lasst mich los!«

Er kam ihrem Wunsch nach. Jedoch nur kurz, um seinen Umhang aufzuklauben und ihn anzulegen. Ihr gelang es in der Zeit kaum, sich wenige Schritte von ihm zu entfernen, ehe er sie wieder packte und sich über die Schulter warf. Er ignorierte all ihre Rufe, ihre Schläge, ihre Tritte und brachte sie zurück zu der Zuflucht der Diebe.

Erst dort angekommen, ließ er sie wieder hinunter.

V schlug die Hände gegen seine Brust und wich mehrere Schritte zurück. Sie wischte sich die Wangen trocken, aber nur mehr Tränen folgten.

»Was ist geschehen?« Ejahl sprang von dem Sofa auf und eilte zu ihnen. Er wollte einen Arm um V legen, aber sie stieß ihn von sich.

»Fasst mich nicht an!«

Ejahl hob die Hände und sah zu dem Raben, der aber ebenfalls nicht auf die Frage einging.

Und da erkannte V: Der Meisterdieb wusste von nichts. Er hatte Kematian vielleicht auf die Suche nach ihr geschickt, aber gewiss hatte er ihn nicht angewiesen, Jeanne zu töten.

»Er hat sie umgebracht.« Die Worte lagen bleiern auf ihrer Zunge und wollten kaum ihren Mund verlassen.

Ejahls Blick richtete sich auf sie. »Wen?«

»Jeanne.« Ihre Stimme klang heiser und der Name ging auf dem Weg zu ihren Ohren verloren.

Der Meisterdieb verstand trotzdem. Seine Miene verhärtete sich. »Wo?«

Stille.

V wusste nicht mehr als Antwort als ›Auf den Dächern‹ und der Rabe zog es vor, nicht zu antworten. Zumindest bis Ejahl sich direkt an ihn wandte und erneut fragte: »Wo?« Diesmal nachdrücklicher.

Kematians Augen funkelten auf eine Art, die V erschauern ließ, doch als es erlosch, antwortete er: »Über dem Juwelier.«

Ejahl nickte knapp. »Wir werden noch darüber sprechen«, sagte er und stürmte hinaus.

Der Rabe stieß ein Schnauben aus, kurz nachdem die Tür ins Schloss gefallen war. Er wartete einen Augenblick, dann meinte er: »Ich tat dir einen Gefallen, Mädchen.« Er wandte sich ab und verließ ebenfalls den Raum.

Und damit war V allein.



Es geschah nicht oft, dass er auf seinen Spaziergängen bewusstlose Menschen fand. Meistens begegnete er nur Leichen.

Das Rasseln der feingliedrigen Ketten an seinen Stiefeln hallte von den Wänden der Gasse wider, als er sich der jungen Frau näherte.

Mit dem Gesicht lag sie nach unten, eine Blutlache hatte sich unter ihrem Körper gebildet. Wäre er nicht zufällig an der richtigen Ecke abgebogen, hätte sie an diesem Tag den Tod gefunden. Oder der Tod sie – je nachdem, wie man es auslegen wollte.

Er ging neben ihr in die Hocke und strich ihr die blutnassen Haare aus dem Gesicht. Selbst mit ihrem Glück, dass er hier gelandet war, würde ihr Kampf um das Überleben nicht einfach sein, aber andererseits: Wann war es schon je einfach, zu leben?

Er hob sie an und nahm sie mit sich. Ausnahmsweise könnte er sich ein Wunder aus dem Ärmel zaubern.

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