In der Ferne rufen Raben II

Keine Zeit, sich darüber viele Gedanken zu machen. Die nächste Gabelung stand bevor.

Ohne lange zu überlegen, schwenkte sie nach links. Selbst wenn sie die falschen Wege nahm, könnte sie entkommen. Sie war schnell, das wusste sie. Solange sie nicht stehen blieb oder in eine Sackgasse geriet, würden die Wachen nicht mit ihr mithalten.

Die Gasse mündete in eine breitere Straße, die nun nicht mehr menschenleer war.

Irgendjemand schrie kurz auf, als V ohne abzubremsen, fast in ihn hineingerannt wäre. Sie beachtete die Person nicht weiter und bog stattdessen ab, um dem Fluss an Menschen zu folgen.

Am Ende der Straße erhoben sich Mauern, deren Tore geöffnet standen. V wurde langsamer.

Vor ihr zeigte sich nicht der Stadtrand und hinter der Pforte nicht der Wald, der Cyrill umgab, sondern das Elfenviertel. Die Mauern, die es umkränzten, sollten ursprünglich den Menschen Schutz vor den Elfen bieten, aber mittlerweile hielten sie hauptsächlich die Menschen davon ab, die dort liegenden Behausungen in Brand zu stecken.

Des Nachts waren die Tore geschlossen, doch nun, tagsüber, standen sie offen. Wachen patrouillierten davor und würden ungebetene Eindringlinge abhalten und Konflikte auflösen. Sie beäugten V misstrauisch, aber sie wusste nicht, ob es daran lag, dass ihr die Kapuze vom Kopf gerutscht war und damit verraten war, dass sie eine Dunkelelfin war. Oder, ob es zur Ursache hatte, dass die Wachen, die sie verfolgten mittlerweile auch auf die breitere Straße getreten waren.

Durch das Tor hindurch erkannte V, dass die Häuser des Elfenviertels aus Holz errichtet waren. Holz, das durchlöchert und an einigen Stellen mit schwarzen und weißen Flecken übersät war. Einige standen schief und wurden mit Balken gehalten, andere besaßen kaum oder gar kein Dach.

Wie konnte man nur in solchen Zuständen leben?

V hatte davon gewusst, man hatte ihr ständig berichtet, dass diese Welt kein Ort für Elfen war und sie in solchen abgeschotteten Vierteln lebten. Sie hatte es jedoch noch nie mit eigenen Augen gesehen.

Je näher sie kam, desto mehr Gewissheit bekam sie: Sie durfte die Wachen unter keinen Umständen in das Elfenviertel führen. Wenn diese glaubten, sie wäre eine von ihnen, dann würden die anderen Elfen Probleme bekommen.

V wurde noch langsamer. Sie wollte nicht, dass die Wachen sie nun aus den Augen verloren und dann Eins und Eins zusammenzählen und das Elfenviertel auf den Kopf stellen würden.

Sie suchte in der Umgebung nach einer Möglichkeit, auszuweichen. Auf der anderen Straßenseite teilten sich die Häuser. Dort würde sie zurück in das Labyrinth aus Gassen gelangen.

Sie kreuzte die Straße, wich einer Frau nur knapp aus und ignorierte, was auch immer diese ihr hinterherrief. Ehe sie hinter der Wand verschwand, blieb sie stehen und blickte zurück, um sicherzustellen, dass die Wachen ihr auch weiterhin folgten.

Sie folgten ihr.

V verbrachte keine Sekunde länger damit, zu verweilen. Sie rannte los. Mittlerweile war sie sich sicher, dass sie Jeannes Wegweisung absolut nicht nachgekommen war.

An einer Gabelung bog sie links ab, an der nächsten wieder links. Für sie galt jetzt nur noch: laufen und versuchen, die Wachen irgendwie loszuwerden.

Nächste Abzweigung, rechts.

Feuer brannte sich durch ihre Lungen und hinderte sie daran, vernünftig Luft zu holen. Ihre Beine protestierten bei jedem Schritt.

Sie konnte nicht stehen bleiben, sie konnte nicht rasten.

Abrupt kam sie zum Halten, als sich eine Wand vor ihr erhob.

»Nein«, flüsterte sie. Eigentlich hatte sie das Wort nur denken wollen, aber in ihrer Erschöpfung kam es trotzdem über ihre Lippen.

Weiterrennen konnte sie nicht. Ihre einzige Hoffnung war, dass sie ihre Verfolger bereits abgeschüttelt hatte.

Schritte hallten durch die Gassen und sammelten sich hinter ihr. Damit war ihre Hoffnung gestorben.

Sie holte tief Luft und wandte sich um. Auf ihrer Flucht musste sie nicht nur die Wachen nicht abgeschüttelt, sondern sogar noch mehr aufgelesen haben, denn etwa ein Dutzend von ihnen tauchte hinter ihr auf.

Mist, fluchte sie in sich hinein. Sie beäugte die Wände, von denen sie eingeschlossen war. Klettern konnte sie ohnehin nicht und vor allem nicht so schnell, dass die Gardisten sie nicht vorher schnappen würden.

»Im Namen des Gesetzes.« Ein Wachmann, an dessen Helm ein Zopf aus weißem Rosshaar befestigt war, trat vor. »Ihr seid verhaftet. Kommt ohne Widerstand mit uns oder wir werden Euch keine Gnade gewähren.«

Vs Herz trommelte in ihrer Brust. Irgendetwas musste ihr doch einfallen. Irgendwie musste sie doch entkommen. Schweiß sammelte sich in ihren Handflächen und auf ihrer Stirn.

Ein älterer Mann schob sich durch die Wachen und blieb vor ihnen stehen. Die Haare auf seinem Kopf bildeten nur noch einen schmalen Kranz und trotzdem hatte er mithalten können. Nun stützte er sich allerdings auf seine Oberschenkel und keuchte.

Als er zu V aufsah, runzelte er die Stirn. »Das ...« Er musste Luft holen, um seinen Satz hervorzubringen. »Das ist sie nicht.«

»Das ist sie nicht?« Der Helmbusch-Wachmann wandte sich zu ihm. »Was soll das heißen ›Das ist sie nicht‹? Habt Ihr uns nicht hinter ihr her gehetzt?«

»Schon aber ...« Jetzt schwitzte er nicht nur wegen der Anstrengung, sondern auch, weil der Blick der Wache ihm die Haut von den Knochen schälte.

Hieß das ... V konnte aufatmen? Sie müsste doch nun eigentlich frei gehen können, oder?

»Mädchen,« sie zuckte zusammen, als der Wachmann sie ansprach, »weshalb bist du vor uns weggerannt?«

Vs Hoffnung, die sich gerade erst aufgerappelt hatte, zerbrach wieder. Ihre Gedanken rasten so schnell, dass sie keinen von ihnen fassen konnte. Sie öffnete den Mund, doch wurde unterbrochen, ehe ein Laut ihn verließ.

»Hey, Blecheimer!«, ertönte eine Stimme von oben.

Eine Gestalt in Schwarz war am Rande des Daches aufgetaucht. Der Wind verfing sich in ihrem Umhang und in dem hellbraunen Haar.

Die Sonne, die sich zuvor hinter einer Wolke versteckt hatte, trat nun hervor, als würde sie auch einen Blick auf den Ankömmling werfen wollen.

Geblendet kniff V die Augen zusammen und musste sich letztlich abwenden. Schon an der Stimme hatte sie erkannt, wer erschienen war.

Jeanne.

Nun, da jeder die Aufmerksamkeit auf sie richtete, trat sie ein Fass vom Dach herunter. Es zerschellte auf dem Boden und schwarze, zähflüssige Masse sickerte hervor. Zwar war es nicht viel, aber die Gasse war schmal, sodass der kleine See trotzdem die Wände auf beiden Seiten berührte und V von den Wachen trennte.

»Süße, geh mal einen Schritt zurück«, rief Jeanne von oben. Obwohl V noch nicht ganz begriffen hatte, um was es sich bei der schwarzen Flüssigkeit handelte, kam sie der Forderung nach, ohne lange darüber nachzudenken.

Eine der Wachen realisierte, was vor sich ging, und brüllte: »ZURÜCK!«

Keinen Augenblick später entzündete sich der See – V hatte den Funken, der ihn in Brand gesetzt hatte, nicht einmal gesehen.

»Schnell«, rief Jeanne ihr zu. »Komm hoch.«

Klettern, wieder hieß es klettern. Als hätte sie an diesem Tag nicht schon genug hinter sich.

Doch alles Jammern half nichts. Wenn sie entkommen wollte – und nun mit dem Feuer, das sich vor ihr ausbreitete, wollte sie das in jedem Fall –, dann war dies der einzige Weg. Sie wandte sich der Mauer zu und suchte sich einen passenden Anfang.

»Sie flieht!«, hörte sie hinter sich.

»Holt Wasser!«, rief jemand.

»Armbrust!«, ein anderer.

Sie fluchte leise in sich hinein. Der brennende See schützte sie vielleicht vor den Schwertern der Wachen, aber nicht vor Pfeilen oder Bolzen.

Eine andere Wahl blieb ihr nicht. Sie machte sich daran, die Wand emporzuklettern. Ejahl hatte ihr früher am Tag gesagt, sie sollte ihre Beine mehr einsetzen, und diesmal bemühte sie sich, seinen Rat umzusetzen. Sobald sie es tat, protestierten ihre Muskeln, die vom vielen Rennen schon ermüdet waren, und wälzten die Aufgabe doch wieder an die Arme ab.

Alles ging wie in einem Rauschen an ihr vorbei und sie konzentrierte sich nur auf den nächsten Augenblick, nicht darauf, was die Zukunft noch brachte.

Schritt für Schritt kämpfte sie, bis sie die Dachkante erreichte und sich an ihr hochzog. Jeanne griff nach ihrem Arm und half ihr.

Doch es war keine Zeit zur Rast. So sehr auch alles in Vs Körper verweilen wollte, Jeanne zog sie weiter.

V ließ sich nur mitschleppen. Sie setzte einen Fuß vor den nächsten und zwang sich, nicht darüber nachzudenken, wie lange sie wohl noch laufen müsste.

Dann, als der Griff endlich verschwand, gaben ihre Beine nach. Sie stützte sich mit den Armen ab und rang um Atem. Nicht nur einmal an diesem Tag hatte sie rennen und klettern müssen, nein, es war schon ein zweites Mal.

Der Schweiß rann ihr von der Stirn. Warum lag Kematians Umhang immer noch über ihren Schultern? Er war so schwer und warm, dass die Nachteile den Nutzen ausglichen.

»Nie wieder«, keuchte sie. Sie öffnete das Band des Umhanges und ließ ihn auf die Dachziegel gleiten, damit der Wind sie abkühlen konnte.

Jeanne lachte, doch auch sie stützte sich auf ihre Oberschenkel und schnaufte. »Ich hatte dich zwar in eine vollkommen andere Richtung geschickt, aber gut zu wissen, dass du nicht auf das hörst, was man dir sagt. Da haben wir schon mal eine Gemeinsamkeit.«

Sie setzte sich neben V und strich sich die schweißnassen Strähnen aus dem Gesicht. Sie war auch gerannt und das nicht wenig, denn sie hatte die Dunkelelfin wiederfinden müssen.

Das Lächeln lag weiterhin auf ihren Lippen. »Was für ein Spaß.«

V lachte ein freudenloses Lachen. »Spaß? Du hast eine seltsame Auffassung von Spaß.«

»Spürst du denn nicht das Adrenalin in deinen Adern? Macht es dich nicht ein wenig ... lebendiger?«

»Gerade fühle ich mich sehr tot.«

Jeanne lachte und zwinkerte ihr zu. »Das kommt noch. Und«, sie erhob sich, »glaube mir, es hat sich gelohnt.«

V sah auf und folgte ihr mit ihrem Blick. Sie hatte schon fast vergessen, dass sie nur geflohen war, weil Jeanne etwas gestohlen hatte. Wehe, es war nichts Wertvolles, für das es sich lohnte, den Hals zu verlieren oder zu riskieren, die Stadt in Brand zu setzen.

Die Diebin schlich über das Dach und suchte nach einem losen Ziegel. Ihr Lächeln wurde breiter, als sie ihn fand.

»Tadaa«, sagte sie, als sie ihre Beute aus einem Hohlraum zog und in die Höhe hielt.

Eine Flasche mit dunkelroter Flüssigkeit.

Wein.

Dafür hatte V ihr Leben riskiert.

Es war so absurd, dass sie laut loslachte. Sie hatte Edelsteine und Gold erwartet, aber doch keinen Alkohol.

Jeanne ließ sich neben sie fallen und entkorkte den Wein mit ihrem Messer. »Vorhin habe ich dir doch viel angenehmere Gesellschaft als den alten Mann versprochen«, sagte sie und hielt V die Flasche entgegen.

V beäugte sie für einen Augenblick. Eigentlich trank sie nicht. Das eine Mal mit sechzehn, als sie sich danach die Seele aus dem Leib gekotzt hatte, hatte ausgereicht. Aber gleichzeitig wollte sie ihr Leben nicht für nichts riskiert haben.

Sie nahm die Flasche und setzte sie an ihre Lippen. Ihr Gesicht verzog sich, als sich der bittere Geschmack in ihrem Mund ausbreitete.

Jeannes Augen blitzten vor Belustigung auf. »Du trinkst nicht oft?«, fragte sie.

V schüttelte den Kopf. »Du?«, hakte sie nach und reichte ihr die Flasche.

»Wenn die Gesellschaft schön ist.« Jeanne zwinkerte ihr zu und nahm ebenfalls einen Schluck.

Wärme stieg in Vs Wangen auf. Sie ließ schnell den Blick von der Diebin sinken und stattdessen über die Stadt schweifen. Die Sonne neigte sich schon gen Westen und verschwand langsam hinter den Dächern Cyrills und den Wipfeln der Bäume. Der Himmel färbte sich in Rot und Orange.

In einiger Entfernung schrie ein Rabe auf.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top