Im Schatten des Monsters

Ava war bald stehengeblieben, sodass V zu ihr aufholen konnte. Verstohlen wischte sie sich die Tränen von den Wangen und versuchte sich an einem Lächeln. »Tut mir leid, dass du das mit ansehen musstest«, sagte sie. Weiterhin lag Bitterkeit in ihrer Stimme, doch sie war nicht gegen die Dunkelelfin gerichtet.

»Keine Sorge«, sagte V. Hilflos sah sie an, wie Ava ihre Wangen trocknete, nur damit immer wieder neue Tränen folgten. Letztlich schloss sie ihre Arme um sie und zog sie zu sich heran.

Ava erwiderte die Umarmung. »Ich hatte mir eigentlich so viele Worte zurechtgelegt«, meinte sie, Heiserkeit in der Stimme. »Ich hatte mich auf das Gespräch vorbereiten wollen, damit es mich nicht so kalt erwischt. Aber letztlich habe ich alles über den Haufen geworfen und ...«

Sie löste sich von V und schüttelte den Kopf, sodass ihre blonden Strähnen kurz nachschwangen, nachdem die Bewegung schon aufgehört hatte. »Lass uns raus gehen. Ich muss mich irgendwie ablenken. Ansonsten kehre ich um und erwürge ihn.«



Wenig später gingen sie durch die Straßen Cyrills und waren auf dem Weg zu dem Haus, in dem Ava einst mit Kematian gelebt hatte.

Ihr Vater hatte ihr zwar jede Antwort gegeben, die sie von ihm verlangt hatte, aber eine neue Frage war nun aufgekommen: Hätte sie es ahnen können?

Sie erinnerte sich daran, dass er oft auf Reisen war und sie in der Zeit bei einer Freundin gelassen hatte, daran, dass sie seinen Keller nie hatte betreten dürfen, daran, dass er nie mit ihr gegessen hatte.

Damals war sie noch so jung, dass sie keine Fragen gestellt hatte, doch nun schien es ihr offensichtlich, weshalb er sich so verhalten hatte.

»Es tut mir leid, dass ich einfach so gegangen bin«, ergriff Ava das Wort. »Ich hatte irgendwie den Drang ... aufzubrechen. Ich hätte dir aber zumindest eine Nachricht hinterlassen können. Verzeih mir.«

»Schon gut«, meinte V, ehe sich Ava noch in Entschuldigungen verlor. »Ich freue mich einfach, dass du unbeschadet bist.« Zwar konnte Ava mit einem Schwert umgehen, aber seit V mit Ejahl reiste, war ihr so deutlich wie nie, wie gefährlich die Welt war.

Sie selbst war nur heil nach Cyrill gelangt, da sie mit Ejahl und Kematian gereist war. Und trotzdem war sie, als sie einmal allein war, den Raben in die Hände gefallen und hatte sich nicht aus eigener Kraft befreien können.

Ihre Gedanken schweiften zu der rotgelockten Frau zurück. Sie hatte immer noch nicht herausgefunden, weshalb diese ihr zur Rettung geeilt war.

V und Ava ließen den Bezirk der Stadt, in dem sich ein heruntergekommenes Haus an das nächste reihte, hinter sich und fanden sich in der Oberstadt wieder. Vor einem Gebäude blieben sie stehen.

Zwei Stockwerke hoben sich in den wolkenverhangenen Himmel. Nur vereinzelt zeigte sich die Sonne und schenkte der Welt ihr Licht. Die Fenster fingen die Strahlen auf und brachen sie in dem Buntglas, das nahe dem Rahmen in den Ecken lag.

In den Blumenkästen auf den Fensterbänken leuchteten Blüten, einige in Blau, andere in Weiß und wieder andere in Violett. Pflanzen rankten sich an dem Zaun entlang und erblühten rot.

Hier sollte Kematian leben?

Nicht, dass V nicht erwartet hatte, dass er ein Händchen für Pflanzen und ein Gespür für eine gewisse Ästhetik hatte, aber ... gut sie hatte es nicht erwartet.

Wenn man sie gefragt hätte, was sie glaubte, wie Kematian wohnte, hätte sie an Spinnennetze in den Ecken gedacht, an halbverdorrte Bäume, die ihre Äste nach jedem Eindringling ausstreckten, und an mit Blut gezeichnete Symbole an den Wänden.

»Das ist es«, sagte Ava und damit verschwand Vs Vermutung, dass sie das falsche Haus für Kematians hielt. »Lass uns hineingehen.«

V schluckte, widersprach aber nicht. Ihr lief zwar eine Gänsehaut über den Rücken, wenn sie daran dachte, in Kematians Sachen zu wühlen, doch gleichzeitig wollte sie auch herausfinden, was sich hinter der Tür befand.

»Es sieht noch alles so aus, wie ich es in Erinnerung habe«, flüsterte Ava, als sie ihren Blick über das Grundstück schweifen ließ. »Zumindest hier draußen.« Sie schob das Gartentor auf und betrat den Weg aus großen Steinen, die in den Boden eingefasst waren.

V folgte ihr und betrachtete die Blumen genauer. Vielleicht waren diese giftig, sodass sie nicht ihr gesamtes Bild von Kematians Lebensweise auslöschen musste.

Ava kramte in einem der Blumentöpfe und zog einen Schlüssel hervor, mit dem sie sogleich die Tür aufsperrte. »Dann tritt ein in die gute Stube.« Ihrer Stimme fehlte die Leichtigkeit der Geste, mit der sie V an sich vorbeigehen ließ.

Der Flur führte in einen offenen Raum. Bücher standen in Regalen sortiert und eines lag auf einem niedrigen Tisch vor dem Sofa, ein weiteres balancierte auf der Armlehne des Sessels.

V strich über das samtgrüne Polster und nahm das Buch auf dem Beistelltisch, das schwer in ihrer Hand wog. Goldene Lettern zeigten sich auf dem dunklen Ledereinband: Niemals endende Lügen – wie der Frieden starb.

Ein Märchenbuch? Sie runzelte die Stirn. Sie hatte nicht erwartet, dass jemand wie Kematian seine Zeit in Büchern – gerade in Märchen – verbrachte.

Sie legte es zurück und wandte sich auf der Suche nach Ava ab. Diese musterte die Bücherregale. »Dil'Athor und das Ende der Götter«, las sie einen der Titel vor. »Und hier ›Die Reise ins Nichts‹. ›Vom Aufstieg und Fall des Zwillingsmondes‹. Alles Mythen und Legenden. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir damals solche Bücher hatten.« Sie presste die Lippen zusammen. Dies war nur ein Zeichen dafür, wie wenig Heimat für sie noch in diesem Haus steckte.

V nahm das zweite Buch in die Hand, das nicht in einem Regal, sondern auf der Armlehne des Sessels lag. Kein Titel stand auf dem dunklen Einband. Sie schlug es auf und blickte auf saubere, schlichte Handschrift.

Er lebt wieder. Es hat nichts gebracht, ihm das Herz zu entfernen. Damit er regeneriert, muss sein Herz nicht einmal in seiner Nähe sein. Es ist weiterhin im Keller und als es zu schlagen angefangen hat, habe ich es erneut durchstochen. Er blieb aber am Leben. Offenbar hat er sich ein neues wachsen lassen.

V schlug das Buch hastig zu. War das ...? War .... war es das?

Sie öffnete es erneut, diesmal eine andere Seite. Sie linste vorsichtig hinein.

Die Abstände zwischen seinem Tod und dem Punkt, wenn er wieder erwacht, werden kürzer. Diesmal war es kaum eine Woche. Ich habe noch nicht herausgefunden, ob es an der Regelmäßigkeit oder an der Art des Sterbens liegt. Derzeit gelingt mir eher das Gegenteil dessen, was er von mir verlangt hat, und ich kann den Auftrag nicht beenden, ehe er gänzlich tot ist.

»Was ist das?«, fragte Ava und sah ihr über die Schulter.

»Ich bin mir nicht sicher«, flüsterte V. Obwohl sie eine Ahnung hatte, wagte sie es kaum, diese auch auszusprechen. »Ist das ... ist das Kematians Handschrift?« Ihre Stimme wurde noch leiser, als fürchtete sie, ihn zu beschwören, wenn sie seinen Namen zu laut aussprach.

Ava warf einen genaueren Blick in das Buch und runzelte die Stirn. »Ich glaube schon.«

V blätterte zurück zur ersten Seite. Ihre Augen weiteten sich, als sie las und die Bestätigung dessen erhielt, das sie geahnt hatte.

Lloyd hatte mich aufgesucht und mir den Auftrag gegeben, ihn zu töten. Zwar hätte ich nicht erwartet, dass er erneut nach Kontakt mit mir sucht und sein Auftrag ist auch eher von der ungewöhnlichen Sorte, aber ich nahm an. Ich dachte, es wäre nicht allzu schwer.

Heute stand er wieder vor meiner Tür und sagte, dass ich den Auftrag noch nicht ausgeführt hatte. Ich tötete ihn erneut. Diesmal liegt er im Keller, damit ich beobachten kann, was geschieht.

Vs Mund war beim Lesen trocken geworden. Schweiß stand auf ihrer Stirn, aber gleichzeitig fröstelte sie.

Es waren Aufzeichnungen, wie Kematian den Dunklen König immer und immer wieder umgebracht, damit aber keinen Erfolg hatte.

»Weißt du, wo der Keller ist?«, fragte V, ihre Stimme kratzig.

Ava nickte nur und deutete der Dunkelelfin an, ihr zu folgen.

Die Küche, in die sie traten, war lichtdurchflutet, denn die Sonne schien durch die gläserne Tür, die in den Garten führte. Neben einem gusseisernen Ofen stapelten sich gespaltene Holzstücke. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch und um ihn herum mehrere Stühle, von denen nur einer zurückgezogen war. Angefertigt waren sie in demselben hellen Holz wie die Schränke, in denen V Geschirr und derlei vermutete.

Ava führte sie weiter zu einem Schrank in der Ecke. Sie öffnete ihn, teilte schwarze Mäntel und schob eine geheime Tür auf.

V folgte ihr in den Korridor dahinter. Der Boden war weiterhin mit Teppich ausgelegt und die Wände getäfelt. Ava entzündete eine Öllampe, die am Eingang stand, und ging vor.

Die Treppe nach unten knarzte leise unter ihren Schritten und sie kamen in einen weiten Raum. Auch hier türmten sich Bücher in Regalen, aber Vs Blick wurde von der gegenüberliegenden Wand gefangen.

Auf einem langen Schreibtisch lagen ungeordnet Zettel und herausgerissene Buchseiten und an der Wand dahinter hing ebensolches und ebenfalls unorganisiert.

Während Ava ihre Finger über die Buchrücken streichen ließ, ging V zu dem Schreibtisch. Das Licht reichte aus, um die Worte lesen zu können. Ihr Blick schweifte zuerst zu einer Buchseite, die nach nur einem Absatz zerrissen war.

Seit vielen Generationen der Menschen stehen beide Monde am Himmel, aber die Elfen erinnern sich noch an eine Zeit, als es nur einer war. Es wird erzählt, dass ein Gott ihn für tausend Jahre dorthin verbannt hatte, doch dem Gott fehlt schon lang seine Kraft und die Zeit ist bald vorüber.

In Kematians Handschrift stand daneben: Mein Tod?

Sie schob den Papierfetzen zur Seite und offenbarte einen weiteren Zettel darunter.

Der Erzähler? Teufel oder Engel? Ich?

V schüttelte den Kopf. Kematian wusste etwas, oder ahnte es zumindest, das war offensichtlich, aber aus den Gedankenfetzen konnte sie nicht herausfinden, was es war.

Ihr Blick schweifte zu der Wand. Mit kleinen Nadeln waren unzählige Papierfetzen in das Holz geschlagen. Auf der einen Seite.

Verbrennen. Enthaupten. Herz entfernen.

Alles durchgestrichen. Darunter:

Wenn der Sarg standhaft oder das Grab tief genug ist, kann er sich nicht allein daraus befreien. Das erfüllt aber den Auftrag nicht.

Ein Glas am Rand des Schreibtisches fing ihre Aufmerksamkeit ein. Darin lag ein schwarzer Klumpen, den V im schummerigen Licht nicht genau identifizieren konnte, aber nach allem, was sie gelesen hatte, ahnte sie, dass es sich dabei um das Herz des Königs handeln musste. Wenn sie ehrlich war, wollte sie es sich auch nicht in besseren Lichtverhältnissen ansehen.

Eine Gänsehaut legte sich in ihren Nacken, als hätte ein kalter Luftstrom sie gestreift. Sie schüttelte sich, um sich von dem Gefühl, beobachtet zu werden, zu befreien, aber es blieb.

Langsam entfernte sie sich von dem Schreibtisch. Sicherlich gäbe es noch viel mehr dort zu finden, aber ohne Kematians Gedankengänge war es unmöglich für sie, es sich zusammenzubasteln. Und andererseits wollte sie nicht länger in diesem Raum oder gar diesem Haus verbleiben.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als würde unmittelbare Gefahr bevorstehen. Sie schlang ihre Arme um ihren Körper, um sich zu wärmen und vom Zittern abzuhalten.

»Wir sollten gehen«, sagte Ava am anderen Ende des Raumes. Obwohl sie nur flüsterte, erhoben sich die Worte laut in der Stille des Kellers.

Das brauchte sie V kein zweites Mal zu sagen. Schnellen Schrittes ging sie zu ihr und beide verließen den Keller.

Zurück in dem Wohnzimmer angekommen, ertönte ein leises Knarzen von den Treppen aus. Ava wirbelte herum, V gefror in der Bewegung. Im Licht der Sonne blitzte eine eiserne Pfeilspitze auf.

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