Ein Schritt in die fremde Welt II

Nun, auf den Dächern, verlor Ejahls Haltung einen Teil ihrer Anspannung. Er ging nicht länger so zusammengesunken wie auf den Straßen und straffte sogar die Schultern ein wenig.

Er hüpfte über einen schmalen Spalt zwischen zwei Häusern, ohne dem Sprung auch nur einen Gedanken zu schenken. V hingegen blieb wie angewurzelt stehen.

Instinktiv richtete sich ihr Blick nach unten und bei der Aussicht darauf, wie tief sie fallen würde, wenn sie nur einen falschen Schritt machte, zitterten ihre Knie.

»Deshalb sollst du nicht runterschauen«, sagte Ejahl vom anderen Dach aus.

V riss sich von dem Abgrund los und zwang sich, keinen zweiten Blick hinabzuwerfen, als sie einen Schritt auf die andere Seite zu dem Meisterdieb machte.

»Schau, das war doch gar nicht so schwer.«

Sagt derjenige, für den es zum Geschäft gehört, von Dach zu Dach zu springen. V warf ihm einen Blick von der Seite zu, antwortete aber nichts dazu und fragte stattdessen: »Wohin gehen wir eigentlich?«

Er hustete leise und winkte ab.

Und da erkannte V: Er glaubte immer noch, dass sie belauscht wurden. Obwohl hier auf den Dächern weit und breit keine andere Person zu sehen war.

Paranoider, alter Mann.

Ejahl verharrte. Er sah sich kurz um und sagte: »Lauf und spring.«

»Was?«, konnte V gerade noch fragen, ehe der Meisterdieb sich in Bewegung setzte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

Er war schnell. Schneller, als sie ihm zugetraut hatte.

Beim Rennen flog ihr der viel zu lange Umhang zwischen die Beine, bis sie Geschwindigkeit gewann und der Wind den Stoff ebenso wie ihre Kapuze zurückschleuderte.

Ihr Herz trommelte in ihrer Brust. Ejahl hatte nicht nur von Laufen gesprochen.

Einige Meter vor ihr klaffte sich ein Abgrund auf. Sie warf einen Blick auf den Meisterdieb. Er konnte doch nicht ...

Seine Augen waren starr nach vorn gerichtet und er machte keine Anstalten, langsamer zu werden. Seine Schritte beschleunigten sich sogar.

›Spring‹, hallten seine Worte in ihrem Kopf nach.

V schluckte. Das ... das konnte er doch nicht wirklich planen. Mochte es für ihn auch alltäglich sein, ihr drehte sich bei dem Gedanken der Magen um.

Und daher betrachtete sie Ejahl fassungslos, als er das Ende des Daches erreichte und absprang. Auf der anderen Seite landete er leichtfüßig und wandte sich zu ihr um.

Sie fasste einen Entschluss: Sie würde springen.

Ihr Herz stolperte, so schnell raste es. Ihr Blut pulsierte in ihren Ohren und sogar bis in ihre Fingerspitzen.

Sie schaffte das.

Wenn es Ejahl gelungen war, dann wäre es für sie doch ein Kinderspiel. Er war schließlich alt und ... alt.

Ihre Brauen schoben sich zusammen, ihre Schritte beschleunigten sich.

Der Abgrund kam näher.

Unten wirbelten Farben und Stimmen flossen zu einem Meer ineinander. Die Straße war vielleicht nicht die Hauptstraße, aber trotzdem belebter als die Gassen, durch die sie Ejahl gefolgt war.

Im letzten Augenblick bremste sie ab. Sie stolperte vom Abgrund weg. Ein Zittern durchfuhr ihren gesamten Körper und sie zwang sich, ihren Blick zu heben.

»Ich kann nicht«, flüsterte sie. Eigentlich sprach sie zu dem Meisterdieb, aber sie konnte ihre Stimme nicht dazu bringen, lauter zu sein.

»Doch!«, rief Ejahl. Nun schien er es nicht zu beachten, dass die Menschen unten auf der Straße ihn hören könnten. »Du schaffst das! Vertraue dir!«

Wie konnte sie sich vertrauen, wenn alles in ihr schrie, dass sie hinabstürzen und sich alle Knochen brechen würde?

Sie atmete schwer, Schweiß rann ihr von der Stirn. »Ich ...«, begann sie, wusste aber nicht, wie sie den Satz fortführen sollte.

Ejahl trat an den Abgrund und streckte seine Hand aus. »Ich werde dich halten.«

V holte tief Luft und versuchte, ihr panisch schlagendes Herz zu beruhigen. Schon einmal war sie heute über ihren Schatten gesprungen – als sie die Mauer erklommen hatte. Ein zweites Mal würde es ihr auch gelingen.

Sie trat ein paar Schritte zurück. Nicht zu viel Anlauf, dass sie über den Absprung nachdenken könnte, aber so viel, dass sie ihre Höchstgeschwindigkeit erreichen würde.

Mit dem Ärmel wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Ihre Locken klebten auf ihrer Haut.

Dann rannte sie los.

Nicht nachdenken, sprach sie in Gedanken. Bloß nicht nachdenken.

Der Abgrund klaffte vor ihr in die Tiefe. Anhalten war unmöglich. Nun blieb ihr als einziger Weg, zu springen. Mit dem falschen Bein, wie sie im Flug bemerkte.

Fast hatte sie erwartet, dass die Sekunden in der Luft langsamer vergehen würden und sie Zeit hätte, um über die nächsten Schritte nachzudenken.

Ihr Oberkörper stieß gegen die Kante des Daches. Der Aufprall presste ihr die Luft aus den Lungen. Instinktiv hatte sie Ejahls Arm ergriffen, aber sie rutschte. Ihre Handfläche war zu schwitzig.

Der Dieb hielt sie mit der anderen Hand und zog sie auf das Dach. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet und Übelkeit stieg in ihr auf. Sie wollte sich am liebsten übergeben.

Er schenkte ihr ein Lächeln, befreite seine Hand aus Vs verkrampften Fingern und klopfte ihr auf die Schulter. »Siehst du. Das war doch gar nicht so schwer.«

»Ich will nie wieder springen.« Ihre Stimme klang fern in ihren eigenen Ohren.

Ejahl lachte leise. »Man gewöhnt sich dran.«

Sie wollte sich nicht daran gewöhnen.

»Aber lass uns weitergehen. Wir sind gleich da.« Er zog ihr die Kapuze über den Kopf und machte sich auf den Weg.

Sie stützte sich noch kurz auf ihre Oberschenkel, um zu Kräften zu kommen, dann richtete sie sich auf und folgte ihm. Er war bereits einige Schritte vor ihr, aber nun, da er bemerkte, dass sie nicht direkt hinter ihm war, blieb er stehen und drehte sich zu ihr.

Keine Sekunde später stürzte sich ein Schatten auf ihn und riss ihn zu Boden. Kurz rollten beide über das Dach – einige Ziegel lösten sich – bis sie zum Stillstand kamen.

Die in Schwarz gehüllte Gestalt hielt die Überhand. Beide von Ejahls Handgelenken drückte sie zu Boden und saß auf ihm.

V wollte gerade losrennen, die Fremde von ihm stoßen und ihn befreien. Da erkannte sie, die Gestalt griff ihn nicht an, sie küsste ihn.

V fror in der Bewegung ein. Was spielte sich vor ihren Augen ab? Ihr war, als hätte sie eine Seite – oder eher zehn – in einem Buch zu weit geblättert und dabei wichtige Informationen überlesen.

»Äh«, machte sie und zog damit die Aufmerksamkeit auf sich.

Die Fremde ließ von Ejahl ab und sah mit großen rehbraunen Augen zu V auf. Einige dunkle Strähnen lugten unter ihrer Kapuze hervor. Auf ihrer gebräunten Haut zogen sich vereinzelt helle Narben über die Wangen, über die Schläfen, über die vollen Lippen und die Stupsnase.

»Und du musst V sein«, sagte sie. Sie erhob sich und hüpfte auf sie zu. »Ejahl hat mir schon einiges von dir erzählt.«

Ehe V ganz verarbeiten konnte, in welcher Situation sie sich gerade befand, lagen die Lippen der Fremden auf ihren.

Sie riss die Augen auf, aber bevor sie reagieren konnte, war der Kuss vorüber.

»Mein Name ist Jeanne«, sagte die Fremde. »Es freut mich, dass es euch endlich gelungen ist, herzukommen.« Sie wandte sich an Ejahl, der sich aufgehievt hatte und nun zu ihnen getreten war. »Hattest du nicht eigentlich vor, im Hintergrund zu bleiben?«

Der Meisterdieb schenkte ihr ein Lächeln. »Eine lange Geschichte, die wir an einem Ort besprechen sollten, an dem wir nicht belauscht werden.«

Jeanne nickte. »Dann folgt mir.«

V hielt sich an Ejahl. Er mochte Jeanne vielleicht trauen, aber V wagte es nach dem Auftritt nicht, ihre Vorsicht fallen zu lassen.

»Sie stammt aus Benela«, flüsterte Ejahl ihr zu.

»Und?«, fragte V ebenso leise.

»Je weiter du in den Süden reist, desto ...« Er wandte sich ab und hustete in seinen Ärmel, ehe er weitersprach: »... desto aufgeschlossener sind die Menschen. Diese Art der Begrüßung ist in Benela vollkommen normal. Eine Schande, dass das Land den Krieg nicht überlebt hat.«

Vs Augenbrauen hoben sich. »Das ist da normal?«

Ejahl nickte. »Wenn du davon schon so entgeistert bist, dann willst du sicher gar nicht wissen, wie die Sitten in Celdien sind.«

»Nein«, meinte V. Wenn er es schon so sagte, dann wollte sie es ohne Zweifel nicht. »Ihr stammt nicht zufällig von dort? Das würde viel erklären.«

Ejahl lachte leise. »Ich habe Celdien vor bald vierzig Jahren verlassen. Ich denke nicht, dass ich meine Abstammung als Ausrede für meine Art nutzen kann.«

V warf einen Blick auf Jeanne, auf deren Lippen sich ein Lächeln abzeichnete. Sie hörte der Unterhaltung zu.

»Aber ...«, flüsterte V und schob ihre Brauen zusammen. »Sie sieht so jung aus und Ihr seid ...« Sie schluckte das ›alt‹ hinunter. »Solltet Ihr nicht ...?« Sie wusste nicht ganz, was sie sagen wollte. Oder eher: Sie wusste ganz genau, was sie sagen wollte, sie wusste nur nicht, wie sie es sollte.

»Sprich es ruhig aus«, meinte Ejahl. »Es gibt wenig, was ich noch nicht gehört habe. Ich sollte es nicht gutheißen, wenn mich eine junge Frau so behandelt, obwohl ich doch so viele Jahre älter bin als sie?«

V nickte. Genau das hatte sie sagen wollen.

»Meine Liebe, vergiss nicht, ich pflege andere Sitten als du und meine Welt ist eine andere als deine. Und wenn ich in meinem Alter noch die Zuneigung einer jungen Frau erhalte, dann werde ich sie nicht abweisen.«

Sie presste ihre Lippen zusammen. »Das ist widerlich«, brachte sie hervor, war sich nicht einmal gewahr, dass sie es laut aussprach, bis sie Ejahls Antwort hörte.

»Willkommen in meiner Welt.«

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