Ein Schritt in die fremde Welt I

Vs eigentlicher Plan, nur kurz zu Ejahl zu gehen und zu fragen, ob sich Ava dort befand, scheiterte kläglich. Hätte sie gewusst, dass sie länger fortbliebe, hätte sie Sal und Luana eine Nachricht hinterlassen, damit sie sich keine – oder zumindest nicht so viele – Sorgen machten.

Allein die Reise nach Cyrill dauerte mehrere Tage lang. Die Stadt lag im Süden Nevras' und war beinahe von der Trübnis des schmalen grauen Streifens verschlungen, die das Reich der Menschen von dem der Elfen trennte. Das Niemandsland.

Bis vor einigen Jahren hatte noch ein Krieg zwischen den Völkern geherrscht, der erst geendet war, nachdem sie sich gegen einen neuen Schrecken – den Dunklen König – zusammengeschlossen hatten. Nach der letzten Schlacht hatte sich der Elfenkönig, Leandras, in sein Reich zurückgezogen und war seitdem niemals wieder gesehen.

Cyrill hatte zwar den Krieg überlebt, doch eine neue Bedrohung rüttelte an den Mauern der Stadt. Sie war die Heimat der Raben, die die Diebe ihnen nun streitig machten. Beide Gruppen kämpften um die Vorherrschaft und beide wichen keinen Schritt zurück.

Während der Reise redete der Meisterdieb zwar viel, sprach aber wenig und bekam meist nur einsilbige Antworten von Kematian und V. Ihr brannten Fragen auf der Zunge: Wer war Kematian? Was hatte er mit dem Dunklen König zu schaffen? Und wie viel wusste Ejahl von dem Ganzen? Doch sie schwieg, bis sich die Mauern der Stadt am Horizont erhoben.


Noch vor den Toren blieben sie an einer Weggabelung stehen. Die breite Straße, auf der sie bisher gegangen waren, führte nach Cyrill; ein schmaler Pfad in den Wald, der die Stadt umgab.

Ejahl wechselte einige stumme Blicke mit Kematian und nickte ihm zu. Letzterer öffnete die Schnalle seines Umhanges und trat an V heran.

Sie wich instinktiv einen Schritt zurück – nicht zuletzt, weil sie nun zum ersten Mal das volle Ausmaß der Waffensammlung, die der Rabe bei sich trug, sah. Kematian ließ sich davon nicht beirren. Er warf ihr den Umhang über, ehe er sich abwandte und auf dem Pfad verschwand.

Ejahl und V hingegen steuerten die Stadt an.

Der Umhang lastete schwer auf ihren Schultern, der Saum schleifte über den Boden und der Pelzkragen verbarg die Hälfte ihres Gesichts.

»Wo geht er hin?«, nuschelte sie in das Fell. Obwohl der Rabe nicht länger bei ihnen war, wagte sie es nicht, zu laut von ihm zu sprechen. Irgendetwas sagte ihr, dass er trotzdem mithörte.

»Er hat ... nennen wir es ›Kontakte‹, die nichts von uns wissen sollten«, erklärte Ejahl. Er zog ihr die Kapuze des Umhanges über den Kopf und setzte sich dann seine eigene auf. »Du fällst auf wie ein bunter Hund und mich mögen sie nicht besonders.«

V wollte ihre Fragen schon hinunterschlucken, aber ein leiser Gedanke hielt sie davon ab: Wenn sie erstrebte, zu verstehen, was vor sich ging, dann musste sie Antworten suchen. Und derjenige in ihrer Nähe, der ihr dabei am besten helfen konnte und dem sie zumindest ein wenig vertraute, war Ejahl.

»Warte damit, bis wir an einem Ort sind, wo wir nicht von den falschen Leuten belauscht werden«, sagte der Meisterdieb, sein Blick ruhte auf ihr.

V beäugte ihn kurz und brummte dann: »In Ordnung.« So ganz wusste sie nicht, was sie davon halten sollte, dass Ejahl sie wie ein offenes Buch lesen konnte, aber wenigstens würde sie Antworten bekommen.

Sie folgte ihm. Die Mauern Cyrills erhoben sich vor ihnen und die Tore waren weit aufgesperrt, sodass Stimmen herausdrangen und die Menschen, die geschäftig auf der Hauptstraße entlanghasteten, sichtbar wurden.

»Ich hatte gehofft, ein wenig früher anzukommen«, sagte Ejahl. »Dann wären nicht so viele Leute unterwegs.«

V war sich nicht sicher, ob er überhaupt mit ihr sprach, denn sein Blick blieb nach vorne gerichtet und er verlangsamte seine Schritte nicht.

Er stieß ein Seufzen aus. »Aber so wird es auch gehen.«

Sie hielten sich von den belebten Straßen fern und stattdessen führte Ejahl sie durch schmale Seitengassen. Teilweise standen die Häuser so eng beieinander, dass nur wenige Zentimeter Vs Schultern von der Wand trennten.

Der Dieb bewegte sich, als wäre diese Stadt sein Zuhause, als würde er jede Straße, jede noch so kleine Gasse kennen. Doch gleichzeitig ging er leicht gebeugt und machte kein Geräusch, als vermutete er, dass um sie herum nur Gefahren lauerten.

V gab sich größte Mühe, nie weiter als einige Schritte hinter ihm zu sein, denn auf keinen Fall wollte sie ihn aus den Augen verlieren. Ohne ihn würde sie niemals wieder aus diesem Labyrinth finden.

Abrupt kam er zum Stillstand und V tat Selbiges.

›Was ist los?‹, wollte sie fragen, aber als sie Ejahls ernste Miene sah, blieb sie still.

»Warte kurz«, meinte der Meisterdieb und setzte sich in Bewegung.

V schluckte und sah ihm nach. Er konnte sie doch nicht allein lassen. Hatte sie nicht gerade noch gedacht, dass sie ohne ihn nie wieder den Weg nach draußen finden würde? Und jetzt ging er? Einfach so?

Er blieb glücklicherweise in ihrem Blickfeld und trat nur bis zum Ende der Gasse und spähte um die Ecke und auf die Straße.

Das Geräusch splitternden Glases kam an Vs Ohr. Dann Stimmen, eine wütend, während die anderen lachten.

Ejahl kehrte zurück, seine Miene noch düsterer. »Kannst du klettern?«, fragte er leise, als er wieder bei ihr ankam.

V schüttelte den Kopf. Sie erkannte, in welcher Situation sie sich befanden. Auf dem Weg waren Leute – eine Schlägertruppe, war ihre Vermutung – und Ejahl wollte ihnen ausweichen.

Er brummte etwas Unverständliches und prüfte den Dolch an seinem Gürtel. »Ich bin gleich zurück«, sagte er und griff schon nach einem hervorstehenden Stein in der Häuserwand, um sich an ihm hochzuziehen.

»Wartet!«, rief V und hielt ihn an seinem Umhang fest, ehe er erneut verschwand.

»Shht!«, wies Ejahl sie zurecht und deutete auf das Ende der Straße.

V schluckte. »Ihr ... Ihr wollt sie umbringen?«, flüsterte sie.

»Ich helfe uns.«

»Aber ...« V schloss ihren Mund. Sie hatte stets gewusst, dass Ejahl ein Verbrecher war, doch sie hatte ihn nur als Dieb und nicht auch als Mörder gesehen.

»Warum wir nicht einfach einen anderen Weg nehmen können?«, fragte er und deutete in eine Gasse, die von ihrer abzweigte. »Weil wir dort direkt in die Arme der Raben laufen und sie nicht erfahren sollten, dass ich am Leben und vor allem hier bin.«

Er schüttelte den Kopf. »Und zurückkehren und die Hauptstraße nehmen ... nein, die Menschen hier sind nicht vertraut mit Dunkelelfen und was sie nicht kennen, das töten sie.«

Er sah an der Hauswand hoch. »Und du kannst nicht klettern. Es gibt keinen anderen Weg.« Er wandte sich schon ab und fasste einen hervorstehenden Stein. »Warte hier, ich ...«

»Ich versuche es«, unterbrach V ihn.

Ejahls Augenbrauen hoben sich. Kurz musterte er sie, aber er versuchte nicht, sie umzustimmen, und beschloss nur, später eine Unterhaltung über die dunklen Abgründe der Welt zu führen. Darüber, dass die meisten Fremden ihre eigene Unversehrtheit nicht für sie aufs Spiel setzen würden und Tugend in Zeiten wie diesen fehl am Platz war.

»In Ordnung«, sagte er, »dann komm mit und schau nicht runter.«

Nur wenige Augenblicke später war der Meisterdieb mit einer Leichtigkeit auf das Dach gelangt, während V noch unten stand und seinen Bewegungen gar nicht so schnell mit dem Blick folgen konnte, wie er sie ausgeführt hatte.

Sie holte tief Luft. Obwohl sie noch gar keine Anstrengung hinter sich hatte, standen ihr Schweißperlen auf der Stirn.

Sie schaffte das. Sie. Schaffte. Das.

Ejahl wartete oben und sah an der Wand hinab, aber helfen konnte er ihr nicht. Die Schläger standen nur eine Straße weiter und er wollte sich nicht durch lautes Zurufen verraten.

V griff nach dem hervorstehenden Stein, an den Ejahl während der Unterhaltung schon seine Hand gelegt hatte. Aber wie ging es dann weiter?

Fragend sah sie nach oben. Der Meisterdieb deutete nach rechts von ihr. Eine Mulde im Stein, in die gerade so ihre Fingerspitzen passten.

Was zur Hölle?, dachte sie stumm. Wie sollte sie sich daran hochziehen?

Irgendwie, war die Antwort. Nur ihretwegen hatte Ejahl überhaupt überlegt, die Schläger zu töten. Hätte sie ihn nicht begleitet, wäre er von Anfang an über die Dächer gegangen.

Ein wenig weiter oben ragte ein Stein hervor. Den könnte sie erfassen, wenn sie ihn erreichte.

Sie holte noch einmal tief Luft und stieß sich ab. Fast erwartete sie, dass sie nur in die Leere griff, aber sie traf den Stein. Ihre Finger rutschten ab. Sie nahm die zweite Hand zur Hilfe und hielt sich. Einen ihrer Füße hatte sie in eine Kerbe in der Mauer gestellt, der andere hing in der Luft.

Ihre Oberarme brannten, ihre Handflächen schwitzten.

Sie sah nach oben. Eines von Ejahls Wiesel-Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab, aber sie zwang sich, ihre Gedanken in den Hintergrund zu schieben.

Weitermachen, sie musste weitermachen. Bevor ihre Kräfte nachließen.

Ihre Fingerspitzen fanden eine Kerbe, an der sie sich hochzog. Eine Schweißperle rann ihr an der Schläfe hinab und tropfte von ihrem Kiefer. Der schwere Umhang, den Kematian ihr gegeben hatte, kühlte sie nicht unbedingt ab.

Wenn sie zu schnell wäre, würde sie Fehler machen. Wenn sie zu langsam wäre, würde ihre Kraft nachlassen.

Sie erinnerte sich, zu atmen.

Schritt für Schritt, Stein für Stein. Wenn sie abrutschte, bekam sie rechtzeitig etwas anderes zu fassen. Wenn ihre Füße nicht sofort Sicherheit fanden, hielten ihre Arme sie gerade so lange, bis sie etwas entdeckte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit sah sie Ejahls entgegengestreckte Hand und ergriff sie. Das letzte Ende ließ sie sich von ihm auf das Dach ziehen, nur um dort zusammenzubrechen.

Sie versuchte, unter dem ganzen Schweiß noch ein wenig Viera zu finden. Ihre Muskeln brannten auf eine Art, dass sie vermutete, ihre Armen würden sich gänzlich von ihr verabschieden, wenn sie ihnen nochmal so eine Tortur zumutete.

Ejahl nickte ihr zu und meinte: »Gut gemacht.«

Wärme füllte Vs Brust, aber diese Reaktion auf seine Anerkennung wollte sie ihm nicht zeigen. »Ha«, machte sie.

»Ich meine es wirklich so«, sagte Ejahl.

Aus der Wärme wurde Hitze. Sie hatte nicht erwartet, dass der Meisterdieb sein Lob noch unterstreichen würde.

»Den meisten, die nicht im Klettern geübt sind, fehlt die notwendige Kraft in den Armen, um so lange durchzuhalten, wenn sie nicht die entsprechenden Techniken beherrschen.«

Ihre Wangen erhitzten sich.

»Und selbst Ava hat keine ganze Wand geschafft, als sie angefangen hatte.«

V schlug die Hände vor das Gesicht und hörte nur Ejahls leises Lachen.

Er gab ihr einige Minuten, um wieder zu Atem und zu Kräften zu kommen, ehe er meinte: »Wir müssen weiter.« Er reichte ihr seine Hand und half ihr auf die Füße. Ihre Knie zitterten noch, ihre Arme brannten, aber die Zeit zur Rast war vorüber.

»Wenn du einen Ratschlag möchtest«, sagte Ejahl. »Benutze deine Beine mehr, dann ermüden deine Arme nicht so schnell.«

»Kommt das nicht ein wenig zu spät?« Die Erschöpfung kratzte an Vs Stimme.

Ejahl antwortete nicht und lächelte nur. Dann deutete er ihr an, ihm weiter zu folgen.

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