Ein Pakt mit dem Teufel II
Nur einen Augenblick später standen sie im Freien auf einem Sandpfad, der zu einem weit geöffneten Tor führte. Rost fraß sich durch das Eisen und mehrere der dünnen Verzierungen im Metall waren verbogen oder herausgeschlagen, sodass unkenntlich war, welche Kunstwerke sie einst geformt hatten. In einiger Entfernung ragte das Dach eines Herrenhauses über den überwucherten Garten.
»Faszinierend«, sagte Murasaki und neigte den Kopf. »Was will sie bloß hier?«
»Wo sind wir?«, fragte V.
»Vor dem Anwesen, das einst der Kestrel-Familie gehört hatte.« Er machte eine Handbewegung in Richtung des Tores. »Bevor Tavaren starb und Luana aus Kastolat verwiesen wurde, waren sie Teil einer der einflussreichsten Familien des Nordens.« Sein Blick schweifte von dem Garten zurück zu V. »Lasst mich Euch noch ein Stückchen begleiten. Ich war schon lange nicht mehr hier.«
Sie warf ihm zwar einen skeptischen Blick zu, aber abhalten konnte sie ihn ohnehin nicht. Von daher zuckte sie nur beiläufig mit den Schultern und ging voran.
Links und rechts des Weges sprossen hüfthohe Gräser und Diesteln, die V überragten. Die Hecken, die schon lange nicht mehr zurückgeschnitten worden waren, streckten ihre Arme nach allem in ihrer Nähe aus und umschlangen ein zartes Bäumchen.
Das Rasseln der Ketten verriet, dass Murasaki ihr folgte. Er ließ eine Hand in seinem Ärmel verschwinden und zog einen Fächer hervor. Über dunkles Holz war schwarzer Stoff gespannt, auf dem winzige helle Punkte erglühten. Silberne Schmetterlinge, die in den finsteren Nachthimmel flogen.
Er machte eine ausschweifende Geste und goldene Funken stoben um ihn herum. Der Garten änderte sich. Das Gras und die Hecken waren nun zurückgeschnitten, einzelne Blumen, die von der Kälte Kastolats nicht zugrunde gerichtet wurden, sprossen am Wegesrand.
Ein schwarzer Schatten huschte in ihrem Augenwinkel entlang und sie wirbelte herum, nur um im nächsten Moment stockstarr auf das Bild zu sehen, das sich ihr bot.
Ein Wolf hatte einen jungen Mann zu Boden geworfen und leckte ihm quer über das Gesicht. Neben ihm stand ein weißhaariger Elf und wich langsam vor den beiden zurück. Zwar war er jünger, zwar trug seine Haut keine Narben und seine Augen strahlten, aber nichtsdestoweniger erkannte V, wer vor ihr stand: der Dunkle König.
»Dasan«, sagte nun der Mann auf dem Boden. »Hey, Junge, lass mich los.« Er lachte und befreite sich, ehe er sich mit einem »Wah« über das Gesicht wischte und sich die dunklen Haare von der Stirn strich. Das Lächeln ließ er weiterhin nicht fallen, und Grübchen formten sich in seinen Wangen.
»Junge«, tadelte er den Wolf halbernst. »Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du mich nicht so begrüßen sollst?« Der edle Stoff seiner Kleidung – wenn nun auch von Staubflecken übersäht – zeigte seine adelige Abstammung.
»Sie werden so schnell erwachsen«, sagte Murasaki neben ihr, sein Gesicht halb hinter dem Fächer verborgen. »Oder sterben.«
»Was meint Ihr?«, fragte V. Diese ganze Situation kam ihr surreal vor. Die Szene spielte sich vor ihren Augen ab, als würde sie mitten in ihr stehen, aber keiner der beiden schien sie zu bemerken.
Der Erzähler deutete auf den Adeligen. »Das ist Tavaren. Wurde euch nie erzählt, welch ein Verhältnis die beiden zueinander hatten?«
»Sie ...« V brach ab und musterte den jungen Mann genauer. Tavaren Kestrel. Sie hatte nur Geschichten von ihm gehört, aber nicht geglaubt, ihn jemals mit eigenen Augen zu sehen. »Sie waren Freunde«, brachte sie ihren Satz zu Ende.
Murasaki schnaubte belustigt. »Was auch immer Ihr Euch einreden müsst, damit Ihr nachts schlafen könnt.«
Er ging weiter und der Wolf, Tavaren und auch Lloyd zerstoben in goldenen Funken.
»Die Vergangenheit«, sagte er. »Oder das, was von ihr übrig geblieben ist. Nicht mehr als ein Schatten, der irgendwann in Vergessenheit geraten wird.«
V holte zu ihm auf. »Wenn Tavaren und Lloyd ...« Der Name rollte immer noch nur schwer von ihrer Zunge. »Wenn sie keine Freunde waren, was waren sie dann?«
Murasaki hob nur die Schultern. »Wer weiß das schon?«
»Ihr«, sagte V und ihr Blick verfinsterte sich.
Der Erzähler betrachtete sie für einen Moment, dann richteten sich seine goldenen Augen auf das Herrenhaus in der Ferne. »Ich erzählte es Euch bereits. Er ging ein und aus, als gehöre er zur Familie.«
Goldene Funken erhoben sich vor ihnen und formten zwei Gestalten. Eine davon eine junge Version des dunklen Königs – unverkennbar durch sein weißes Haar. In seinen Armen trug er einen Stapel Bücher und mit einem Lächeln auf den Lippen blickte er auf die junge Frau neben sich. In ihrem schwarzen Haar steckten, kunstvoll hineingeflochten, blaue Blüten.
»Luana?«, fragte V an den Erzähler gewandt. Dieser nickte und deutete auf die Szene.
»Ihr hättet mir nicht helfen müssen«, meinte die junge Frau mit einem entschuldigenden Lächeln.
»Ich war ohnehin auf dem Weg«, sagte Lloyd. »Euer Bruder erwartet mich.« Seine Stimme klang nicht so rau, wie V sie kannte, und stattdessen warm. Ein angenehmer Schauer floss an Vs Rücken hinab, aber sie schüttelte ihn ab.
Murasaki gluckste leise. »Ihr braucht Euch nicht zu schämen«, sagte er. »Als er noch frei von Kriegs Umarmung war, hatte er diese Wirkung auf viele Leute. Jeder verfällt irgendwann dem Hochmut ... oder will in der ersten Reihe sitzen, wenn der Frieden stirbt. Seht Euch nur einmal Luana an.« Auf seine Handbewegung hin fror das Bild ein.
V runzelte die Stirn und ging um beide Gestalten herum, um in Luanas Gesicht zu sehen. Lebensecht wirkte sie und trotzdem wie eine Puppe, die sich auf des Erzählers Geheiß bewegte. Ein Strahlen lag in ihren blauen Augen und leichte Röte auf ihren Wangen. Ihr Blick war auf den Elfen gerichtet, schien in ihm versinken zu wollen.
»Sie interessierte sich für die Kultur der Elfen und verbrachte daher viel Zeit mit Lloyd. Stets sah sie ihn so an, aber er hatte nur Augen für jemand anderen«, kommentierte Murasaki. »Um Luana zu schützen, tauchte sie kaum in der Überlieferung von Lloyds Leben auf. Sie wurde aus Kastolat vertrieben, weil sie Tavarens Schwester war. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, hätte man von ihrer Freundschaft zu dem Dunklen König erfahren.«
Vs Blick schweifte zu Lloyd. Ihr Herzschlag setzte kurz aus, ehe es in ihrer Brust trommelte. Ein Versprechen lag in seinen grauen Augen, ihr höchstes Glück zu geben. Eine Schulter zu sein, wenn die Tränen nicht versiegten, und eine warme Umarmung in kalter Winternacht.
In ihren Fingerspitzen kribbelte es leicht, als sie seine Wangenknochen und seine Lippen betrachtete. Er strahlte eine Schönheit aus, die sie noch nie in einem Menschen gesehen hatte und die auch nur selten bei den Elfen existierte. Anmut lag in jedem seiner Gesichtszüge, nur überlagert von der Arroganz.
Vs Herz hüpfte in ihrer Brust. Ihr Blick war in seinen Augen gefangen, obwohl er ihn nicht einmal erwiderte.
Murasakis Lachen holte sie in die Gegenwart zurück. »Meine Liebe, er hat Eure Familie ausgelöscht. Ihr solltet ihn nicht auf diese Art ansehen.«
V riss sich von Lloyd los und widerstand dem Drang, erneut in seine Augen zu blicken.
Auf eine Handbewegung hin verschwanden beide Gestalten. »Wie ich sagte: Er hatte diese Wirkung auf viele Leute, also schämt Euch nicht.«
Sie schüttelte die letzten Reste des seltsamen Gefühls von sich. »Auch auf Euch?« Sie sagte es eher als bissige Bemerkung und erwartete keine Antwort.
Murasaki lachte. »Nein.«
»Aber nun ist er bei Euch?«
»Ich verlor mich nie in seinen Augen, wie es die meisten taten, und mich überkam nie der Drang, mein kaltes Herz vor seine Füße zu legen, nur um einen Hauch seiner Gunst zu erhaschen. Es gab andere Gründe, weshalb mein Weg stets den seinen kreuzte.«
»Welche Gründe?«, hakte V nach.
Er beäugte sie kurz. »Nichts, das für Eure Ohren bestimmt ist.«
Sie verzog das Gesicht, beschwerte sich aber nicht zu laut. An diesem Tag hatte sie schon mehr über den Erzähler und den König erfahren, als sie sich je erträumt hatte.
»Das Ende der Welt«, sagte Murasaki. Ehe V nachfragen konnte, schwebten goldene Funken durch die Luft und formten sich zu einer Gestalt.
Diesmal war Lloyd allein und ein ernster Ausdruck lag in seinen Augen. Blutig rot zeichnete sich eine Kerbe in seinem Ohr ab und ein Schnitt zog sich quer über seine Wange.
»Kurz nachdem er aus dem großen Wald verbannt wurde«, sagte Murasaki, »kehrte er in den Norden zurück, aber er blieb nicht lang.«
Das Bild löste sich auf und ein neues trat an seine Stelle. Lloyd entfernte sich vom Herrenhaus. Finstere Entschlossenheit lag in seiner Miene, aber gleichzeitig der Hauch von Zweifel, der mit jedem Schritt deutlicher hervorkam.
Seinen Rücken hatte er zu Tavaren gewandt, der an der Tür stand. Er sah dem Elfen nach, doch konnte nichts anderes tun, als sich letztlich abzuwenden und zurück in das Innere zu treten.
»Er wollte bleiben«, sagte Murasaki, »aber alles zwang ihn, zu gehen.« Ein leises Seufzen schwebte von seinen Lippen. »Es vergingen Jahre, ehe sie sich wiedertrafen.«
Das nächste Mal, als sich die Funken teilten und wieder neu zusammenfügten, trat Lloyd auf seinen Gehstock gestützt den Weg entlang, seine Augen weiß von der Blindheit. In den vorherigen Bildern hatte V noch einen Hauch von Farbe in seiner Erscheinung gesehen, aber nun hing er zwischen einem geisterhaften Weiß und dem Schwarz der Schatten, die sich durch seine Haut fraßen.
»An diesem Tag erfuhr er, dass Tavaren sich mit Leandras, dem Elfenkönig und Lloyds Vater, zusammengeschlossen hatte, um eine ungeklärte Bedrohung im Süden zu bekämpfen. Eine Bedrohung, die sich als niemand anderes als er selbst herausstellte. Er wollte Tavaren alles gestehen, um aufzuhalten, was unausweichlich war, doch die Angst lähmte seine Zunge und er schulterte nur weitere Bürden, als er den Norden wieder verließ.«
Murasaki machte eine Handbewegung und Lloyds Abbild zerstob, als ein Friese hindurchschritt. Im Sattel saß Tavaren, eine Hand hielt die Zügel, die andere stützte sich auf seinem Oberschenkel ab. In den dunklen Augen lag Sorge und sein Kiefer mahlte, aber er sprach nichts und ließ V nicht an seinen Gedanken teilhaben.
»Nur einen Tag, nachdem Lloyd ihn ein weiteres Mal verließ, brach er in den Süden auf und kehrte nie lebendig zurück.« Murasaki schloss den Fächer, den er sogleich in seinem Ärmel verschwinden ließ, und der Zauber löste sich auf.
Die Gräser und Hecken wucherten wieder hoch, das Herrenhaus erstreckte sich halb zerfallen vor ihnen. Einst war es von Säulen umrandet, aber diese lagen nun zerborsten. Efeu rankte sich über die gesamte Fassade und das Fensterglas war zersplittert.
»Nun heißt es, Abschied nehmen, meine Liebe«, sagte Murasaki. »Wir werden uns sehr bald schon wiedersehen.«
»Wartet!«, hielt V ihn auf. »Weshalb habt Ihr mir all das gezeigt? Und was war das für Magie? War das wirklich die Vergangenheit?«
Murasakis Mundwinkel hoben sich, aber es war kein freundliches Lächeln. »Ihr stellt viele Fragen.« Er trat einen Schritt auf sie zu und sie bezwang den Drang, zurückzuweichen. Seine Hand hob sich und er tippte mit dem Zeigefinger auf Vs Stirn. »Was sollte ich anderes von einem Wesen wie Euch erwarten? Ich kann Euch alles zeigen, aber Ihr werdet nie erkennen.«
Er ließ seine Hand sinken und trat zurück. »Doch nun genug davon.« Er deutete ein Winken an. »Ich werde gerufen.«
Mit diesen Worten verschwand er, nur ein leises Rasseln hallte noch nach, und V stand allein vor dem Herrenhaus. Erst als das Echo der Ketten verklang, löste sie sich aus der Starre und schüttelte das Unwohlsein ab, das der Erzähler in ihr hervorrief.
Für den Moment wollte sie sich keine Gedanken mehr um ihn machen. Er hatte sie hierher gebracht, weil Jeanne sich hier befand ... hatte er zumindest gesagt.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top