Diebe und Mörder II
V ging nicht auf direktem Wege zurück in die Zuflucht und spazierte stattdessen mit Dasan am Waldrand entlang. Die Vögel wachten nach und nach auf und zwitscherten in den Baumkronen. Der frische Tau glitzerte im Licht der aufgehenden Sonne und silberner Nebel stieg über den Wiesen auf. Die Luft war noch kühl und roch nach Regen.
Hier und da schnüffelte Dasan am Boden oder reckte seine Nase in die Höhe. Mal verschwand er im Unterholz und immer wenn V gerade in Panik verfallen wollte und glaubte, ihn verloren zu haben, tauchte er wieder auf dem Weg auf.
V selbst genoss die Ruhe, die das Leben in diesem Teil des Landes mit sich brachte. Die nächstgrößere Stadt war Drakah und eine Tagesreise entfernt. Reisende verliefen sich nur selten hierher. Alles in allem: Ein kleines gemütliches Fleckchen Erde.
Dasan blieb stehen, hob den Kopf und streckte die Schnauze in den Wind. Ein unbekannter, doch zugleich seltsam vertrauter Geruch.
V schenkte der Geste zunächst kaum Aufmerksamkeit. Sie schlenderte an ihm vorbei und drehte sich erst um, als er sich weiterhin nicht rührte. »Kommst du?«
Er warf ihr einen Blick zu. Dann wandte er sich ab und sprang ins Unterholz.
»Dasan?«, rief sie, aber er tauchte nicht nochmal auf. »DASAN!« Sie rannte zu der Stelle, an der sie ihn zuletzt gesehen hatte. Nur sein grau-braunes Fell blitzte zwischen den Bäumen und Büschen auf, dann war er verschwunden.
»Mist«, fluchte sie in sich hinein. Dem Wolf würde zwar nichts geschehen, aber sie konnte ihn nicht schon wieder verloren haben. Wenn sie ohne ihn in die Zuflucht zurückkehrte, dann würde Sal ihr doch niemals mehr Dasan anvertrauen.
Sie hechtete los. Mitten in das Dickicht und dem Wolf hinterher.
Je weiter sie rannte, desto dichter wurde der Wald. Sie duckte sich unter tiefhängenden Ästen hindurch, wich einer Grube aus. Zweige griffen nach ihrer Kleidung, aber sie hielt nicht an.
Ihr Fuß verfing sich in einer Ranke. Sie strauchelte und fing sich an einem Baum ab.
»Verdammt.« Sie befreite sich, wollte schon wieder losrennen und stockte. Ein Brennen zog sich über ihre Wange – ein Schnitt von Zweigen, denen sie nicht rechtzeitig ausgewichen war. Ihr Blut pulsierte in ihren Ohren.
Diesen Teil des Waldes kannte sie nicht. Die Baumkrone hielt die Sonnenstrahlen ab, Laub bedeckte den Boden. Der Gesang der Vögel war verstummt, der Wind spielte eine trübe Melodie.
Es war fast, als würde der Wald in Trauer ertrinken.
Vs Herzschlag beschleunigte sich. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, strich einen Zweig aus dem Weg. Umzukehren war keine Möglichkeit. So sehr auch alles in ihr schrie, dass sie ungeladen und unerwünscht war, ihr Weg führte sie tiefer in das Unterholz.
Jede Wärme wich Kälte, jedes Licht der Finsternis. Düster ragten die Bäume über sie, die Äste zu einem Netz verflochten, das sie gefangen hielt.
Ihr Atem ließ weiße Wolken in der Luft entstehen. Eine dünne Eisschicht lag über der Welt. Frost, der Kristalle auf Blättern und Gräsern hinterließ.
Aber ... irgendetwas war falsch. Die Welt um sie herum war falsch. Eine Illusion. Dort befand sich weder Eis noch Kälte, doch jemand oder etwas wollte sie davon abhalten, weiterzugehen.
Ein Jaulen durchdrang den Wald. Hoch, schrill, schmerzerfüllt.
Dasan.
Sie rannte los, beachtete nicht länger die Kälte oder die Äste, die sich an sie klammerten. Der Stoff an ihren Schultern riss, Blut quoll aus kleinen Kratzern.
Was, wenn dem Wolf etwas zugestoßen war? Wenn Jäger ihn gefunden hatten? Auch wenn sie selbst nicht mit ihm mithalten konnte, andere könnten es vielleicht. Andere könnten ihm Fallen stellen. Andere würden sich nicht sträuben, ihn zu töten.
Sie durchbrach das Unterholz und landete auf einem schmalen Sandweg. Alle Farben hatten sich von der Welt losgesagt. Kein saftiges Grün in den Blättern, verdorrt waren die Gräser. Selbst der Himmel, der sich über ihr erstreckte, strahlte nicht in hellem Blau und trug stattdessen ein schweres Grau.
Sie ging einige Schritte, ehe sie wieder los hastete. In der Ferne erahnte sie eine Lichtung und auf dieser Lichtung ... Sie kniff die Augen zusammen, um es besser erkennen zu können.
Ein Gebäude. Zwei Stockwerke hoch und von Steinsäulen umgeben, die das Dach hielten. Die Natur hatte sich die Stelle teilweise schon zurückerobert. Efeu umrankte die Außenwände und eine Eiche schloss eine Ecke des Herrenhauses in ihre starken Arme.
So schnell V auch lief, sie kam kaum näher. Etwas hielt sie ab. Verborgen, doch nicht böswillig, obwohl es sich gegen sie stellte. Es wollte sie nur schützen, nicht aber verletzen oder gar töten.
V riss an den unsichtbaren Ketten, die ihre Handgelenke und Knöchel ergriffen. Die Fesseln barsten und sie flog vornüber in den Sand, da der Widerstand von einem Augenblick auf den nächsten gewichen war.
Sie rappelte sich auf. Das Gezwitscher der Vögel setzte wieder ein. Das Eis verschwand und die Farben kehrten zurück.
Was war das gewesen?
Ihr blieb keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Erstmal zählte es, Dasan zu finden.
Erst ging sie langsam, dann rannte sie wieder los. Das Herrenhaus kam näher. Die Sonne spiegelte sich in den hohen Fenstern und blendete sie. Eine Veranda erstreckte sich an der Vorderseite des Hauses.
Vs Kragen schnitt ihr in die Kehle und ihr entkam ein erstickender Laut. Mit einem Ruck verlor sie kurz den Boden unter den Füßen und wurde zurückgeschleudert.
»Falscher Ort für einen Spaziergang, Mädchen.«
Ein hochgewachsener Mann von vielleicht dreißig Jahren tauchte in ihrem Blickfeld auf. Er hielt ihren Kragen fest und hinderte sie am Weitergehen. Seine dunklen Haare trug er in einem Zopf, aber an den Seiten waren sie kurz rasiert. Im Licht der Sonne schimmerten sie wie das Gefieder eines Raben, den grauen Augen hingegen fehlte dieser Glanz. Kühl blickten sie auf V hinab.
»Eine Dunkelelfin. Ich dachte, sie wären alle ausgelöscht.« Seine Stimme löste gemischte Gefühle in V aus. Einerseits war sie tief und auf eine seltsame Art wohlklingend, andererseits richteten sich bei dem Klang ihre Nackenhaare auf und sie erschauerte.
Vs Zunge schien gelähmt, aber sie öffnete trotzdem den Mund und flüsterte: »Lasst mich bitte gehen.«
Alles in ihr schrie, dass sie niemals hätte hierher kommen dürfen, dass dieser Fremde nichts als Gefahr bedeutete, dass er sie töten wollte.
Warum? Sie kannte ihn doch gar nicht und war gerade zum ersten Mal hier.
Und noch viel wichtiger: Wie gelang es ihr, zu entkommen?
Sie konnte nicht kämpfen. So sehr sie auch trainierte, jedes Mal ging ihr Gegner als Sieger aus den Übungskämpfen hervor. Und selbst wenn sie kämpfen könnte ... Könnte sie gegen jemanden wie ihn bestehen?
Ihre einzige Fähigkeit war es, zu rennen. Doch wie, wenn sie eisern festgehalten wurde?
Der Fremde nahm einen tiefen Atemzug und V rann es kalt den Rücken hinab.
»Dein Geruch ist vertraut«, sagte er. Eine Furche bildete sich zwischen seinen Augenbrauen. Die einzige Regung in dem sonst unbewegten Gesicht.
Seine Hand zuckte zurück, als hätte er sich an ihr verbrannt.
Sie war frei. Sie hinterfragte es nicht, kehrte um und rannte. Der Fremde sollte nicht die Chance haben, es sich anders zu überlegen und sie doch umzubringen.
Irgendwann – sie wusste nicht einmal, wie es ihr gelungen war – hatte sie den Weg aus dem Wald gefunden und stand vor dem Eingang der Zuflucht.
Sie stürzte in die Ruine, fegte den Vorhang beiseite, hastete die Treppen hinunter. Den Flur ließ sie schnell hinter sich und stob in den Gemeinschaftsraum.
Sie war lange unterwegs gewesen, länger, als sie realisiert hatte, und nun war es schon fast Mittag. Der Raum war gefüllt mit Menschen und Vs aufgelöste Gestalt erntete einige Blicke und Aufmerksamkeit.
Als Erste eilte Luana zu ihr, die Frau, die dieses ganze Unterfangen leitete. Bei jedem ihrer Schritte klapperten die Rüstungsteile, die sie trug, aufeinander und von Sal hatte V sich sagen lassen, dass sie stets ein Messer unter dem Kopfkissen aufbewahrte.
Sie legte eine Hand auf Vs Schulter. »Was ist geschehen?« Der Blick aus ihren blauen Augen sorgenvoll.
»Im Wald ...«, brachte V hervor. Wie sollte sie es nur erklären? Wie sollte sie erklären, dass sie nahezu unbegründet panische Angst vor einem Fremden empfunden hatte. Ihre Stimme zitterte seltsam und ihre Gedanken drehten sich in ihrem Kopf. »Da ... da war jemand. Und Dasan ...«
Luana nickte knapp und schob sie aus dem Gemeinschaftsraum, weg von den fragenden Blicken.
»Komm erstmal zu Atem«, sagte sie. »Wir werden den Wald absuchen und wenn derjenige, den du dort gesehen hast, noch da ist, dann werden wir ihn finden. Und mach dir um Dasan keine Sorgen. Er hat schon so manches durchgestanden und ein einfacher Mann wird ihm nichts anhaben können.«
V nickte nur stumm. Der Fremde hatte nicht wie ein einfacher Mann gewirkt. Irgendetwas an ihm kam ihr nicht menschlich vor. Irgendetwas sagte ihr, dass er gefährlicher war als jeder Mensch, dem sie bisher begegnet war.
Doch es war nur ein Gefühl, nur eine blasse Ahnung ohne Beweise.
»Seid vorsichtig dabei«, flüsterte V. Zu mehr war ihre Stimme nicht in der Lage.
»Natürlich«, sagte Luana. »Mach dir keine Sorgen.«
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