Des Engels gebrochene Flügel
Es waren Wochen vergangen, seit V in die Zuflucht zurückgekehrt war. Langsam waren die Tränen versiegt und wie stets, wenn sie zu lang unter der Erde war, schien sich das Gemäuer auf sie hinabzusenken. Da hörte sie Murasakis Stimme in ihrem Ohr und wusste, dass er der Meinung war, sie hatte genug getrauert und es war Zeit, seinen Auftrag zu erfüllen. Sie musste das Grab eines Toten plündern. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?
Sie schlug den Weg in den Wald ein und Dasan trabte entspannt an ihrer Seite. Sie hatte den Wolf nicht abbringen können, sie zu begleiten, und wenn sie ehrlich war, hatte sie es auch nur halbherzig versucht. Ein wenig Gesellschaft würde sie nicht ablehnen.
Bald fand sie sich auf dem Pfad zu dem Herrenhaus wieder. In der Ferne sah sie bereits die hohen Mauern und die Eiche, die eine der Ecken in fester Umklammerung hielt.
Als sie näherkam, lief Dasan an ihr vorbei und legte sich zwischen die Wurzeln des Baumes. V schluckte schwer. Vielleicht hätte sie ihn doch nicht mitnehmen sollen. Sie würde sein Herz nur zum zweiten Male brechen.
Sie trat an die Eiche heran und sank neben dem Wolf auf die Knie. Er fiepste leise auf. Sein Blick schweifte zu den Wurzeln, dann zurück zu ihr.
»Du weißt, was ich tun muss«, flüsterte sie. Dasan war zwar nur ein Tier, aber V hatte stets das Gefühl, dass er fast so viel verstand wie ein Mensch.
Er hievte sich auf die Füße und schleppte sich einige Schritte zur Seite, um sich dort wieder niederzulegen.
»Danke«, sagte V und wandte sich ihrer bevorstehenden Aufgabe zu. Sie hatte eine Schaufel mit sich genommen und tat den ersten Stich.
Die Sonne stand hoch am Himmel, als sie noch nicht einmal die Hälfte geschafft hatte. Leichen lagen tief begraben und die Wurzeln erschwerten ihr die Aufgabe nur. Bald glänzte ihre Stirn vor Schweiß, bald klebte Erde an ihren Wangen und ihre Muskeln protestieren bei jeder Bewegung. Aber sie musste weitermachen.
Erst als die Sonne sich schon gen Westen neigte und ihre Strahlen die Wipfel der Bäume mit orange-rotem Licht umsäumten, stieß ihre Schaufel gegen etwas Hartes. Für einen Moment glaubte sie, es wäre wie die vielen Male zuvor nur eine Wurzel, doch das Geräusch war ein anderes.
Sie steckte den Spaten in die Erde und grub mit den Händen weiter. Zum Vorschein kamen knöcherne Finger, verschlungen von den Wurzeln, die den Gebeinen dahinter Sicherheit bieten wollten.
Ein Kloß formte sich in Vs Hals. Während sie noch gegraben hatte, hatte sie ignorieren können, was sie gerade tat, doch nun wurde sie sich nur umso bewusster: Sie grub die Leiche des Herzogs von Kastolat aus.
Nicht darüber nachdenken, sagte sie sich. Bloß nicht darüber nachdenken. Tavaren war seit zehn Jahren tot und er würde nicht als rachsüchtiger Geist zurückkehren, nur weil sie sein Grab geöffnet hatte. Lange bevor sie es getan hatte, hatte der Dunkle König bereits seine Ruhe gestört. Wenn er also jemandem zürnen sollte, dann ihm und nicht ihr.
Sie grub weiter, steckte ihre Hände zwischen die Wurzeln und zog diese auf.
Es zeigten sich die Knochen des Armes, dann der Schulter, die Rippenbogen und letztlich der weiße Schädel. Die dunklen Höhlen, wo einst die Augen gesessen hatten, durchbohrten sie und ein Schauer durchfuhr ihren Körper. Diesen Menschen hatte sie sogar lebensecht vor sich gesehen und umso schwerer war es für sie, wahrzuhaben, dass er gestorben war.
Ein Rätsel, dass sie nie lösen konnte: Weshalb hatte der Dunkle König ihn umgebracht? Sie hatten einander nahegestanden und selbst, als die Schatten den König schon zerfressen hatten, war dieser, ohne gewalttätige Intentionen, zu ihm zurückgekehrt.
Vielleicht war er eine Waffe, unfähig, sich zu kontrollieren, wenn er im Angesicht des Tötens stand.
Feuchte Erde klebte an den Knochen und neben ihnen glitzerte etwas, als das letzte Sonnenlicht ihr über die Schulter sah und bei der Suche half. Ein silbernes Amulett.
›Rose aus Eis‹, hatte der Erzähler es genannt. V nahm es vorsichtig in die Hand und kletterte mithilfe der Wurzeln aus dem Loch.
Dasan hob den Kopf von seinen Pfoten, als V wieder auftauchte. Ein Ausdruck hatte sich in die bernsteinfarbenen Augen gemischt. Entschlossenheit, wo zuvor nur Trauer um seinen Herrn regiert hatte. Das letzte Mal hatte er sich dorthin begeben, um zu sterben, doch diesmal würde er es dem Tod nicht so einfach machen.
Im Licht der untergehenden Sonne betrachtete V das Amulett. Von außen wirkte es fast unscheinbar, denn Schmutz überzog das Silber und ließ sich nicht einmal entfernen, als sie mit den Fingern darüber rieb.
Bedacht öffnete sie es, in den Scharnieren knirschte der Sand. Das Innere war vor der Witterung und der Erde geschützter gewesen und zeigte eine silberne Rose, eingraviert auf silbernem Grund.
Sie klappte das Amulett zu. Ihren Teil der Abmachung hatte sie erfüllt und nun musste nur noch der Erzähler Selbiges tun.
Die Sonne verschwand hinter den Bäumen, aber V machte sich trotzdem noch daran, die Erde wieder in das Grab zu schütten, und wandte sich erst dann ab. Der Wolf hievte sich auf die Pfoten und trabte an ihrer Seite zurück in die Zuflucht.
†
V hatte noch nicht einmal gänzlich die Tür hinter sich zugezogen, da hörte sie schon das Rasseln der Ketten und die Stimme mit höhnischem Unterton: »Sehr erfreulich, dass Ihr unsere kleine Abmachung nicht vergessen habt.«
Sie drehte sich langsam um.
Der Erzähler saß seelenruhig auf einem Stuhl, die Beine überschlagen, und wippte mit den Füßen, sodass das Klirren der Ketten den ganzen Raum erfüllte. In der Hand hielt er eine Tasse, die er leicht hin und her schwenkte.
V brummte leise. Sie kramte das Amulett hervor und zeigte es ihm, trat aber keinen Schritt auf ihn zu. Er sollte es nicht in die Finger bekommen, bevor er seinen Teil der Abmachung erfüllt hatte.
»Keine Sorge, meine Liebe«, sagte Murasaki. »Man mag mich einen Lügner nennen, doch ich halte mein Wort.« Er stellte die Tasse auf dem Tisch ab und trat an sie heran. »Ihr wollt wissen, wie sich Lloyd töten lässt, also lauscht mir. Es gibt nur einen Weg – zumindest nur einen, den ich kenne. Ihr braucht eine spezielle Art von Waffe, und meine Wenigkeit besitzt das Wissen, worum es sich dabei handelt.«
»Und?«, hakte V nach.
»Ihr könnt Euch keinen Augenblick gedulden?«
»Nein.«
Murasaki legte sich eine Hand an die Brust. »Aber wer wäre ich, sofort deutlich zu sprechen, ohne Euch die Möglichkeit zu geben, selbst ein wenig nachzudenken?«
»Ein halbwegs angenehmer Zeitgenosse?«, schlug sie vor.
Er lachte leise. »Ich denke, dazu bedarf es noch weit mehr. Aber nun bin ich nicht länger derjenige, der vom eigentlichen Thema ablenkt. Ihr seid es.«
V verzog das Gesicht. »Dann sprecht.«
Er stieß einen Seufzer aus. »Um Lloyd zu töten, braucht Ihr puren Schatten – ähnlich dem, der durch seine Adern fließt, doch an diesen werdet Ihr nicht kommen. Wie es der Zufall will, kenne ich aber einen Gegenstand aus Dunkelheit, der sich manchmal von Sterblichen anfassen lässt: die Sense des Todes.«
»Ah.« V hatte schon geahnt, dass es nicht leicht werden würde, aber das schien ihr zu weit hergeholt.
»Ihr erinnert Euch doch noch an Laurent?«, fragte Murasaki.
Sie nickte nur, hatte aber kaum glauben können, dass es sich bei ihm um den leibhaftigen Tod gehandelt hatte. Er hatte sich so wenig todeshaft verhalten. »Ich muss ihn also fragen, ob ich seine Sense borgen darf?«
»Nicht direkt.« Murasaki trat einen weiteren Schritt auf sie zu, die Ketten an seinen Stiefeln rasselten. »Aber unsere Abmachung betraf nur, dass ich Euch den Weg nenne, nicht, dass ich Euch auch auf diesen führe. Und nun ist es an der Zeit, dass Ihr Euren Teil unseres Paktes erfüllt.« Er streckte seine Hand aus.
V blickte auf das Amulett, das sie hielt. Der Erzähler hatte ihr erschreckend wenig gesagt. Sie hatte nicht viel erwartet, aber das war noch weniger, als sie erhofft hatte. Doch er hatte sein Wort gehalten. Auf eine unfassbar unbefriedigende Art.
»Und wenn Ihr einen Rat möchtet, meine Liebe«, sagte Murasaki. »Ich kann verstehen, dass Ihr Lloyd die Geschehnisse von damals nicht verzeihen könnt, aber was Ihr möchtet, ist keine Gerechtigkeit, keine tugendhafte Tat. Es ist Rache. Und Rache zerfrisst schuldlose Herzen, bis in ihnen nur noch Finsternis herrscht.«
»Aber –«
Er hob eine Hand und unterbrach sie damit. »Die Vergangenheit wird sich nicht wiederholen – dafür werde ich persönlich sorgen – und Ihr solltet nach vorn blicken. Was geschehen ist, ist unveränderlich, aber die Zukunft ist noch nicht in Stein gemeißelt. Wollt Ihr wirklich den Geistern der Vergangenheit nachjagen, nur damit sie in Rauch zerstieben, wenn Ihr bei ihnen ankommt? Falls Ihr überhaupt bei ihnen ankommt?«
V presste die Lippen zusammen. Sie wollte nicht, dass seine Worte einen Einfluss auf sie hatten.
»Und wenn Ihr eine Idee für Eure Zukunft braucht: Jeanne befindet sich nur einige Tagesreisen von hier entfernt, nahe Terbet. Ejahl hat sie nicht getötet.«
Ihre Augen weiteten sich. Für einen Moment war der Blick des Erzählers nicht länger höhnisch, sondern gar warm. Das flüssige Gold in seiner Iris zog sanfte Kreise.
»Er hat ein besseres Herz, als er sich selbst eingesteht«, sagte Murasaki, ehe sein Blick wieder zu dem Hohn zurückkehrte. Er wackelte mit den Fingern, um Vs Aufmerksamkeit auf das Eigentliche zurückzubringen.
Der Erzähler hatte seinen Teil der Abmachung erfüllt und sie wollte auf keinen Fall schlechter als er sein. Sie legte das Amulett in seine ausgestreckte Hand. Sofort schloss er es in seine Finger und verstaute es in seinem Ärmel.
»Es war mir eine Freude, meine Liebe«, sagte er und wandte sich zum Gehen. Er legte eine Hand an den Türknauf, hielt aber inne. »Ich muss gestehen, Ihr seid mir ein wenig ans Herz gewachsen und deshalb gebe ich Euch noch einen Hinweis. Wenn Euch meine Worte nicht überzeugt haben, wenn Ihr doch nach Rache giert, dann ...«
Ein kalter Windzug ging durch den Raum, brachte den Stoff von Murasakis Robe zum Flattern und die Ketten an seinen Stiefeln zum Klirren. Das Geräusch bohrte sich hoch und schrill in Vs Verstand.
»Findet mich.«
Ein Blitz zog durch die Nacht und erhellte für einen Augenblick ein Bild. Sturm zerrte an violettem Haar, an violettem Gewand.
Schwarze Flügel breiteten sich aus und hüllten die Gestalt ein. Einzelne Federn rissen sich aus den Schwingen und flogen der finsteren Nacht entgegen.
Aus der bleichen, knöchernen Hand bluteten Schatten und verhärteten sich zu festem Stahl. Eine scharfe Schneide umrahmte den Engel.
Die Sense des Todes.
So schnell wie das Bild gekommen war, so schnell verschwand es erneut. V blinzelte einige Male, doch fand nicht heraus, was sich vor ihren Augen befunden hatte.
Der Erzähler war fort und an seiner Stelle schwebte nur eine schwarze Feder gen Boden. Das Klirren der Ketten und seine Worte hallten noch nach.
»Findet mich.«
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